1. Dezember 2000 Joachim Bischoff / Richard Detje

2001 - Aussichten für die Berliner Republik

Die rot-grüne Regierungskoalition ist sich sicher, die Blockaden für eine umfassende Modernisierung der Republik aufgelöst zu haben. Die Konjunktur läuft, vom Arbeitsmarkt kommen Entlastungssignale. Die Berliner Republik gewinnt nicht nur Weltmarktanteile zurück, in allen Teilen der Welt werden Einfluss und Rat der Bundesdeutschen geschätzt. Stolz verkünden Schröder und Müntefering: Wir haben den »Ruck in Deutschland« geschafft.

Bis zum Ende der Legislaturperiode will Schröder sein Kabinett nun nicht mehr umbauen und Arbeitsminister Riester denkt öffentlich über eine zweite Amtsperiode nach. Die Koalitionäre sind sich über die Rest-Tagesordnung einig. Vor allem drei Probleme müssten noch bewegt werden und die Wiederwahl der Regierungskoalition sei gesichert:

  Über die »Jahrhundertreform der Rentenversicherung« sei lange genug diskutiert worden; Ende Januar soll sie vom Bundestag verabschiedet werden. Gegen den Systemumbau der Alterssicherung, verbunden mit einer deutlichen Absenkung des Rentenniveaus hält sich bis zur zweiten Lesung in den Regierungsfraktionen ein wackeres Oppositionsgrüppchen. Aber mit einer knappen Mehrheit denkt man das Thema aus den Schlagzeilen zu bekommen.

  Die Regulierung der industriellen Beziehungen entspricht schon lange nicht mehr der kapitalistischen Realität. Gegen Kritik sowohl von Seiten der Kapitalverbände wie der Gewerkschaften will die »Regierung der Mitte« bis zum Sommer 2001 ein neues Betriebsverfassungsgesetz verabschiedet haben.

  Hat man diese beiden Tagesordnungspunkte abgearbeitet, wird man sich an die Gesundheits»reform« machen. Die Teilprivatisierung der Rentenversicherung steht hier Pate für die weitere Beschränkung kollektiver Aufgaben.

Die Strategen der Sozialdemokratie gründen ihren Optimismus auf vier Einschätzungen:

1. Die Ökonomie bleibt relativ stabil; der leichten Abschwächung der Konjunktur wird durch Steuersenkungen (Ankurbelung des Konsums) und öffentliche Investitionen (Sonderprogramme mit Mitteln aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen) entgegen gesteuert.

2. Die »Reformprojekte« werden letztlich von der Mehrheit der Gewerkschaften akzeptiert.

3. Die bürgerlichen Parteien haben nach wie vor Schwierigkeiten, eine neue Plattform zu finden, mit der die negativen Folgen der neoliberalen Deregulierungs- und Privatisierungspolitik vergessen gemacht werden können.

4. Die Bündnisgrünen setzen ihren Mitte-Rechts-Kurs fort und behalten gleichwohl soviele WählerInnen, das ihre parlamentarische Existenz gesichert bleibt.

Das Selbstbewusstsein der »Neuen Mitte« wird durch die jüngsten Prognosen des Sachverständigenrats (SVR) gestützt. »Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland im Jahre 2000 war günstiger als noch vor einem Jahr erwartet. Die kräftige Belebung der Weltkonjunktur im Verbund mit der Abwertung des Euro haben sich in einem wahren Exportboom niedergeschlagen.

Auch die Wirtschaftspolitik, deren Kurs zuvor diffus und verunsichernd war, hat dazu beigetragen, das Konjunkturklima zu stabilisieren und günstiger zu gestalten... Im Jahre 2001 wird sich der Aufschwung fortsetzen. Die konjunkturanregenden Wirkungen aus dem Ausland werden zwar etwas geringer, da das Expansionstempo in der Weltwirtschaft sich verlangsamt und die Effekte der Abwertung auf die Exporte sich abschwächen. Dem stehen jedoch günstige Bedingungen für eine Belebung der Inlandsnachfrage gegenüber.« (Ziffer 294f)

Der Schwachpunkt der Regierungsarbeit ist eindeutig: Ihr Beitrag zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit ist minimal. »Die Anzahl der Erwerbstätigen stieg von Ende 1999 bis Ende 2000 bereits um 572.000 Personen beziehungsweise 1,5 vH. Diese Zahlen überzeichnen allerdings die Verbesserung der Beschäftigungslage, da darin eine starke Zunahme der geringfügigen Beschäftigung enthalten ist; diese Arbeitsverhältnisse werden seit der Einführung der Sozialversicherungspflicht in der Erwerbstätigenstatistik besser erfasst. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen ging in deutlich geringerem Maße, nämlich um 261.000 zurück.« Die Zahl der offenen und verdeckten Arbeitslosen wird laut SVR Ende 2001 immer noch 5,18 Millionen betragen, trotz erheblicher Entlastung des Arbeitsmarktes durch die demographische Entwicklung.

