1. Mai 2005 Redaktion Sozialismus

Abschied von der Neuen Mitte?

Die von SPD-Chef Müntefering verbalisierte "Linkswende" der Sozialdemokratie sorgt in der veröffentlichten Meinung der Berliner Republik für Aufregung. Im Rahmen der Arbeit an einem neuen Grundsatzprogramm kritisierte "Münte" die Dominanz der Wirtschaft in der Gesellschaft als Gefahr für die Demokratie.

"Unsere Kritik gilt der international wachsenden Macht des Kapitals und der totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profithandelns. Denn dadurch geraten einzelne Menschen und die Zukunftsfähigkeit ganzer Unternehmen und Regionen aus dem Blick." Die Handlungsfähigkeit des Staates werde rücksichtslos reduziert. Münteferings Schlussfolgerung: "Auf diese Entwicklung müssen wir politisch reagieren: Wo der Nationalstaat an die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeiten stößt, könnte die Europäische Union und könnten Institutionen der Internationalen Völkergemeinschaft wirkungsvoll handeln."

Angesichts des Medientheaters über die programmatische Rochade des SPD-Parteivorsitzenden geraten einige Fakten aus dem Blickfeld:

  die SPD hat – in Übereinstimmung mit der Mehrheit der europäischen Sozialdemokratie – sich zentral auf die Interessenvertretung der so genannten "Neuen Mitte" als Markenzeichen für die Modernisierung der Politik konzentriert. Im Blair-Schröder-Papier (1999) heißt es: "In der Vergangenheit haben Sozialdemokraten oft den Eindruck erweckt, Wachstum und eine hohe Beschäftigungsquote ließen sich durch eine erfolgreiche Steuerung der Nachfrage allein erreichen. Moderne Sozialdemokraten erkennen an, dass eine angebotsorientierte Politik eine zentrale und komplementäre Rolle zu spielen hat."

  Die Skepsis der Mehrheit der Bevölkerung wuchs allerdings mit den praktischen Erfahrungen rot-grünen Sozialstaats-Rückbaus, zumal die deregulierten "flexiblen Märkte" kein Wirtschaftswachstum stimuliert und nicht mehr Arbeitplätze geschaffen haben. Im Gegenteil.

  Es war zu erwarten, dass die Sozialdemokratie bei anhaltender sozialer Spaltung immer wieder auf ihre selbstgewählte Funktion des "kleineren Übels" im Kapitalismus zurückkommen würde.

"Einige Jahre währt nun die Krise der Wirtschaft in Deutschland, und die Sozialdemokratie hat sich während dieser Zeit die Interessen des Kapitals so sehr zu Eigen gemacht, dass Dieter Hundt, der Präsident der deutschen Arbeitgeber, im vergangenen Jahr mit gutem Grund zur 'Agenda 2010' gratulierte. Geändert hat sich für Deutschland dadurch wenig. Die versprochenen Arbeitsplätze gibt es nicht, und mehr bezahlt wird auch nicht." (SZ 20.4.2005)

Die Politik der angebotsorientierten Agenda ist – zumindest in Deutschland – gescheitert. Das wird sich bei den Landtagswahlen in NRW zeigen. Die Wahlbeteiligung lag beim letzten Urnengang bei 56,7% (außerdem hatten ein Prozent der Wähler ungültig gestimmt). Daran hat sich nichts geändert, allenfalls zum Negativen hin. Trotz der üblichen Sonntagsrhetorik über die Gefährdung der demokratischen Kultur angesichts wachsenden Rassismus und rechtsextremistischen Politikangebots ist rund die Hälfte der Wahlbevölkerung nicht mehr daran interessiert, sich am Parteienwettbewerb zu beteiligen. Rechtswidrige Praktiken der Parteienfinanzierung, Nebenverdienste von Politikern bei Großunternehmen und andere Formen illegaler Bereicherung und Korruption haben die politische Apathie und Parteienverdrossenheit noch verstärkt. Nutznießer sind die politischen und wirtschaftlichen Eliten. Aber ohne Intervention, Protest, Widerstand und parteiförmig präsentierte Alternativen wird sich die politisch-soziale Abwärtsspirale beschleunigen.

Das Gespenst der "Linkswende" der SPD lebt von dem Scheitern der Strategie der Neuen Mitte. Zwei Drittel der Deutschen (66%) halten die Kritik des SPD-Vorsitzenden an der "Macht des Kapitals" sowie der einseitigen Orientierung der Wirtschaft an ihren Gewinnen zu Lasten von Arbeitsplätzen für berechtigt. Eine deutliche Mehrheit von knapp drei Viertel (73%) denkt allerdings, dass es der SPD nicht darum geht, eine substanzielle Debatte über Fehlentwicklungen in der Wirtschaft anzustoßen. Es gehe eher darum, die Chancen bei der bevorstehenden Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu verbessern. Den Erfolg schätzen die meisten jedoch gering ein: Über zwei Drittel der Bundesbürger (68%) glauben nicht, dass die Unternehmensschelte dazu beiträgt, die Wahlchancen der Sozialdemokraten in NRW zu verbessern. Diese Hoffnung pflegt der SPD-Landeschef Harald Schartau, der meint, die Kritik am reinen Shareholder-value-Prinzip werde auch von vielen Mittelständlern geteilt; "die Thesen von Müntefering finden einen breiten Resonanzboden".

