1. Juli 2004 Redaktion Sozialismus

Aufklären – Debatte – Aktion

Die SPD wickelt sich selbst ab. Die Ausbildungsplatzumlage sollte ein Signal für eine Re-Sozialdemokratisierung der Politik werden. Dass sie nun einkassiert wird, ist ein Fanal regierungspolitischer Trostlosigkeit. Wenn man sich nach über fünf Jahren nicht eingehaltener Unternehmerversprechen – eine halbe Million Jugendliche, die ohne berufliche Ausbildung auf eine bestenfalls miserable, diskontinuierliche, kaum existenzsichernde Randlage im Erwerbssystem verdonnert sind – mit einer bloßen Absichtserklärung der Kapitalseite zufrieden gibt, muss der Einfluss der wirtschaftlichen Elite schon gewaltig sein.

Der Zorn über eine immer zynischere Umverteilungspolitik wächst an. Trotz massenwirksamer Aktionen darf aber nicht übersehen werden, dass große Teile der Bevölkerung nach wie vor der Rhetorik und den Symbolen neoliberaler Politik folgen. Andere haben sich aus der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung "abgemeldet" – sei es aus Resignation, Ohnmachtgefühl, empfundenem Mangel an Alternativen und Durchsetzungsperspektiven. Nichtwähler können nicht umstandslos oder mehrheitlich zu Sympathisanten der politischen Linken im weitesten Sinne umgewidmet und für die politischen Auseinandersetzungen der kommenden Monate reaktiviert werden.

Die Zunahme sozialer Ungleichheit, die fortschreitende Zerklüftung der Lohnarbeitsgesellschaft, macht oppositionelle Kräfte, die sich für soziale Gerechtigkeit und die Überwindung der Massenarbeitslosigkeitsgesellschaft einsetzen, zunächst einmal nicht stärker. Gewerkschaften können Arien davon singen. Die Krise der Parteiendemokratie droht sich zu einer Krise der Großorganisationen generell auszuwachsen, und vor allem Gewerkschaften sind allem Protest zum Trotz in der Gefahr, für sozialdemokratische Zumutungen haftbar gemacht zu werden. Die Mitgliederverluste sind nicht gestoppt, sondern haben sich im vergangenen Jahr noch verstärkt. Welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind, ist heftig umstritten. Nur drei Schlaglichter:

  Nicht wenige betriebliche Interessenvertretungen – wenn man so will: die soziale Basis der Gewerkschaft – verstehen sich als Moderator, wenn nicht gar als Promoter der "Modernisierung". Kein Wunder: Auf ihnen wirkt der Druck der Arbeitslosigkeit, wird "concession bargaining" betrieben, werden Standortsicherungsvereinbarungen mit Lohnsenkungen und Arbeitzeitflexibilisierungen geschlossen, um den Arbeitsplatzabbau etwas zu bremsen. Mit einem defensiven Betriebskorporatismus wird man das politisches Mandat aber nicht lange ausreizen können.

  Umfragemehrheiten gegen Maßnahmen der Agenda 2010 sind noch lange keine Mehrheiten für eine fortschrittliche soziale Politik. Das neoliberale "Einheitsdenken" wirkt fort: als Lohnnebenkostendebatte zum Beispiel über einen unbezahlbar gewordenen Sozialstaat. Gar nicht immer als verfestigte Überzeugungen, oft mit viel Unsicherheit behaftet: Können wir uns angesichts der Alterung der Gesellschaft wirklich noch ein sozialstaatliches Rentensystem erlauben?

  Ist das historische Bündnis zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie in die Brüche gegangen? Etliche halten ein "Ja" für voreilig, wie wolle man sonst Politik noch beeinflussen? Andere setzen verstärkt auf politische Autonomie, auf kräftiger werdende zivilgesellschaftliche Bündnisse. Und schließlich gibt es Initiativen zur Gründung einer neuen Linkspartei – nicht als gewerkschaftliche Inszenierung, aber perspektivisch als politischer Bündnispartner. Die Strategiediskussion hat gerade erst begonnen.

Was tun? Eine Antwort ist das "Arbeitnehmerbegehren für eine soziale Politik" (www.arbeitnehmerbegehren.de). Diese von der IG Metall initiierte Kampagne wird – z.T. mit wortidentischen Aufrufen, z.T. mit modifizierten Forderungen, z.T. mit standortkorporatistischen Begründungen wie bei der IG BCE – von allen Gewerkschaften und etlichen sozialen Bewegungen und Initiativen unterstützt.

Die Zahl der Unterschriften, die bis zum Herbst zusammenkommt, ist letztlich nicht entscheidend, und noch weniger bedeutsam wird sein, wem sie als Ausdruck des Protestes gegen eine Politik sozialer Gnadenlosigkeit übergeben werden. Es geht nicht um ein gewerkschaftlich gewendetes Modell von Schülermitverwaltung – politisch korrekt, nett, gemeinschaftskundetauglich. Der entscheidende Punkt heißt: Aufklärung und Aktivierung, um die politisch verordnete Entmündigung und Resignation zu sprengen. Das gelingt, wenn über die Kritik "Politik der Entpolitisierung" (Bourdieu) hinaus, eine Debatte über Alternativen zustande kommt und – weiter vorausgedacht – Konturen eines neuen, nicht marktfixierten Regulationsmodells deutlich werden. Wenns gut geht, geht’s auch um diese Perspektiven!