Die Schlussfolgerungen des SVR sind hinlänglich bekannt: Die Regierung müsse entschieden mehr tun, damit das bundesrepublikanische Kapital im internationalen Wettlauf die Konkurrenten noch deutlicher abhängen könne, und sie müsse den Arbeitsmarkt entschieden radikaler deregulieren.

Die Bundesanstalt für Arbeit wird im kommenden Jahr 45,3 Mrd. DM für Arbeitslosengeld und 44,1 Mrd. DM für aktive Arbeitsmarktpolitik ausgeben. Dass die Regierung den Etat der Nürnberger Behörde herunterfährt und dass sie zudem die Finanzierung des JUMP-Programms der Kasse des Arbeitsamts aufbürdet, also Bundeszuschüsse streicht, werden vom Rat als Schritte in die richtige Richtung bewertet. Ein offensiveres Vorgehen würde erreicht, wenn das Arbeitslosengeld noch stärker abgesenkt und die Arbeitsmarktmittel für subventionierte Beschäftigung eingespart werden, um so den Druck zur Annahme von Niedriglohnbeschäftigung jeder Art zu verstärken. »Das Ziel einer ausgeprägteren Lohndifferenzierung kann nur dann erreicht werden, wenn auch die den Anspruchslohn im unteren Lohnsegment determinierenden Faktoren Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld ebenfalls auf den Prüfstand gestellt werden.«

Die Grünen profilieren sich bereits in diesem Sinne, wie ihr Vorschlag für eine Öffnung des Tarifsystems im Falle wirtschaftlicher Schwierigkeiten bei Unternehmen zeigt. Dass es bei einer entsprechenden Änderung des Günstigkeitsprinzips letztlich nicht um (bereits bestehende) Öffnungsklauseln geht, sondern darum, das besagte Einkommensgefüge ins Rutschen zu bringen, indem man das bestehende Regulierungssystem (Tarifvorrang) wegholzt, dürfte bei aller Unbedarftheit in diesen Fragen auch grünen »Experten« nicht verborgen geblieben sein. Der Vorstoß zielt darauf, die Grünen zur rechten Flügelpartei innerhalb der Koalition der Mitte zu machen.

Die wirtschaftliche Erholung und die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt steht auf einem unsicheren Fundament. Die prognostizierte leichte Abschwächung des Wirtschaftswachstums könnte trotz Steuererleichterungen und Ausweitung von öffentlichen Investitionsprogrammen rasch in eine Abwärtsspirale umschlagen. »Risiken« – so selbst die Wirtschaftsweisen – »birgt schließlich die weitere Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Sollte die Landung der amerikanischen Wirtschaft nach dem langen und kräftigen Aufschwung härter sein als erwartet, könnte dies eine sich selbst verstärkende Abwärtsbewegung auslösen, die sich über sinkende Importe dämpfend auf die Weltkonjunktur und die Entwicklung der deutschen Wirtschaft auswirken würde.«

Die Konjunktur in den USA ist nicht durch eine Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit des US-Kapitals erzeugt worden und auch nicht das Ergebnis eines plötzlichen Übergangs zu einer New Economy, sondern hat viel mit dem Konsumboom und der Verschuldung von privaten Haushalten und Unternehmen zu tun. Folgte die Regierung den Vorschlägen des SVR oder der grünen »Experten«, wären wir wieder bei der alten Malaise: Ein wachsender Teil des Arbeitskräftepotentials liegt brach, folglich werden die öffentlichen Haushalte stärker belastet und die umlagefinanzierten Sozialsysteme geraten in Finanzierungsschwierigkeiten.

