29. November 2012 Bernd Röttger: Elmar Altvaters »Kapital«-Einführung

Antipasti

Zu Elmar Altvaters »hellblauem Bändchen zur Einführung in die Kritik der Politischen Ökonomie«

»Das Kapital ist […] keine persönliche, es ist eine gesellschaftliche Macht«, heißt es relativ lapidar im Manifest (MEW 4, 476). An anderer Stelle spricht Marx sogar von »konzentrierter gesellschaftlicher Macht« (MEW 16: 196). Die­se Macht erscheint aktuell wieder in der Krisenregulation, in der das Kapital den Menschen die Zumutungen seiner Krisenbewältigung aufzwingt und Krisenstrategien diktiert. Marxistisches Denken wird durch den real existierenden Kapitalismus scheinbar immer wieder von selbst aktualisiert.


Wie das »Kapital« lesen?

Bereits in den 1990er Jahren, als das Kapital mit neuen Formen seiner Transnationalisierung auch die letzten institutionellen Formen von Kompromissen mit den ihm antagonistischen Interessen in den kapitalistischen Metropolen unterminierte, die vormals »nicht-kapitalistischen Milieus« (Rosa Luxemburg) der dualen Wirtschaft (dem Lieblingskind gemäßigter Arbeiterparteien) durch die Politik der Privatisierung »Land nehmen« konnte und (nicht nur) das ehemals sozialistische Weltsystem vor allem durch Direktinvestitionen durchdrang, erlebte die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie eine erste Welle ihrer Wiederentdeckung – nachdem viele sie 1989 für tot erklärt hatten. Im Zentrum dieser Renaissance stand das Manifest, in dem Marx und Engels eindringlich zeigen, dass »die Bourgeoisie« nicht überleben kann, »ohne […] die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren« (MEW 4: 465). »Alles Ständische und Stehende«, das noch die vorhergehende Epoche prägte, »verdampft«, und der von der Bourgeoisie geschaffene Weltmarkt gestalte »die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch« (ebd.). Was konnte die der so genannten Globalisierung zugeschriebene Kraft treffender charakterisieren?

Die Krisenhaftigkeit globalkapitalistischer Entwicklung seit 2007 bescherte der Marxschen Theorie eine zweite Welle attestierter Aktualität – und nun stand eindeutig Das Kapital im Mittelpunkt des Interesses. Die – notwendig – krisenhaften Tendenzen der »ökonomischen Bewegungsgesetze der modernen Gesellschaft«, die Marx im Kapital zu seinem Erkenntnisobjekt erhoben hatte (MEW 23: 15), wollten erneut entschlüsselt werden. Und das konnte ohne Kapital-Lektüre kaum gelingen. Aber an dem neuen Kapital-Interesse hing mehr: Ein tieferes Verständnis der so genannten Großen Krise, von der nun die Rede war, sollte zugleich, gestützt durch die Marxsche Analyse der Gesellschaft als einem »umwandlungsfähigen und beständig im Prozess der Umwandlung begriffenen Organismus« (ebd. 16), Argumente dafür liefern, dass es ein »Weiter-so« nicht mehr geben könne und dass nun tiefgreifende Strukturreformen anstünden, wenn nicht die kapitalistische Produktionsweise selbst zur Disposition gestellt sei. Die Kräfte seiner krisengetriebenen Veränderung, die immer wieder im Spannungsfeld von Tendenzen zur Restauration tradierter Herrschaft und Tendenzen der Umwälzung der politischen und sozialen Existenzbedingungen taumeln, sollten durch die Kapital-Lektüre kenntlich werden.

