1. Juni 2004 John P. Neelsen

7. Das Wahlergebnis in Indien vom Mai 2004 – Rückkehr und Wende nach Links?

1. Entgegen allen Erwartungen hat die Regierungskoalition unter Führung der Indischen Volkspartei (BJP) die von ihr selbst angesichts des seit Jahren anhaltenden außergewöhnlichen Wirtschaftswachstums, einer guten Ernte und vielversprechender Friedensverhandlungen mit Pakistan vorzeitig anberaumten Parlamentswahlen verloren.

Der Slogan vom "shining India" konnte offenbar das Bewusstsein der sich verbreiternden Kluft zwischen Stadt und Land, Reich und Arm, zwischen den urbanen, gut ausgebildeten Mittelschichten und den kleinen Bauern nicht verdecken; die Versprechen von der Vertiefung der Wirtschaftsreformen, von einer Grundbedürfnisstrategie gekoppelt mit der Einreihung Indiens unter die entwickelten Nationen und Großmächte bis 2020 haben die Realität unerfüllter Hoffnungen nicht zu überbrücken vermocht. Da mögen die Zielsetzungen der Kongress-Allianz von mehr Investitionen in der Landwirtschaft, von Arbeitsplatzbeschaffung und Eliminierung der Armut konkreter und unmittelbarer an den Tagesproblemen der Bevölkerungsmehrheit orientiert geklungen haben.

Jedenfalls hat die vom Kongress geschmiedete Allianz die Wahl gewonnen; dem linken Spektrum zugerechnete Parteien wie Samajwadi und Bahujan Samaj Party, Interessensvertreter der unterprivilegierten Sozialschichten, sind zum Eintritt in die Regierung bereit; die kommunistischen Parteien CPI und CPM (Marxist) werben für eine vom Kongress geführte Regierung, auch wenn sie diese nur von außen unterstützen wollen. Ein Linksruck und radikaler Neuanfang? Die BJP-Regierung nur eine vorübergehende Periode, ein Alptraum, dem der indische Wähler ein Ende bereitet hat? Die Analyse von Wahlergebnissen und Programm zeichnen ein differenzierteres Bild.

2. Das Wahlergebnis repräsentiert keine Wiedergeburt des Kongresses als hegemonialer Partei; es revidiert nicht einmal seine verheerenden Niederlagen in den Regionalwahlen vom Dezember 2003. Die Vorherrschaft auf Bundesebene ist auf Dauer durch einen Dualismus, dessen zweiter Pol die rechtsgerichtete nationalistische BJP bildet, abgelöst.

3. Allerdings vereinigen auch diese beiden insgesamt nur rund die Hälfte der Wählerstimmen – mit leichten Vorteilen für den Kongress (27 vs. 23%) – auf sich. Um Wahlen zu gewinnen und Regierungen zu bilden, sind sie auf Bündnisse mit der hoch fraktionierten Parteienlandschaft angewiesen. So bestand die von der BJP angeführte National Democratic Alliance aus zehn, das Bündnis des Kongresses aus 16 Parteien. Mehrere 100 weiterer nationaler und vor allem regionaler Parteien und Tausende unabhängiger Kandidaten kämpften um die Stimmen der 672 Millionen Wähler. Auch wenn nur rund weitere 20 Parteien genügend Wähler auf sich vereinigten, um im 543 Mitglieder starken Parlament (Lok Sabha) in New Delhi vertreten zu sein, bleibt das Bild einer hochgradig ausdifferenzierten Parteienlandschaft mit zwei relativen Kernen bestehen. So vereinigte auch keine der beiden großen Allianzen mehr als 35% der Stimmen auf sich.

4. Neben der Fraktionierung ist die Regionalisierung zweites hervorstechendes Kennzeichen des heutigen politischen Systems Indiens. Das gilt tendenziell sogar für die beiden Hauptparteien. So kommen die Hälfte der Kongressabgeordneten aus gerade fünf (von 35) Bundesstaaten; rund 90% der mit 5,6% Stimmenanteil wichtigsten kommunistischen Partei, der CPM, stammen aus deren zwei traditionellen Hochburgen, West Bengalen und Kerala; und die beiden neu in die Regierung eintretenden Parteien (SP und BSP) haben eine nennenswerte Gefolgschaft nur in einem einzigen, wenngleich dem bevölkerungsreichsten Bundestaat, Uttar Pradesh.