Angesichts der Maßnahmen der Bundesregierung zum Umbau der Sozialsysteme in den letzten Jahren geht über die Hälfte der Befragten (56%) davon aus, dass die Kritik der SPD an der Wirtschaft unglaubwürdig ist. Eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger hat begriffen, dass die Gesetze der Agenda 2010 nicht der Zähmung des Kapitalismus dienen. Die Sozialdemokratie hat eine Politik der beschleunigten Entfesselung des Kapitalismus betrieben. Sie hatte dem Kapital zu einem Übergewicht verholfen und somit das Shareholder-value-Prinzip in Deutschland und Europa hegemoniefähig gemacht. Die bittere Konsequenz ist die fortschreitende Zerstörung des europäischen Sozialmodells.

Müntefering kritisiert nicht den Kapitalismus, sondern die Bindungslosigkeit einzelner Kapitalvertreter. Bei manchen Unternehmern stimme die Ethik nicht. Der Hohepriester des Neoliberalismus, Hans-Werner Sinn, hält dagegen: "Man muss das internationale mobile Kapital hätscheln, wenn man Arbeitsplätze schaffen will". Wirtschaft sei keine ethische Veranstaltung. "Wer sich ihr mit moralischen Ansprüchen nähert, hat die Funktionsweise der Marktwirtschaft nicht verstanden". Zwar schaffe sie enorme Ungleichheit und sei ungerecht. Wenn man die Ungleichheit jedoch akzeptiere, erzeuge sie hohe Einkommen, gerade auch für die Arbeiter.

Der Präsident des Ifo-Institutes hat mit diesem neoliberalen Credo die Schwachstelle der modernisierten Sozialdemokratie markiert. Deren politische Logik basiert darauf, dass im Zeitalter der Globalisierung soziale Gerechtigkeit nicht mehr auf die früher mögliche Weise verwirklicht werden könne, und dass daher eine Umdefinition von sozialer Gerechtigkeit unvermeidbar sei. Moderne soziale Marktwirtschaften könnten die Chancen auf soziale Gleichheit erhöhen, ohne jedoch Gleichheit im Ergebnis zu sichern oder zu versprechen. Mit den Mitteln der gewerkschaftlichen Tarifpolitik, des Arbeitsrechts, der Bildungsreform und dem sozialen Sicherungssystem könne man im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr arbeiten. "Neujustierung" des Sozialstaates heißt daher, die bisherigen Errungenschaften zur Disposition zu stellen, wenn sie der internationalen Wettbewerbsfähigkeit im Wege stehen.

Das entscheidende Stichwort heißt "gerechte Ungleichheiten. Dahinter steht die Frage, wie viel Ungleichheit eine dynamische Gesellschaft um ihrer Leistungsfähigkeit willen zulassen sollte." (SPD-Papier) In der laufenden Debatte über die Deregulierung und den neoliberalen Rückbau des Sozialstaates dominiert ein charakteristisches Missverständnis: Es gehe beim Sozialstaat um die Herstellung von sozialer Gleichheit. Gerechtigkeit – so die modernisierte Sozialdemokratie – hieß angeblich lange Zeit Gleichheit der Ergebnisse und nicht Gleichheit der Chancen. "Gerechtigkeit, das bedeutete früher zuerst und vor allem mehr Gleichheit, und zwar ganz direkt mehr Verteilungs- und Ergebnisgleichheit." (Clement) Demgegenüber ist festzuhalten, dass die Hauptaufgabe des Sozialstaates – entgegen einer weitverbreiteten Behauptung – nicht in seiner redistributiven Funktion besteht; die Hauptfunktion des Staates in der Erwerbsgesellschaft und sein größter Erfolg besteht darin, die soziale Unsicherheit in den Griff bekommen und breiten Bevölkerungsschichten soziale Sicherheit verschafft zu haben, was die Voraussetzung für Individualitätsentwicklung ist.

Die Sozialdemokratie hat die neoliberale Grundphilosophie übernommen, die soziale Sicherung sei zu üppig; es gelte, die Menschen aus "Versorgungsabhängigkeit" zu befreien. Gegen die Rückkehr von Arbeitslosigkeit und Armut hat dieses neoliberale Grundrezept nicht geholfen. Vielmehr wird die Demokratie beschädigt. Wer den Sozialstaat abschaffen will, zerstört die Demokratie. Die SPD mag diese Widersprüchlichkeit in ihrem neuen Grundsatzprogramm mit der Formel "Gerechte Ungleichheiten" überbrücken. Scheitern wird sie im Alltagsleben mit dem Versuch der Umsetzung dieses Programms. Wer heute noch hofft, dass eine Niederlage von Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen einen programmatischen Neubeginn ermöglichen würde, wird nach dem 22. Mai eines Besseren belehrt werden.

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