So leicht aber lassen sich aus den ökonomischen Kategorien und ihrer Kritik im Kapital die Bausteine für eine Kritik der gegenwärtigen Gestalt kapitalistischer Gesellschaften oder gar eine Strategie zur Überwindung des Kapitalismus nicht zusammenstückeln (vgl. Röttger 2011). Die Analyse im Kapital, die mit der einfachen Warenform im ersten Band beginnt und mit den Klassen im dritten abbricht, zeigt »jede gewordne Form im Flusse der Bewegung« (MEW 23: 27f.), sie zeigt aber eine Entwicklungsbewegung im »idealen Durchschnitt«, wie Marx selbst sagt (MEW 25: 839), und macht »Tendenzen« klar (wie etwa im »Gesetz des tendenziellen Falls der Profirate«, MEW 25: 221ff.). Eine solche Darstellung hat den Vorteil, die Unterschiede zu anderen historischen Produktionsweisen deutlich kenntlich zu machen (vgl. Haug 2012), eine Analyse konkreter historischer Konstellationen ersetzt sie nicht. Marx selbst weist darauf hin, dass die Wirksamkeit der enthüllten »Entwicklungsgesetze« in der historischen Wirklichkeit immer wieder »durchkreuzt« oder »aufgehoben« wird (vgl. MEW 25: 242).

Mit anderen Worten: Das Kapital sperrt sich gegen vorschnelle Vereinnahmungen durch vordergründige Aktualitätsverkündigungen, die sehr schnell auch »überpolitisierte Ungenauigkeiten« (Haug 2006: 31) erzeugen. Um das Werk zu verstehen, seine wissenschaftlichen Grundlagen, sein Potenzial für eine aktualisierte Kapitalismusanalyse und -kritik und um die Lektüre wirklich »durchzuhalten«, bedarf es der »Anleitung«, zumindest aber eines allein kaum aufzubringenden »eiserner Willens«.

Nicht von ungefähr sind in den letzten Jahren daher eine Reihe von Lesegruppen entstanden. Und es sind Schriften neu erschienen oder neu aufgelegt, die die Kapital-Lektüre anleiten wollen. Wolfgang Fritz Haug hat bereits 2006 seinen Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital« Neue Vorlesungen hinzugefügt, die nun weniger »im Schneckentempo« des ermöglichenden »Eingangs ins Kapital« formuliert sind, sondern sich an »theoretischen Grundfragen« orientieren (ebd. 12). 2011 erschien in deutscher Sprache David Harveys Begleiter für Fortgeschrittene und Einsteiger, in dem er auf knapp 400 Seiten durch den ersten Band führt, um für jedes Kapitel Relevanz und Aktualität aufzuspüren. Ähnlich die »Anleitung« von Michael Heinrich (2009), der auf knapp 300 Seiten jedoch gerade bis zum Fetischcharakter der Ware vordringt.

Gemeinsam ist diesen Einführungen, dass sie fast ebenso schwer verdaulich sind wie das Marxsche Kapital selbst. Daneben aber ist inzwischen auch »leichtere Kost« entstanden: Georg Fülberth (2012) hat auf 120 Seiten – mit reichlich Formeln und Mathematik – gleich die drei Bände des Kapital für Menschen zusammengefasst, »die fest annehmen, sie fänden niemals in ihrem Leben die Zeit«, das Kapital zu lesen, um sie »zu einer Revision dieser Annahme« zu bringen (ebd. 7). Und der Comic Das Kapital für Anfängerinnen und Anfänger ist wiederaufgelegt. Jari Banas (2012/1980) lässt darin zunächst Marx zwei junge arbeitende Menschen davon überzeugen, dass sie das Kapital doch lesen (»Nöö! Zu schwer, zu dick und keine Bilder«), Einblicke in die Verhältnisse kapitalistischer Produktionsweise gewinnen, um sich dann von den Arbeitenden angesichts der ökologischen Krise selbst belehren zu lassen.

