1. April 2000 Joachim Bischoff / Richard Detje

Armeen und Aktionäre

Ein Jahr nach dem Kosovo-Krieg wird bei Befürwortern und Gegnern des NATO-Militäreinsatzes Bilanz gezogen. In der politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und in den Medien ist die Bewertung kritischer geworden. Bemerkenswert ist beispielsweise die Stellungnahme der FAZ unter Verweis auf Loquais Untersuchung (siehe auch S. 54/55 dieses Hefts), »dass die NATO ziemlich verantwortungslos gehandelt hat, indem sie die diplomatischen Möglichkeiten im Umgang mit Milosovic gar nicht ganz ausschöpfen wollte.« (FAZ, 25.3.2000, S. 43).

Zur »Verantwortungslosigkeit« gehört: »Der Bevölkerung und dem Bundestag wurde vorgemacht, dass dieser Krieg absolut notwendig sei, um eine ›humanitäre Katastrophe‹ abzuwenden. Eben dies scheint seit langem zweifelhaft.« Ausnahmsweise sei daran erinnert: Über 15.000 GewerkschaftskollegInnen äußerten in einem Aufruf der Redaktion dieser Zeitschrift, auf Betriebs- und Gewerkschaftsversammlungen, Protestkundgebungen und in bezahlten Zeitungsanzeigen bereits vor einem Jahr massive Zweifel an den offiziellen Versionen über die Notwendigkeit des NATO-Krieges. Damals hatte der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte das völkerrechtswidrige Kriegsabenteuer entgegen eindeutiger gewerkschaftlicher Beschlusslagen aktiv unterstützt und es waren mit dem Außenminister Fischer und dem Kriegsminister Scharping Repräsentanten linker Parteien, die sich um die Täuschung der bundesdeutschen Öffentlichkeit Verdienste erworben haben. Zurecht wird in der FAZ – ein Jahr später – festgehalten: Scharping hat »entweder die Informationen seines Ministeriums nicht richtig verstanden, oder er hat sie bewusst irreführend wiedergegeben... Wenn Scharping so weiter macht, kann man ihn bald mit ... jenem islamischen Till Eulenspiegel verwechseln, der einmal gefragt wird, wie alt er sei: ›Vierzig Jahre‹ antwortet er. Darauf wird ihm vorgehalten, dass er vor drei Jahren schon einmal dasselbe geantwortet habe: ›Ja‹, erwiderte Nasreddin Hodscha, ›ein Mann, ein Wort!‹«

Ein kleines Detail mag dies veranschaulichen. Während des Krieges wurde hartnäckig geleugnet, dass die alliierten Streitkräfte urangehärtete Munition einsetzen. Jetzt hat die NATO eingeräumt, dass man 39.000 Granaten verschossen habe. Von einer partiellen Verseuchung und entsprechender Strahlenbelastung wollen die NATO-Instanzen offiziell nach wie vor nicht sprechen. Allerdings hat die Bundeswehrführung medizinische Sonderuntersuchungen für ihre Besatzungstruppen angeordnet. Der Volksmund behauptet: Jede Bevölkerung hat die Regierung und politische Klasse, die sie verdient. Gleichwohl: solche »Interpretationskünstler« wie Schulte, Fischer und Scharping brauchen wir nicht. Leider ist das traurige Kriegs-Kapitel noch längst nicht abgeschlossen. Der Europäische Rat in Lissabon hat die militärische und wirtschaftliche Stabilität auf dem Balkan erneut zur strategischen Priorität erklärt, ohne sich jedoch zu einer langfristigen Entwicklungs- und Unterstützungspolitik der Balkanstaaten durchzuringen. Zur bitteren Wahrheit gehört: Weder in den europäischen Ländern noch in den USA gibt es tragfähige Konzeptionen zur Regelung des endgültigen Status des Kosovo. Ein multiethnisches, demokratisches Zusammenleben ist nicht in Sicht, trotz beträchtlicher Unterstützungszahlungen für den westlichen Balkan – allein die EU und ihre Mitgliedsstaaten beziffern die Aufwendungen seit 1991 auf rund 9 Milliarden Euro. Auch die Hoffnung auf einen baldigen Politik- und Personalwechsel in der Restrepublik Jugoslawien macht die politische Perspektivlosigkeit deutlich. Die rot-grüne Regierungskoalition hat das politische Desaster auf dem Balkan nicht angerichtet, aber sie trägt für den Krieg und die aussichtslose Lage die Verantwortung.

Nach dem Betreten militärischen Neulands auf dem Balkan macht sich Rot-Grün gegenwärtig daran, ein neues Kapitel in der Wirtschaftsgeschichte aufzuschlagen. Mit der steuerlichen Freistellung von Veräußerungsgewinnen räumt sie ein wesentliches Hindernis für den Siegeszug der Shareholder value-Orientierung aus dem Weg. Das Kapital und die Vermögensbesitzer feiern dieses unverhoffte Steuergeschenk als Startschuss für eine beschleunigte Transformation der Deutschland AG: Der großflächige Umbau der bundesdeutschen Unternehmensnetze kann ohne Abzüge für das Gemeinwohl über die Bühne gehen. Die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) der SPD mag hoffen, über ihren neuen Vorsitzenden Schreiner noch Rücksicht auf die Interessen der Lohnarbeit einfordern zu können, faktischen Vorrang haben die Kapitaleigentümer. Diese lassen bekanntlich ihr Geld »arbeiten«, und jene, die selbst arbeiten müssen, haben das Nachsehen, weil ihre Gegenmachtpositionen (Betriebsräte, Mitbestimmungsrechte, Tarifverträge) erheblich unterminiert sind. Während die rot-grüne Regierungskoalition ein kapitalmarktfreundliches »Übernahmegesetz« vorbereitet – das Kleinaktionäre, nicht jedoch Belegschaften schützen soll –, dürfte die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes bestenfalls kleinere Verbesserungen, nicht aber eine nachhaltige Stärkung der organisierten Lohnarbeit bringen. Und da die Gewichtsverlagerung zugunsten der Kapital- und Vermögenseinkommen vermeintlich nicht aufzuhalten ist, ist es nur konsequent, wenn die rot-grüne Regierungskoalition über einen passenden Umbau des Systems der sozialen Sicherung nachdenkt. Wer bislang kein Vermögen aufgeschatzt hat, soll – steuerbegünstigt – zum Aufbau einer kapitalgedeckten Alterssicherung animiert werden. Der neue Fraktionschef der CDU/CSU, Merz, sinnt bereits öffentlich darüber nach, dass das normale Rentenalter über kurz oder lang auf 70 Jahre heraufgesetzt werden muss.

