1. Juni 2009 Redaktion Sozialismus

Antikapitalistische Strukturreformen aus Übergangsforderungen entwickeln!

Es heißt häufig, Wahlprogramme hätten den Charme von bedrucktem Altpapier. Auch wenn auf Hochglanzpapier produziert, entspräche ihr Bekanntheitsgrad dem von amtlichen Mitteilungen. In der Tat gibt es kaum relevante Gruppen von WählerInnen, die erst nach kritischer Lektüre von 40 oder mehr Textseiten ihr Votum abgeben.

Aber Wahlprogramme werden weniger für die Wahlbürger verfasst, sie dienen in erster Linie der Verständigung der ParteiaktivistInnen, dem Nachweis der Stärke der jeweiligen Fraktionen, der Profilierung der zentralen Kontroversen, der Filtrierung der Hauptbotschaften – und in diesem Sinne der zeitdiagnostischen Klärung. Dies gilt in besonderem Maße für DIE LINKE:

Erstens, weil nur bürgerliche Parteien sich darauf beschränken können, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse abzubilden. DIE LINKE muss hingegen die intellektuelle Anstrengung auf sich nehmen, politische Projekte zu umreißen, die über den bornierten Zustand wiederkehrender Krisenverhältnisse hinausweisen. Sie steht damit in der Tradition, den Gegensatz von Reform und Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft aufzuheben.

Zweitens, weil die junge Partei es in den zurückliegenden Monaten versäumt hat, eine Debatte über Grundsatzfragen zumindest einzuleiten. Das führt nicht zuletzt dazu, dass kurz-, mittel- und langfristige Forderungen und die für die politische Linke unverzichtbare Suche nach Visionen und Utopien nicht sortiert, sondern bunt durcheinandergewürfelt angeboten werden.

Drittens, weil es in dieser Linkspartei – im Unterschied zur ausgezehrten deutschen Sozialdemokratie – konträre Strömungen und damit Richtungsauseinandersetzungen gibt, für die es eine Verständigungsplattform geben muss.

Viertens, weil diese Partei wie keine andere medial mit dem wechselnden Vorbehalt des "Populismus" oder der politischen "Traumtänzerei" konfrontiert ist.

Und fünftens: Weil DIE LINKE von Beginn ihres Parteibildungsprozesses an darauf angewiesen ist, dass sie Deutungshoheit in allen ihren Verästelungen entwickelt und – bei allen charismatischen Anrufungen – nicht von oben diktiert bekommt. Das mag als Banalität abgetan werden, ist aber eine der kompliziertesten Anforderungen des Parteiprojektes: Deutungshoheit muss unterhalb der Zentrale entstehen.

Was Letzteres anbelangt, sehen wir DIE LINKE mit dem Bundestagswahlprogramm-Leitantrag für den Parteitag am 20./21. Juni in Berlin noch am besten aufgestellt. Was sich die Partei darunter vorstellt, "die sozialen Interessen der Menschen in den Mittelpunkt" (Punkt 2) zu stellen, ist – soweit man dies in einer systemischen Krise und inmitten grundlegender gesellschaftlicher Umbrüche sagen kann – auf der Höhe der Zeit.

In den kommenden Monaten wird die registrierte Arbeitslosigkeit um rund eineinhalb Millionen ansteigen – auf über fünf Millionen Ende 2010. Sie wird danach auch aus der Sicht der größten Optimisten wirtschaftspolitischer Prognostik nicht fallen. Selbst der aus unserer Sicht unrealistische Fall des Erreichens eines konjunkturellen Wendepunktes im kommenden Frühjahr würde bedeuten, dass der Arbeitsplatzabbau bei wieder verbesserter Produktivität und stagnierendem Wachstum anhält. Die nächsten Monate werden somit "zeigen, unter welch massiven finanziellen Druck die Sozialsysteme" geraten, dass es mit "allgemeinen Garantien für die Renten, die Arbeitslosenversicherung und die Krankenversicherung" nicht getan ist.

Die verschiedenen Forderungen von der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, über die Sicherung von armutsfesten Altersrenten bis hin zur Aufhebung des Hartz IV-Systems orientieren sich entlang einer zentralen Achse: "Die Krisen bewältigen – die Weichen neu stellen. Das ist das Gebot der kommenden Jahre, auf dem Arbeitsmarkt, in der Wirtschaftsstruktur, in der Technologie, in den Sozialsystemen." Es geht darum, über Übergangsforderungen einen Einstieg in eine andere Gesellschaftsentwicklung durchzusetzen. Wer die Krise bekämpfen will, der muss mit Sofortmaßnahmen beginnen; und diese Sofortmaßnahmen müssen selbst an der Entwicklungsperspektive in Richtung einer solidarischen Ökonomie ausgerichtet sein. Unter diesem Gesichtspunkt der Weichenstellung hätten die Forderungen allerdings noch stärker gebündelt werden können.