Beides, Fraktionierung im Verbund mit Regionalisierung, führt typischerweise zu instabilen Regierungen. Um eine absolute Mehrheit von mindestens 272 Abgeordneten zu sichern, müssen auch bei (relativem) Wahlerfolg häufig weitere Koalitionspartner gesucht werden. So erzielten im Wahlbündnis des Kongresses 12 von 16 Parteien einen Stimmenanteil von lediglich 0,1 und 0,5%. Und trotz Wahlsieg verfügt es gerade einmal über 40% (216) der Mandate, die entsprechend aufgefüllt werden müssen. Dies impliziert trotz potenziell geringer Mandatszahl ein hohes Sanktions- und Durchsetzungspotenzial gerade seitens kleiner Parteien mit sehr spezifischen Gruppen- oder regionalen Partikularinteressen.

5. Dabei favorisiert im Prinzip das vorherrschende reine Mehrheitswahlrecht im Gegensatz zum Verhältniswahlrecht parlamentarische Mehrheiten auch bei relativ niedrigem absoluten Stimmenvorteil. Bei aller Freude über die Abwahl der Hindunationalisten sollte die Bedeutung des Wahlergebnisses als Linksruck in der Wählerschaft nicht übertrieben werden. Das Ergebnis ist nämlich vornehmlich auf das Wahlsystem zurückzuführen. So lag die Wahlbeteiligung mit 57% unter dem der letzten Wahlgänge (und unter dem Mittel von 60,2% der 14 Parlamentswahlen seit der Unabhängigkeit). Beide Wahlbündnisse, einschließlich ihrer jeweils führenden Organisationen Kongress und BJP, haben Stimmenanteile (2,4 bzw. 3,6%) verloren. Obgleich die alte Regierungskoalition mit 34,8% sogar die meisten Stimmen errang, verlor sie 30% oder 90 Abgeordnetenmandate, wohingegen die Kongressallianz mit 34,6 % (der Indian National Congress [INC] selbst büßte 2,1% an Stimmen ein) 66 Parlamentssitze dazu gewann. Noch stärker machte sich der Effekt des Wahlsystems bei den kleinen Parteien bemerkbar. So gewann die Communist Party of India (CPI) zum Beispiel trotz absoluten und relativen (1,4% statt 1,5% in 1999) Stimmenverlusts Mandate hinzu und ist heute mit zehn (anstelle der bisherigen vier) Abgeordneten im Parlament vertreten. Darüber hinaus ist insgesamt eine sehr hohe Volatilität festzustellen: So konnte nur ein Drittel der Kongressabgeordneten ihren Wahlkreis erfolgreich verteidigen (ein ähnlicher Prozentsatz gilt für das gesamte Wahlbündnis), während 45% ihn verloren, dafür 66% neu gewonnen wurden.[18] Im Resümee: Weniger Linksruck auf Seiten der Wähler als Abstrafung der Regierung durch die größerer Mobilisierung enttäuschter Wähler anstelle der von der Regierungspolitik Begünstigten;[19] ein relativer Wahlsieger gemessen an der Zahl der gewonnen Mandate, wenngleich knapper Verlierer nach absolutem Stimmenanteil; ein unzureichendes Regierungsmandat, das gerade eben und allein durch eine Koalition mit (weiteren) Parteien ausgesprochen regionaler Provenienz ausgeglichen werden kann. Die zugesagte externe Unterstützung durch die Kommunistischen Parteien stärkt zwar grundsätzlich die Regierung, verbreitert ihre formal nur schwache Mehrheit (rd. 280 Sitze), verweist aber auch auf prinzipielle Divergenzen, die einer direkten Koalition im Wege stehen. Es erlaubt beiden, der Kongressregierung wie den Kommunistischen Parteien, größere Konsistenz in ihrer Identität und Freiraum zur Kritik; gleichzeitig wird der Aktionsraum gerade in kontroversen Politikbereichen eingeschränkt, die Stabilität der Regierung, worauf vor allem die Wirtschaftskreise gesetzt haben, verringert.