In den Auseinandersetzungen mit der Agenda 2010 haben sich in den letzten Monaten politische Schwerpunkte und Alternativen für eine soziale Politik ergeben. Diese werden von zivilgesellschaftlichen AktivistInnen breit getragen – strategische Bündnisse zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen/Verbänden können auf dieser Grundlage gefestigt und ausgebaut werden. Der gewerkschaftspolitisch entscheidende Schritt muss aber in den Betrieben und Verwaltungen erfolgen. Das Arbeitnehmerbegehren ist dann erfolgreich, wenn es gelingt, die Debatte um wirtschafts-, beschäftigungs-, steuerpolitische und sozialstaatliche Alternativen auf Betriebsversammlungen, in Teambesprechungen, am Arbeitsplatz, in der Kantine zu führen – und natürlich in den Verwaltungsstellen, in Seminaren usw. Die Gewerkschaft muss sich auf der betrieblichen Ebene als Reformakteur erweisen, um sich auch als gesellschaftliche Reformkraft profilieren zu können. Die Medien, die heutzutage für die Gewerkschaften nahezu versperrt sind, sind so gut (oder eben etwas schlechter) wie der gesellschaftliche Alltag. Die Klage, dass Alternativen in der medialen Öffentlichkeit kein Gehör finden, mündet oft in resignativer Ohnmacht. Gewerkschaften können aber dazu beitragen, in ihren Kernfeldern – dort, wo sie anerkannt sind – Gegenöffentlichkeit zu schaffen.

Die Politik in die Betriebe, Verwaltungen und öffentliche Orte tragen – das ist nicht etwas, was man einfach administrieren könnte. In der Vergangenheit ist eine derart in die Tiefe der Organisation reichende Aktivierung und Mobilisierung außerhalb von Tarifbewegungen (bzw. über deren Normalität hinaus) nur sehr selten gelungen: in den 1980er Jahren im Zusammenhang mit der 35-Stunden-Woche und der Änderung der Streikgesetzgebung. Das Arbeitnehmerbegehren wird zeigen, wie weit die verschiedenen Strömungen innerhalb der Organisation noch an einem Strang ziehen – denn ohne eine entschlossene Willensbekundung der politischen Funktionäre (im emphatischen Sinne des Wortes) wird es nicht gehen.

Die Qualität der Diskussion wird auch an der Kritik der einzelnen Forderungspunkte ablesbar sein: z.B., dass auf die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung verzichtet wurde, oder dass die Europäisierung von Unternehmensansiedlungen, Sozialabbau und Politik – allen Mahnungen der Europäischen Aktionstage zuwider – ausgespart ist. Aber das lässt sich nachtragen, wenn tatsächlich Diskussion zustande kommt.

Und schließlich wird man den Erfolg des politischen Projekts Arbeitnehmerbegehren daran messen können, dass sich die Gewerkschaften selbst verändern. Zum Beispiel in dem Punkt, tatsächlich mit und auch für die arbeitslosen KollegInnen zu kämpfen: nicht nur gegen die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen der Hartz IV-Gesetze, sondern auch gegen die Herausdrängung von mehr als einer halben Million Langzeitarbeitsloser aus dem Leistungsbezug und die Abspeisung der noch leistungsberechtigten Arbeitslosenhilfebezieher mit Sozialhilfe. Die Gewerkschaften könnten in einem politisch aktiven Sinne werden, was sie heute faktisch bereits sind: der größte Arbeitslosenverband, nicht am Rande, sondern in der Arbeitnehmergesellschaft. Mehr noch: Altersarmut findet doch in den Gewerkschaften statt – inmitten der vielen nicht mehr erwerbstätigen Mitglieder. Auch hier geht Bündnispolitik außerhalb der Organisation mit Aktionseinheit in den eigenen Reihen einher und würde dadurch eine höhere Qualität und größere Wirksamkeit erreichen.

Das Arbeitnehmerbegehren ist ein bündnispolitisches Kooperationsangebot. Klappt es zwischen den Gewerkschaften, könnte eine politische Verständigung dabei herauskommen, bei der auch die Rolle des DGB – der zu oft als Moderator oder Schlichter, weniger als dezidierter Interessenvertreter in Erscheinung tritt – im politischen Feld neu abgesteckt wird. Und wirkt das Kooperationsangebot in die Gesellschaft hinein, könnte auch das Verhältnis von Gewerkschaften und sozialen, globalisierungskritischen Bewegungen auf neue Grundlagen gestellt werden: offen, den Eigensinn und die unterschiedliche politische "Kultur" der jeweiligen Initiativen und Organisationen respektierend, ohne falsche "Führungsanspüche", gleichsam "auf gleicher Augenhöhe".

Die Zeit der papiernen Protestnoten und des enervierenden Parteilobbyismus ist abgelaufen. Gewerkschaften – nicht alle – sind Träger zivilgesellschaftlichen Protests geworden. Das Arbeitnehmerbegehren kann ein nächster Schritt sein: die Politisierung der betrieblichen Basis, die Perspektive dessen, was man früher einmal als "relative innere Klasseneinheit" bezeichnet hatte, und was heute als Aufgabe der Herstellung einer neuen Solidarität in einer neoliberal zerbrechenden Arbeitnehmergesellschaft beschrieben werden könnte. Eine erfolgreiche Aufklärungskampagne über die falsche und sozial ungerechte Politik der rot-grünen Regierungskoalition, über das Bedrohungspotenzial der Knallhartvariante der Parteien des bürgerlichen Lagers (CDU, CSU, FDP) und über realistische und sozial gerechte Alternativen – das wäre ein wichtiger Meilenstein gegen Resignation und Ohnmacht, gegen eine zunehmend verselbständigte politische Klasse, für die Verbreiterung einer Protestkultur, für die Wiederaneignung der Politik durch die sozialen Kräfte der Zivilgesellschaft.

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