Gegen die vor allem als Parallellektüre konzipierten Begleitbücher auf der einen und die Versuche populärer Darbietung des Inhalts auf der anderen Seite hebt sich das hellblaue Bändchen von Elmar Altvater deutlich ab.[1] Es bereitet Antipasti, in kleinen Häppchen das vor, auf was man danach umso mehr Lust verspürt: die Lektüre der Marxschen Schriften selbst. »Es wird nicht das Marxsche ›Kapital‹ als Vorlage genommen, um ›Das Kapital‹ in anderen Worten didaktisch aufzubereiten. Es werden vielmehr einige der brennenden Probleme der Gegenwart, insbesondere die Fragen nach Ursachen, Verlauf, Perspektiven und Lösungen der großen Krise aufgeworfen und mit Hilfe der Marxschen Theorie diskutiert und zu beantworten versucht.« /19/


»Wirkliche Geschichte« und »foreshadowing der Zukunft«

In 14 Kapiteln streift Altvater Grundfragen der Kapitalismusanalyse, Entwicklungsprobleme und Widersprüche der Produktionsweise, aber auch Fragen nach adäquaten Handlungsstrategien in emanzipatorischer Absicht. Ohne schwerverdauliche Methodologie geht es aber doch nicht. Im ersten Kapitel (»Die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise beginnt mit der Form der Ware«) verhandelt er jedoch nicht die Warenform­analyse en detail, sondern kommt unumwunden zum Kernproblem der Darstellungsform, wie Marx es im Vorwort zum Kapital und in den Grundrissen erläutert: »Das ›ungegliederte Ganze‹, die Materialsammlung«, die aus der vorausgegangenen Forschung resultiert, muss in der Darstellung so geordnet werden, »dass die ›Bewegungsgesetze‹ der Produktionsweise erkennbar werden und Handlungsstrategien darauf bezogen bzw. damit begründet werden können.« /20/ Die Warenform, die am Beginn der Marxschen Analyse und Kritik steht, bezeichne »so etwas wie die ›Stammzelle‹ der modernen kapitalistischen Gesellschaft« /21/ – Marx nennt sie »Zellenform« (MEW 23: 12), die das »einfachste ökonomische Konkretum« der bürgerlichen Gesellschaft darstellt (MEW 19: 369). Historisch-konkrete Gesellschaften lassen sich aber nur als »Zusammenfassung vieler Bestimmungen« verstehen, wie Marx in den Grundrissen erläutert. Altvater spricht von der Herausforderung, diesen Zusammenhang zwischen Abstraktem und Konkretem »zu identifizieren und Schritt für Schritt zu explizieren« /20/. Das ist in der Tat die Methodenfrage der Kritik der Politischen Ökonomie kurz und knapp auf den Punkt.

Ähnlich geht Altvater in der Bestimmung des Verhältnisses von Tausch- und Gebrauchswert, von abstrakter und konkreter Arbeit bei Marx vor. Sie wird ihm zum Anlass, nicht nur umgehend auf den hinter dem »Äquivalententausch« verborgenen Herrschafts­charakter der Produktionsweise zu verweisen, um darüber die Unterscheidung von »Entfremdung« und »Ausbeutung« zu thematisieren /27, 29/. Er macht deutlich, dass auch die Produktion des Tauschwerts an die Produktion von Gebrauchswerten geknüpft bleibt /28/, dass die gesellschaftliche Formbestimmung von Arbeit in »Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht« (Marx), aber dazu führe, dass im »Stoffwechsel mit der Natur« sich eine Überordnung »der ökonomischen Interessen […] über die natürlichen Reproduktionsbedingungen« /32/ durchsetze. Noch lässt er offen, »ob ein ›post-fossilistischer‹ Substitutionsprozess im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise möglich« sei oder »ob er diesen nicht bereits sprengt« /34/.

Bereits der frühe Marx polemisierte – gegen Proudhon – gegen eine an abstakten Logiken der ökonomischen Kategorien orientierte Geschichtsschreibung und deren »absurd« gestelltes Problem, »die Geschichte auszustreichen« (MEW 4: 140). Marx spricht – wie später Gramsci – hier von »wirklicher Geschichte« (ebd. 134), die den Kern der Kritik der Politischen Ökonomie ausmacht. Auch Altvater interessiert sich – ganz in der Tradition von Marx – für »jede gewordne Form im Flusse der Bewegung« und natürlich für »Punkte, an denen die Aufhebung der gegenwärtigen Gestalt der Produktionsverhältnisse – und so foreshadowing der Zukunft, werdende Bewegung sich andeutet« (MEW 42: 373). Alles das zitiert Altvater nicht – unnötig, er praktiziert es in seiner Darstellung, in der Probleme sowohl historisch als auch genetisch betrachtet werden, als gewordene – und von den antagonistischen Kräften zu lösende.