Der entscheidende Punkt für die politischen Kontroversen der nächsten Zeit besteht nicht – wie nun auch die CSU einsehen musste – in der Frage von Steuersenkungen. Es geht vielmehr um die Entwicklung und Ausgestaltung eines Programms, mit dem der Staat nicht in die Krise "hineinspart", sondern aus ihr "herauswächst". Dass ein solches Programm – wie Paul Krugman und Joseph E. Stiglitz dies für die USA vorgerechnet haben – entsprechend dem ökonomischen Absturz dimensioniert sein muss, ist Ausweis von Realismus, nicht von Forderungsinflation.

DIE LINKE schlägt zwei kurzfristig wirksame Entwicklungsrichtungen vor. Mit der ersten soll mit einem jährlichen Zukunftsinvestitionsprogramm in Höhe von 100 Mrd. Euro und einem 100 Mrd.-Zukunftsfonds ein Weg eingeschlagen werden, der nicht Arbeit um jeden Preis, sondern gute Arbeit in einer Größenordnung von rund zwei Millionen Arbeitsplätzen erbringen soll und damit ergiebige Selbstfinanzierungseffekte erwarten lässt. Die zweite Richtung sieht dringende sozialpolitische Sofortmaßnahmen vor (flexible Übergänge in eine lebensstandardsichernde Rente statt Rente mit 67; Abschaffung von Hartz IV durch eine "bedarfsdeckende und sanktionsfreie Mindestsicherung" mit einer Regelsatzanhebung auf 500 Euro; Neuausrichtung des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenversicherung am medizinischen Bedarf der PatientInnen usw.), die gemeinsam mit einem gesetzlichen Mindestlohn von zehn Euro die gesellschaftliche Nachfrage auf dem Binnenmarkt stärken. DIE LINKE ist gut beraten, diese Positionen – trotz Diskussionen im Einzelnen über die Höhe von Regelsätzen oder die erforderliche Nettokreditaufnahme – auszubauen.

Dabei könnten aus unserer Sicht zwei Punkte gesellschaftspolitisch profiliert werden. Erstens der Zusammenhang von wirtschaftspolitischen Sofortmaßnahmen und Transformations- oder Umbaumaßnahmen. Die ergeben sich eben nicht erst im Rahmen einer Vergesellschaftung des Bankensystems (siehe Punkt 2.2.), sondern sehr viel konkreter im Arbeits­alltag durch die investitionssteuernde Qualität der geforderten öffentlichen Investitionsfonds in Bezug auf sektorale Industrie- und Strukturpolitik (nicht nur im Hinblick auf die Automobilindustrie). Indem man hier deutlich macht, was direkte und indirekte Steuerung an sozialen und ökologischen Strukturveränderungen bedeutet, wird auch klarer, dass Wirtschaftsdemokratie mehr ist als Belegschaftsbeteiligung und Ausweitung der Mitbestimmung: demokratische Mittelvergabe aus den öffentlichen Fonds selbst mit gewerkschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Beteiligung.

Zweitens könnte die machtpolitische Dimension stärker herausgearbeitet werden. Gesellschaftliche Lähmung ist nicht zuletzt das Ergebnis einer Politik der Prekarisierung, die den Status arbeits- und sozialrechtlich geschützter Lohnarbeit schrittweise zugunsten eines Regimes von Sanktionen und Existenzgefährdungen demontiert hat. Dass die sozialen Herrschaftsverhältnisse in einer grundlegenden Krisensituation auf vergleichsweise geringen Widerstand stoßen, hat eben nicht zuletzt damit zu tun, dass das gesellschaftliche Leben durch arbeitspolitische Prekarisierung und soziale Deregulierung mit jeder Menge "Angstrohstoff" zersetzt worden ist. Soziale Sicherung und Aufwertung der lebendigen Arbeit sind somit Strategien, die Zivilgesellschaft wieder widerstandsfähiger und autonomieträchtiger zu machen. Daraus können Bündnisperspektiven erwachsen. DIE LINKE wäre ein "Anker" in einem diskreditierten, verselbständigten, zumindest teilkorrupten politischen System, in dem sie nicht nur für Antikorruption und Antiklientelismus, sondern für eine Interessenvertretung von unten steht, die in der Lage ist, eine aus den fortschrittlichen Strömungen der Zivilgesellschaft erwachsende politische Synthese als Machtfaktor in das politische System einzubringen.