»Alle Macht den Aktionären« lautet das Motto zur Umgestaltung der bundesdeutschen und europäischen Gesellschaftsordnung. Mitbestimmung und Machtbalance sind in den Unternehmen nicht mehr gefragt, weil die Aktionäre – die vermeintlich neue Mehrheit der Bevölkerung – das Sagen haben. Auch wenn auf Seminaren und Tagungen immer noch die Chancen und Gefahren von Co-Management von Betriebsräten und Gewerkschaftern dekliniert werden, die Verschiebung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zugunsten des Kapitals kann als Entwicklungstendenz nicht übersehen werden. Entgegen den rot-grünen Utopien überwiegen die Schattenseiten des Shareholder-Kapitalismus: Die Veränderung der Arbeitswelt zwingt mehr und mehr Menschen in »gebrochene Erwerbsbiographien«. Soziale Sicherheit wird klein geschrieben. Die neue Klassengesellschaft zeigt sich im Gesundheitswesen, bei der Bildung, im höheren Lebensalter etc. Auf Jahreshaupt- und Festversammlungen klagt Bundeskanzler Schröder über die Moderne: »Die rasanten Veränderungen, die mit dem Stichwort ›Globalisierung‹ einhergehen, die tiefgreifenden Brüche auf den Arbeitsmärkten erschüttern und verunsichern die Menschen in ihrem Alltag.« (Süddeutsche Zeitung, 24.3.2000) Er ruft dazu auf, Antworten auf die Hoffnungen und Ängste zu suchen und fordert eine lebenswerte Gesellschaft ein. Im Regierungsalltag trägt er das Nötige dazu bei, dass die Veränderungen auf den Kapitalmärkten und in der Arbeitswelt treibhausmäßig beschleunigt werden. Kommt die rot-grüne Regierung mit der Mischung aus Desinformation, politischer Sonntagspredigt und Heuchelei über die nächsten Wahlen?

Die Regierungskoalition geht davon aus, dass der »Spendensumpf« eine schwerwiegende Legitimationskrise bei den Christdemokraten hinterlassen hat. Sicherlich wird die CDU noch viel Kraft aufwenden müssen, um die personellen und finanziellen Folgewirkungen der rechtswidrigen Spendenpraxis zu überwinden. Entscheidender für die Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wird freilich sein, welche programmatischen Erneuerungen sich in der christdemokratischen Volkspartei durchsetzen. In Sachen Deregulierung und Steuerreform hat sich die Regierungskoalition so stark auf die Kapital- und Vermögensinteressen zubewegt, dass die Union bereits zur offenen Kritik der Wirtschaftsverbände wegen deren Nähe zum politischen Gegner übergegangen ist. Auch außen- und sicherheitspolitisch bietet die Regierung wenig Reibungsflächen, weil in der Folge des Kosovo-Krieges die geforderte Um- und Aufrüstung des europäischen Militärpotenzials von den Bündnisgrünen und der Sozialdemokratie voll mitgetragen werden. Würden sich CDU und CSU in dieser Konstellation auf eine Kritik des Projekts Europa, mehr Nationalismus und die Verteidigung der bürgerlichen Wert- und Familienordnung abdrängen lassen, wäre die strukturelle Hegemonieschwäche des bürgerlichen Lagers gewiss. In der FDP sind bereits strategische Optionen erkennbar, die angesichts einer solchen Entwicklung für eine Annäherung an die Sozialdemokratie plädieren. Der Vorsitzende der NRW-CDU, Rüttgers, versucht mit einer rechtspopulistischen Argumentation Punkte zu machen. Kritische Töne gegen die Förderung der Shareholder value-Philosophie oder gegen eine Öffnung des bundesdeutschen Arbeitsmarktes für Spezialisten – green card für hochqualifizierte EDV-Fachleute – dürften politische Resonanz haben.

Auch bei günstigen Konjunkturaussichten hat der Kurs der Sozialdemokratie noch keineswegs jene Stabilität, die sich das Führungspersonal erhofft. Wer für Chancengerechtigkeit wirbt, für Teilhabe und Teilnahme möglichst aller am Haben und Sagen, kann nicht zulassen, dass infolge des Umbaus der Unternehmensnetze und der Deregulierung des öffentlichen Sektors größere soziale Gruppen von der gesellschaftlichen Entwicklung und der Beteiligung am gesellschaftlichen Reichtum ausgegrenzt werden. Vor allem bei den Grünen muss sich in den NRW-Wahlen zeigen, ob der Prozess der Auswechslung eines Teils der WählerInnen abgeschlossen ist, und die angestrebte Auswechslung des Führungspersonals neue Chancen eröffnet.

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