Zum Beispiel in der Darstellung des Geldes. Die Marxsche Geldform – das »letzte Produkt der Warenzirkulation« und »die erste Erscheinungsform des Kapitals« (MEW 23: 161) – verhandelt Altvater als Ergebnis historischer Prozesse. Mit Marx wird diese in ihrer »geschichtlichen Spur« (ebd. 183, zit. 40) rekonstruiert und in ihrer jeweils gewordenen Gestalt aufgezeigt: als Schatz, als Zahlungsmittel, als Kreditgeld, aber eben auch als Weltgeld und Wechselkurs. Nach Altvater kommen so unweigerlich »Raum und Zeit […] ins Spiel, und damit Geschichte, Entwicklung und Krisen« /38/.

Im Kapitel »Krisen – ein wiederkehrendes ›Weltmarktsungewitter‹« skizziert Altvater souverän die Marxsche Krisenkonzeption im Kapital als »Krise potentia« (Marx), um einen Abriss der krisentheoretischen Kontroversen (und ihrer krisenstrategischen Implikatio­nen) zu geben und zu dem Schluss zu gelangen: »Ohne die zerstörerischen Krisen gäbe es keine Erneuerung des Kapitalismus, keine Reproduktion des Kapitalverhältnisses. Krisen sind demzufolge alles andre als die Vorboten eines Zusammenbruchs.« /52/ Krisen seien vielmehr immer auch »eine Art ›Jungbrunnen‹. Denn die Bedingungen eines neuen Aufschwungs werden bereitet, die Voraussetzungen für den Anstieg der Profitrate geschaffen.« /51/ Wenn die Krisen jedoch »die Lebensgrundlagen der Menschen […] untergraben«, werde die »Suche nach gesellschaftlichen Alternativen […] dringlich« /52/. Schon Marx habe darauf hingewiesen, dass die kapitalistische Produktion »die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter« (MEW 23: 530, zit. 57). Und genau dies geschehe nun. Die kapitalistische Produktionsweise trete an eine »Naturschranke«, an eine Grenze ihrer Reproduktion, »die zunächst im Zuge der industriellen und fossilen Revolution zurückweicht«, sich heute aber »in ihrer ganzen Unerbittlichkeit als Energie- und Klimakrise, als Zerstörung lokaler Bio­tope, als Reduktion der Biodiversität, als ungewöhnliche Wetterereignisse, als Gesundheitsgefährdung« zeige /59f./.

Die letzten beiden Kapitel des ersten Bandes des Kapital, in denen Marx historische Analysen durchführt, interpretiert Altvater vor allem als Analysen der »Unterwerfung von Zeiten und Räumen unter die Herrschaft des Kapitals«, die »zeigen, dass und wie die kapitalistische Produktionsweise sich zeitlich und räumlich ausdehnt und zwar durch permanente Inwertsetzung« /61/. Insbesondere das letzte Kapitel erscheint ihm als das »zumeist in seiner systematischen Bedeutung für die Kapital-Lektüre unterschätzte« /109/. Die abstrakte Formanalyse der ersten Kapitel und die historisch-räumlichen Studien der letzten zeigten: »die Logik von Wert und Verwertung ist nicht nur Ergebnis begrifflicher Ableitung, sondern eine historische Tendenz, die sich auf dem gesamten Globus durchsetzt« /62/.

