1. März 2009 Karl Georg Zinn

Augen zu und durch?

Unorthodoxe Wirtschaftswissenschaftler verstehen die Große Krise als Folge einer mindestens 30-jährigen "Fehlentwicklung" – als das Ergebnis der neo­liberalistischen Wirtschaftspolitik, die die Mehrzahl der OECD-Länder praktiziert hat. Wenn über eine so lange Zeit ein falscher Kurs gesteuert wurde, ist auch der Zeitbedarf für die Rückkehr in ruhiges Fahrwasser entsprechend hoch.

Interventionistische Notstandsmanöver können nicht mehr bewirken als eine Kurskorrektur, sofern denn die Schiffsführer Kompass und Karten richtig lesen. Daran werden erhebliche Zweifel laut, aber auch die Kritiker können kaum mehr leisten, als auf gewisse Widersprüche im Maßnahmenpaket hinzuweisen – etwa die Mitnahmeeffekte bei Subventionen, auf das Risiko einer weiter steigenden Sparquote infolge von Steuersenkungen im höheren Einkommensbereich, auf erhebliche zeitliche Wirkungsverzögerungen verschiedener Maßnahmen –, aber es wird offenbar keine politisch praktikable Möglichkeit gesehen, die abwärts donnernde Lawine zu stoppen. Die kontroversen Ansichten über die aktuelle Krisenpolitik betreffen somit vorwiegend Detailfragen, ohne dass der Blick über die kurzfristige Krisenentwicklung hinausreicht. Es sieht nach einer allseitigen Denkblockade aus. Über die mittel- bis langfristige Entwicklung wird kaum debattiert, und gelegentlich kommt gar der Eindruck auf, dass sich auch linke Wirtschaftsexperten fürchten, in die Kassandrarolle zu geraten. Psychologisch verständlich ist diese Scheu, den Arbeitslosen von morgen schon heute zu sagen, dass die Krise erst am Anfang steht.

Allgemein sieht es nach Verweigerung aus, sich mit Prognosen zu befassen, und es bleibt bei zweckoptimistischen Vermutungen, dass hinter der Nebelwand, vor der zu stehen die Manager achselzuckend zugeben, ein neuer Aufschwung kommen könnte – vielleicht. Sicher ist allerdings, dass es der Politik bisher darum zu tun ist, das "System" zu stabilisieren, Wachstum zu regenerieren und auf den alten Weg zurückzukehren, nachdem einige Schlaglöcher ausgebessert wurden. Keiner wagt einen Zeitpunkt für das Ende der Krise zu artikulieren, aber alle glauben, dass es bald ein Ende geben wird. Deshalb gibt es auch keine Pläne B, C, D etc. für den Fall, dass sich die Krise fortschleppt, und dass sich in diesem Fall Staaten bankrott erklären müssen – bankrott in ihrem Bemühen, mit Interventionen und steigenden Schulden eine chronische Krankheit zu heilen, die sich über drei Jahrzehnte hinweg ständig verschlimmerte und womöglich nicht mehr zu heilen sein wird.

Die Große Krise ist kein isoliertes Ereignis, sondern "nur" ein besonders heftiger Anfall in einem langen, anhaltenden Siechtum. Die vorhergehenden Krankheitsattacken – die internationalen Finanzkrisen von der Mexikokrise (1982) bis zur Ostasienkrise (1997), die New-Economy-Blase, die dauerhafte Wachstums- und Beschäftigungsschwäche, die gewachsenen Zahlungsbilanzungleichgewichte – gehören alle zu dem Gesamtphänomen einer "30-jährigen Krise" seit 1980 bis heute. In dieser Zeit fand ein fundamentaler Wandel vom "alten" Kapitalismus der Produktion von Mehrwert zum vordringenden Finanzkapitalismus der produktionslosen Profitvermehrung statt. Aus Geld mehr Geld zu machen, ohne dazu noch Produktion (Beschäftigung) zu organisieren, ist das Erfolgsrezept des "neuen" Kapitalismus (gewesen). Das noch verbliebene reale Wachstum wurde in steigendem Maße von der kumulierenden Verschuldung privater Haushalte, der Unternehmen und der Staaten abhängig. Im Unterschied zur produktiven Verschuldung der weiter zurück liegenden Vergangenheit, bei der Kredite zur Finanzierung von Investitionen dienten, die Erträge brachten, aus denen die Schulden bedient wurden, kam es in der 30-jährigen Episode des neuen Finanzkapitalismus seit Ende der 1970er Jahre zu einer Expansion unproduktiver Verschuldung. Das ist zwar eine Sackgasse, die nicht auf einen neuen Wachstumspfad führt, aber das Ende der Sackgasse ist noch nicht erreicht; die private Verschuldungsorgie wird jetzt von der staatlichen abgelöst. Das funktioniert eine gewisse Zeit lang, aber was kommt dann?