Gesellschaftspolitisch nicht auf der Höhe der Zeit sind aus unserer Sicht im Wahlprogrammentwurf der LINKEN vor allem zwei Bereiche: zum einen die Ausführungen zur "Demokratisierung der Demokratie" (2.4. sowie entsprechende Punkte unter 3. und 4.). Mit jenen Entwicklungstendenzen, die in Richtung eines stärker autoritären Staates oder eines autoritären Kapitalismus gehen, erfolgt – trotz Nennung von Einzelaspekten – eigentümlicherweise keine Auseinandersetzung. Der Gefahr der Rechtsentwicklung und der fortschreitenden Demokratieentleerung wird man nicht gerecht.

Zum anderen bleibt der gesellschaftliche Gehalt einer emanzipatorischen Geschlechter- und Familienpolitik dort unterbelichtet, wo es um weitergehende Strukturveränderungen gehen könnte. Dass gerade die sozialkulturelle Entwicklung in Deutschland – trotz eines Aufbruchs aus einem CDU-Ministerium – von den Kinderkrippen über die Halbtagsschulen bis zum desinteressierten Umgang mit Kulturzentren strukturkonservativ bis reaktionär ist, liegt nicht zuletzt an der massiven Subventionierung einer verknöcherten geschlechtlichen Arbeitsteilung. Dies aufzubrechen würde eine ganz andere Perspektive auf eine Dienstleistungsgesellschaft eröffnen, als dies die neofeudalistischen Dienstbotenangebote nahelegen.

Was der Entwurf des Wahlprogramms nicht leistet, wird für viele AktivistInnen möglicherweise ein Hauptpunkt sein: der Nachweis einer Transformationsperspektive. Das Wahlprogramm bewegt sich hier eher in eine Sackgasse, wenn es einleitend im Anschluss an die Diagnose, dass der "Marktradikalismus ... am Ende" sei, bezogen auf alle anderen Parteien heißt: "Änderungen im Detail", aber: "Weit und breit kein Neubeginn." Dass der Parteivorstand der LINKEN das so sieht, ist ja seine Sache. Aber wo beginnt dann für ihn der Neubeginn? Wo schlagen Änderungen im Detail, also eine lückenlose Besteuerung, eine Begrenzung der Einkommensspreizung nach oben und eine Zügelung der Finanzmärkte in eine neue Qualität um? Man suggeriert, "Neubeginn" sei das ganz andere, jene soziale Utopie, die hinter dem endgültigen Bruch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung aufscheine. Und nicht jene sozialen Verhältnisse, die als antikapitalistische Strukturreformen aus einer gesellschaftlichen Dynamik von Übergangsforderungen erwachsen.

Da uns ganz und gar nicht an der Revitalisierung (hoffentlich) längst geschlagener Schlachten gelegen ist, wollen wir eine Mutmaßung sehr vorsichtig formulieren: Vielleicht liegt es daran, dass der Kapitalismus im Wahlprogramm antiquiert daherkommt: getrieben von "Gier, Geiz, Egoismus und Verantwortungslosigkeit" der Herrschenden, die ihre "Anlage- und Investitionswünsche" selbst starken Staaten per "Befehl" zustellen, verwaltet von "in den Dienst des Kapitals" gestellten Regierungen, die von hochbezahlten Lobbygruppen angetrieben ihren Dienst verrichten.

Die bürgerliche Gesellschaft zeichnet sich – theoretisch gesprochen – jedoch gerade durch die Trennung von Bourgeois und Citoyen, also durch die relative Autonomie der Politik, des Staates und der ihn bestimmenden Kräfte- und Machtverhältnisse aus. Daraus erwächst "Postdemokratie". Nicht aus der Reaktivierung stamokapitalistischer Phantasien.

Dies wollen wir nicht nur als einen Hinweis zur Grundsatzprogrammdebatte verstanden wissen. Uns geht es um die strategische Option eines Wahlprogramms der LINKEN. Wenn eine gesellschaftliche Transformationsperspektive nur in einem Bündnis heterogener sozialer Interessen angegangen werden kann – zumindest in der Perspektive eines "Stellungskrieges" (Gramsci) –, müssen den divergierenden sozialen Kräften Entwicklungsmöglichkeiten eingeräumt werden – selbst einer verselbständigten, sozialstrukturell auf besser gestellte Teile der Lohnabhängigen gepolten Sozialdemokratie.

Für die Sozialverbände, die ihre Durchsetzungskraft den korporativ-institutionellen Machtstrukturen des früheren Rheinischen Kapitalismus verdankten, gilt das allemal. Die bedrückende Realität ist zu mächtig, um in einem politischen Krieg einer gegen alle tatsächlich transformiert werden zu können.

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