Diese »gesellschaftliche Macht« des Kapitals, die es im Zuge seiner Verallgemeinerung erheischt, verdeutlicht Altvater auch an staatstheoretischen Problemstellungen. Ausgehend von der Marxschen Bestimmung, dass nicht nur die Durchsetzung, sondern auch die beständige Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise auf die Existenz eines »die Allgemeinheit verkörpernden und repräsentativen Institutionensystems« /100/ angewiesen ist, über die kritische Würdigung der »Staatsableitungsdebatte« und die politische Theo­rie Antonio Gramscis zeigt Altvater, dass auf der einen Seite »sozial- und umweltpolitische Eingriffe« des Staates nur als Folge von »Klassenauseinandersetzungen erreicht werden können«, dass solche erreichten »Normierungen« aber, wie sie Marx im Kapital am Beispiel der Fabrikgesetzgebung analysiert hat, »letztlich durch ›Institutionalisierung des Klassenkonflikts‹, durch Etablierung reformistischer Kompromisse« auf der anderen Seite enden /105/. Später interpretiert er den »Klassenkonflikt und dessen Institutionalisierung« als Momente, ohne die »das kapitalistische System an Flexibilität« verlöre und folglich »weniger erfolgreich« wäre /123/, hält aber daran fest, dass der Klassenkampf für die Durchsetzung von Alternativen unabdingbar bleibe.

Es gehe darum, »Marx-Interpretationen [zu] erarbeiten, die Verbindung von allgemeinem Begriff und der Sphäre der Konkurrenz vieler Kapitale herzustellen und dann […] zum Gegenstand der Analyse [zu] erheben« /90/. Jeder historische Determinismus – der kapitallogische genauso wie der revolutionäre – ist Altvater zurecht suspekt. Trotzdem hält er an der Relevanz der Marxschen Formulierungen von den sich mit »eherner Notwendigkeit« durchsetzenden »Tendenzen« /93/ fest – gerade weil Altvater sie bei Marx »vorsichtig und redlich« /94/ angewendet findet. Den endlosen Studien des »Varieties-Mainstreams« der Sozio­logie und Politikwissenschaft attestiert er, dass sie »zumeist langweilig« seien; beim üblichen Vergleich unterschiedlicher Ausformungen des Kapitalismus werde »der Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen« /94/. Die marxistische Kunst bestehe dagegen darin, »von den allgemeinen Entwicklungstendenzen zu ihrer je konkreten Geschichte« /95/ zu kommen.

Auch wenn also »anerkannt« werden muss, »dass es zwar allgemeine Bewegungsgesetze des Kapitalismus gibt, die auf der Ebene des Kapitals im Allgemeinen analysiert werden müssen, aber auch historische Kapitalismen, die sich beträchtlich unterscheiden können« /96/, bleibt für Altvater ein Begriff von kapitalistischer Produktionsweise unabdingbar, um »einen gesellschaftlichen Bezug herzustellen, und die Krise des Kapitalismus als systemische Krise ins theoretische Visier und politische Programm zu nehmen« /83/. Denn: »Wer die kapitalistische Produktionsweise reformieren oder umwälzen will, muss den Kern knacken, aber dabei um die Varietäten der schützenden Verkleidung wissen.« /97/ Bei Marx seien zwar keine fertigen Antworten, aber das unverzichtbare Basismaterial dafür zu finden. Antipasti vom Feinsten!


Konkrete Utopien

Im Schlusskapitel (»Das gute Leben im ›grünen Sozialismus‹«) resümiert Altvater seine Ausführungen vor dem Hintergrund der Formulierung aus dem Manifest, dass der Untergang der kapitalistischen Produktionsweise »und der Sieg des Proletariats […] gleich unvermeidlich« sind (MEW 4: 473f., zit. 125). Er revidiert die These von der historischen Zwangsläufigkeit, mit der das Kapital an seine Grenze tritt, hebt aber hervor, dass »die schonungslose Analyse der kapitalistischen Produktionsweise […] aufzeigen [kann], warum und wie die Utopie möglich und daher kein idealistisches Nirwana, sondern konkret, und warum die Realisierung der konkreten Utopie durch gesellschaftsverändernde Praxis notwendig ist.« /129/