Die globale Wirtschaftsstruktur wurde auf die durch Schulden erzeugte Nachfrage ausgerichtet. Die Pseudoprosperität der Schuldenökonomie hinterlässt immense Strukturprobleme, und strukturelle Fehlentwicklungen sind weder kurzfristig reversibel zu machen, noch lassen sie sich ohne definitiven Abbau der Überkapazitäten und Vernichtung von Finanzkapital (= "toxische" Produkte von Banken und sonstigen Anlegern) beenden. Der Tiefpunkt der Großen Depression nach 1929 wurde erst nach drei Jahren erreicht, und letztlich überwunden wurde die Krise erst nach 1939.

Bis zum Termin der Bundestagswahl im September 2009 werden auch die eloquentesten Zweckoptimisten und Zuversichtsrhetoriker beiderlei Geschlechts ihr Pulver verschossen haben. Die Krise lässt sich nicht harmlos reden, sie wird noch für erhebliche Überraschungen sorgen. Bleiben alle Mitglieder der Europäischen Währungsunion bei der Stange? Eskaliert der versteckte Protektionismus zum offenen "Rette-sich-wer-kann"? Kommt es zu einer kleinen Revolution bei der Europäischen Zentralbank, die dann einen Teil der staatlichen Schulden übernimmt? Erweist sich schließlich eine Art staatlich gelenkter Notstandswirtschaft als erforderlich? Nach drei bis vier Monaten weiterer Hiobsbotschaften wird alles noch ganz anders aussehen, und dann sind auch politisch völlig neue Entwicklungen möglich. Lassen wir der Phantasie nur ein wenig freien Lauf.

Könnte es nicht sein, dass die New-Labour-SPD sich wieder auf ihre Tradition besinnt, sich von ihrer neoliberalistischen Verschröderung abkehrt und statt weiterhin im Kapitalismus neuer Art ein Zukunftsmodell zu sehen, erneut Reformen im Interesse der breiten Mehrheit voran zu treiben beginnt. Damit könnte der immense Vertrauensverlust der deutschen Sozialdemokratie als trauriger "Unfall" auf dem historischen Weg dieser einstmals linken Partei relativiert werden. Das wäre sogar für die ausgebufften Wahlopportunisten eine Option. Für erfolgreiche Reformen gibt es anschauliche Vorbilder – in Skandinavien. In Schweden herrschte bis 1990 Vollbeschäftigung, und die tiefe Wirtschaftskrise zwischen 1990 und 1995 wurde erstaunlich rasch überwunden – nicht trotz, sondern wegen des hohen Staatsanteils und der hohen Steuerquote, der auch die minimale Staatsverschuldung Schwedens zu verdanken ist. Die Rückkehr der SPD in Regionen deutlich links von der Mitte hätte wohl auch eine Katalysatorwirkung auf die deutschen Gewerkschaften. Sie könnten ihre internen Differenzen über eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik überwinden und nach außen wieder als vereinte Kraft auftreten. Damit würde die aus den internen Widersprüchen und der zerfaserten Außendarstellung der Organisationen der arbeitenden Bevölkerung resultierende Schwäche überwunden.

Naive Überlegungen? Vielleicht. Doch die Krise hat bereits manches noch vor wenigen Monaten Unvorstellbares Realität werden lassen, und warum sollten nicht auch noch politische Veränderungen eintreten, die sich frau/man vor dem September 2008 auch in ihren sprichwörtlich kühnsten Träumen nicht auszumalen vermochte. Der Partei DIE LINKE käme solche Art "Re-Normalisierung" der bundesdeutschen Bewusstseinslage vermutlich zugute, denn die Hessen-Wahl im Januar 2008 zeigte, dass es keine stabilen Mehrheiten für weit rechts von der Mitte gibt.

Wem solche Gedankenspiele müßig erscheinen, wird wohl zu der Ansicht neigen, die Große Krise ließe sich in einem anstrengenden Kurzstreckenlauf bewältigen. Die Geschichte wird zeigen, wer zu spät gekommen sein wird.

Karl Georg Zinn ist emeritierter Hochschullehrer der Volkswirtschaftslehre der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Von ihm erschien zuletzt "Die Keynessche Alternative. Beiträge zur Keynesschen Stagnationstheorie, zur Geschichtsvergessenheit der Ökonomik und zur Frage einer linken Wirtschaftsethik" (Hamburg 2008).

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