Welche Politik ist zu erwarten?
Grundsätzlich sind die Gemeinsamkeiten mit der bisherigen Politik weit größer als die Divergenzen. War es doch eine Kongressregierung, die Anfang der 1990er Jahre den Kurs in Richtung Weltmarktöffnung und Privatisierung gestellt hatte; mehr noch, es sind die Architekten dieser neoliberalen Politik die auch in der neuen Regierung vertreten sind, nach dem Verzicht von Sonja Gandhi sogar im Amt des Premierministers. Die Verhandlungen mit Pakistan sollen fortgesetzt werden, habe der Kongress doch schon immer die diesbezügliche Öffnung des Premiers Vajpayee mitgetragen; nur solle dieser Kurs jetzt mit "größerer Konsistenz" verfolgt werden, wie es offiziell heißt.

Die "strategische Partnerschaft" mit den USA auf den Gebieten der Atomenergie, der Raumfahrt, der Hochtechnologie und der raketengestützten Verteidigung soll weiter ausgebaut werden; auch eine von den USA gewünschte Stationierung indischer Truppen im Irak wird nicht a priori ausgeschlossen. Im Namen des Realismus und Pragmatismus wird eine "engst mögliche Beziehung zu den USA" vom neuen Außenminister in Aussicht gestellt, der sich auch die Linksparteien als im "vitalen nationalen Interesse liegend" nicht entziehen könnten.

In den Grundzügen der Außen- und Wirtschaftspolitik dürfte sich deshalb mit dem Regierungswechsel nichts ändern, worauf schon unmittelbar nach dem überraschenden Wahlergebnis ein hoher Wirtschaftsfunktionär hingewiesen hatte. Und wenn die Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten zu einem Kurssturz an der Börse führte, so suchte noch am selben Tag ein Kongressvertreter die Finanzmärkte mit der Versicherung zu beruhigen, die Privatisierung von Staatsbetrieben werde – wenn auch unter Berücksichtigung des nationalen Interesses – auf jeden Fall weitergeführt. Dass die ausgesprochen nationalistische Vorgängerregierung, die noch in ihrem Wahlprogramm die wirtschaftspolitischen Reformen unter das Vorzeichen der "self-reliance" stellte, anders gehandelt hätte, bleibt zu belegen. Und schließlich ist zu fragen, welcher Spielraum der Regierung bleibt (selbst wenn sie wollte), angesichts verschiedener Faktoren: der Wirtschaftserfolge, des unter einer Kongress-Regierung (entgegen hunderttausendfachen Protests von Bauern) 1994 erfolgten Beitritts zur WTO und deren Auflagenpolitik sowie der politischen Lobbies von Kapital und urbanen mittelständischen Globalisierungsgewinnern. Die Notwendigkeit, mehr in die Landwirtschaft und damit zu Gunsten der Mehrheit der indischen Bevölkerung generell, zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der absolut Armen speziell zu investieren, ist seit langem auch in ihrer Bedeutung als zugkräftiges Wahlversprechen bekannt. So hatte Sonja Gandhi bei ihrer Kampagne bewusst an die seinerzeit so erfolgreich gehandhabte Beschwörung vom "gharibi hatao" ("Schluss mit der Armut") ihrer Schwiegermutter Indira Gandhi auf deren Wahlfeldzügen angeknüpft. Doch vor der Wahl ist nicht nach der Wahl!

Bleibt allein das Versprechen, eine "säkular-demokratische" Regierungspolitik einzuschlagen. Hier steht eine andere, die Minderheiten stärker berücksichtigende Politik zu erwarten. Deren Bedeutung sollte im Hinblick auf die Durchsetzung und Pflege einer demokratischen Kultur keinesfalls unterschätzt und klein geredet werden. Gleichzeitig sollte dabei nicht unterschlagen werden, dass Indien auch unter der neuen Regierung die neoliberale Wirtschaftspolitik mitsamt ihren Folgen der Privatisierung von Staatsaufgaben und -unternehmen sowie verschärfter sozialer Ungleichheit, gekoppelt mit millionenfachem größerem sozialen Elend, weiterführen wird und auch außenpolitisch den eingeschlagenen Weg des Ausbaus zur subimperialistischen Regionalmacht, womöglich sogar in engerem Schulterschluss mit den USA, weiter verfolgen wird.

John P. Neelsen ist Professor am Institut für Soziologie der Universität Tübingen.

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