In den »wirklichen Bewegungen«, von denen Marx und Engels in der Deutschen Ideologie sprechen und die unendlich wichtiger seien als »Programme« oder »Statuten«, lauern die in der »wirklichen Geschichte« aufzuspürenden konkreten Utopien. Sie erblickt Altvater vor allem in der »Genossenschaftsbewegung, die gerade in den Krisen der vergangenen Jahre einen neuen Aufschwung erlebt hat« /131/. Er weiß, dass auch andere hierin (und in der Bearbeitung der »ökologischen Frage«) die eigentliche Kraft der Veränderung erblicken und so den wie auch immer gearteten Umbau des Kapitalismus zur Überlebensfrage der kapitalistischen Produktionsweise erklärt haben. Er fragt folglich »mit Antonio Gramsci« zurecht, ob die Kräfte, die den Umbau befördern, nicht doch »klein« genug gehalten werden, »damit sie im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsformation« verbleiben /133/. Dennoch lässt Altvater zum Schluss einem Optimismus freien Lauf, indem er dem »real existierenden Kapitalismus, so wie wir ihn kennen«, attestiert, dass er »am Ende einer Sackgasse der Entwicklung angelangt« sei /134/. Kapitalismus am Ende der Fahnenstange also?

Darüber ließe sich natürlich streiten. Sackgassen erzwingen nicht zwangsläufig alternative Entwicklungswege. Aus Sackgassen wird auch herausmanövriert, indem an geordneten Wendepunkten der Weg zurück eingeschlagen oder rigoros der Rückwärtsgang einlegt wird (beides im Sinne Merkels Formulierung, dass »die Krise […] dann überwunden [ist], wenn der Zustand vor der Krise wiederhergestellt ist«). Auch streitbar ist die Formulierung, dass »in den historischen Niederlagen« der emanzipatorischen Bewegungen »immer wieder die kapitalistische Reinform der Marktwirtschaft, ohne Sozialklimbim und ökologische Mätzchen« entstehe /86/. Weder die Metapher vom Ende der Fahnenstange noch das dichotome Bild von freiem Markt und reguliertem Kapitalismus aber tragen das Buch. Getragen wird es von den Marxschen Gedanken, dass »die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion […] das Kapital selbst« ist (MEW 25: 260) (und damit sich vielleicht doch an das »Ende einer Sackgasse« manövriert), und dass die »Bildungselemente einer neuen und die Umwälzungsmomente der alten Gesellschaft« (MEW 23: 526) durch den widersprüchlichen Entwicklungsgang der kapitalistischen Produktionsweise selbst erzeugt werden. Wer diese praktische Dialektik und die Bewegung aus sich selbst Schranken setzender Entwicklung des Kapitals bei gleichzeitiger Beibehaltung seiner gesellschaftlichen Macht verstehen, wer die bestehenden Bedingungen nicht nörgelnd, moralisierend kritisieren, sondern in ihrem emanzipatorischen Potenzial »freikämpfen« will (Wolfgang Abendroth), muss nach der Lektüre des hellblauen Bändchens das Hauptgericht der dunkelblauen Bände als Genuss erfahren.

Literatur
Banas, Jari (2012): Das Kapital für Anfängerinnen und Anfänger, Hamburg [Original 1980].
Fülberth, Georg (2011): »Das Kapital« kompakt, Köln.
Harvey, David (2011): Marx’ »Kapital« lesen. Ein Begleiter für Fortgeschrittene und Anfänger, Hamburg.
Haug, Wolfgang Fritz (2006): Neue Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital«, Hamburg.
Haug, Wolfgang Fritz (2012): Kritik der politischen Ökonomie, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus 8/I (i.E.).
Heinrich, Michael (2009): Wie das Marxsche »Kapital« lesen?, 2. durchgesehene Aufl., Stuttgart.
Röttger, Bernd (2011): Der Schoß der alten Gesellschaft. Zur Organisation anti-kapitalistischer Übergänge, in: Das Argument 291, 193-201.

Bernd Röttger, freier Sozialwissenschaftler, Bildungsarbeiter und Autor; Lehrbeauftragter an den Universitäten Wien und Jena; Redakteur »Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften« und Redakteur »Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus«.

[1] Altvater, Elmar, Marx neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Einführung in die Kritik der Politischen Ökonomie, VSA: Verlag Hamburg 2012 (144 S., br., 9,00 €). Alle Zitate in Schrägstrichen // aus diesem Buch.

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