Wenn man partout von Amerika lernen will, dann erstens, dass man die Binnenkonjunktur stärken muss; zweitens, dass hierfür die Inflation auf den Aktienmärkten und Verschuldung kein tragfähiges Fundament sind; und drittens, dass die Orientierung der Zentralbanken an den Interessen der Vermögensbesitzer stotternde Konjunkturmotoren schnell abwürgen kann. Und man outet sich ganz und gar nicht als romantisch verklärter Anhänger des »Rheinischen Kapitalismus« wenn man an zwei simplen Erkenntnissen festhält: dass eine ausgeglichenere Einkommensstruktur höhere Nachfrageeffekte hat als Einkommensverhältnisse, bei denen unten Kaufkraft fehlt und oben der Luxuskonsum mit dem Reichtum nicht mithalten kann, und dass öffentlicher Reichtum im Kapitalismus dazu dienen kann, gesellschaftlicher Armut vorzubeugen. Gerade weil es um die Korrektur der Verteilungsverhältnisse geht, kommt der Auseinandersetzung um die Alterssicherung eine prinzipielle Bedeutung zu. Ein Viertel der Bevölkerung ist im Rentenalter – Tendenz steigend. Wenn das Einkommensniveau für einen derart großen Teil der Gesellschaft auf Dauer in erheblichem Umfang abgesenkt wird, gleichzeitig der aktive Teil der Gesellschaft zum Zwangssparen (für private Zusatzversorgung) verpflichtet wird, muss der Binnenmarkt Schaden nehmen. Wenn gleichzeitig der Arbeitsminister bis 2003 die arbeitsmarktpolitischen Ausgaben um deutllich mehr als ein Drittel zurückfährt (als sein Beitrag zum Sparhaushalt) und der Finanzminister das Ende antizyklischer Finanz- und Haushaltspolitik verkündet, um dem Kaninchen vor der Schlange gleich, den Finanzmärkten bis 2006 einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen zu können, wird der konjunkturell und demografisch bedingte Rückgang der Arbeitslosigkeit keine Nachhaltigkeit haben.

Der SVR versucht, sich mit einem alten Trick aus der verteilungspolitischen Malaise zu befreien, indem er argumentiert, dass Niedrigeinkommen nur das Sprungbrett für eine Zukunft in Wohlstand sei: »... zahlreiche private Haushalte in der unteren Einkommenspyramide stiegen innerhalb weniger Jahre auf und verbesserten ihre materielle Situation absolut und relativ.

Auf einer niedrigen Einkommensstufe zu verharren, ist kein unentrinnbares Schicksal ... Der Sachverständigenrat sieht in diesen Befunden kein Indiz für eine Erosion des Sozialen in unserer Marktwirtschaft.« Tatsache ist, dass Abgänge und Zugänge in Armut sich – in Zeiten relativer Prosperität – bislang die Waage gehalten haben; dieses keineswegs soziale »Gleichgewicht« würde durch eine Politik der Förderung von Niedriglohnbeschäftigung zerstört.

Das Soziale an der Marktwirtschaft oder dem Kapitalismus hatte Ludwig Erhard immer so definiert:
es ist ungleich sinnvoller, alle Energien einer Volkswirtschaft auf die Mehrung des Ertrages der Gesamtökonomie zu richten als sich in Kämpfen um die Distribution des Ertrages zu zermürben. »Es ist sehr viel leichter, jedem einzelnen aus einem immer größer werdenden Kuchen eine größeres Stück zu gewähren als einen Gewinn aus einer Auseinandersetzung um die Verteilung eines kleinen Kuchens ziehen zu wollen«. Dies hat in den fünfziger Jahren große Bevölkerungsteile überzeugt. Was aber ist, wenn der Kuchen aufgrund der intensivierten Anstrengungen der unmittelbaren Produzenten größer wird, und die Kuchenstücke für die Arbeitenden und die Bezieher von Sozialeinkommen immer schmaler werden?

Der Kurs einer größeren Autonomie von Gewerkschaften und Sozialverbänden wird mit dem Argument in Frage gestellt, dass es zur aktuellen Politik von Rotgrün keine real- und machtpolitische Alternative gäbe. Das ist falsch. Politik würde in diesem Fall verkürzt werden auf Strategien der Exekutive, während doch eine entwickelte bürgerliche Gesellschaft sich durch zivilgesellschaftliche Initiativen und Aktionen auszeichnet. Die Unternehmerverbände haben in der Ära des Neoliberalismus wie gegenüber der Neuen Mitte eindrucksvoll demonstriert, wie gesellschaftliche Mehrheiten in Stellung gebracht werden können. Wer behautet, es gäbe keine Alternativen, hat den »Kampf um die Köpfe« aufgegeben.

Joachim Bischoff und Richard Detje sind Redakteure von Sozialismus.

Zurück