1. Mai 2003 Redaktion Sozialismus

Ausgrenzung als Strategie

Der Führungszirkel der deutschen Sozialdemokratie entwickelte eine Konzeption: Im Schatten des us-britisch-spanischen Irak-Krieges eröffnet der deutsche Kanzler die Generalmobilmachung gegen soziale Erstarrung an der Heimatfront. Dem zu internationaler Größe aufgestiegenen Alt-Europäer würde man die Unumgänglichkeit von Kampfhandlungen im Inneren schon abkaufen. Doch der Aufmarschplan für die Operation Agenda 2010 geriet gehörig durcheinander. Ein Landesverband nach dem anderen forderte ein Moratorium, Kanzlergetreue wechselten die Fronten. Binnen Tagesfrist musste von "Basta" auf Sonderparteitag umgeschaltet werden.

Die Schuldigen sind schnell ausgemacht: die "harte Linke", die "Ewiggestrigen", die "Betonfraktion", die "Gewerkschaftsgetreuen". Am Rand der Handlungs- und Regierungsfähigkeit wähnt Müntefering die SPD. Der parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion sieht sich an das Ende des Kanzlers Schmidt erinnert, den Heckenschützen aus den eigenen Reihen zu Fall gebracht hätten. Dolchstoßlegenden haben Konjunktur, als wären die, die in der SPD-Linken noch übrig geblieben sind, verantwortlich für eklatante Wahlniederlagen und für die Auszehrung der Partei. Es sind langjährige Mitglieder und immer häufiger gestandene, ehrenamtliche Mandatsträger, die auf die Frage, was Schröders "Agenda 2010" eigentlich noch vom Kurs der rechtsbürgerlichen Opposition unterscheide, keine befriedigende Antwort mehr erhalten und in die innere Immigration gehen, wenn sie der Partei nicht gleich den Rücken kehren. Eine Woche vor dem Sonderparteitag wird in Bremen eine neue Bürgerschaft gewählt; um nicht wie in Hessen abzustürzen, haben die GenossInnen von der Weser darum gebeten, keine personelle "Unterstützung" von Seiten der Berliner Parteiprominenz zu erhalten.

Ein Roll Back zu Old Labour wittert die Presse von der FAZ bis Spiegel hinter dem Mitgliederbegehren – und stellt die Verhältnisse damit ein weiteres Mal auf den Kopf. Seiner Substanz nach war der "Dritte Weg" eine Integrationsstrategie. "Im ›Dritten Weg‹ wird eine Sozialpolitik der ›Inklusion‹ vorgeschlagen, wobei Inklusion als Chancengleichheit plus öffentliche Mitsprache definiert wird. Damit soll der persönlichen Freiheit Rechnung getragen werden, die in der ›alten Sozialdemokratie‹ mit ihrem Gleichheitsideal zu kurz kommt."[1] Man kann darüber streiten, ob diese programmatische Orientierung jemals Leitlinie der Regierungspolitik von Gerhard Schröder geworden ist. "Öffentliche Mitsprache" war immer mehr das Streben nach gekonnter medialer Inszenierung und nach Installierung eines außerparlamentarischen tripartistischen Korporatismus. Und was das "Gleichheitsideal" anbelangt, hatte Wolfgang Clement von vornherein den besseren Riecher. Gleichheit nicht im Ergebnis, sondern in den Ausgangsbedingungen hatte der verkündet. Legitimiert wird dadurch soziale Spaltung als vermeintliches Ergebnis individueller Leistung.

Die "Inklusions"-Strategie hing so von vornherein in der Luft. Dass sie nicht sogleich herab stürzte, lag an den besonderen Bedingungen Ende der 1990er Jahre. Nicht nur die Berliner, sondern die gesamte europäische Sozialdemokratie sah in der New Economy den Beginn einer neuen Prosperitätskonstellation. Gelänge es, im Wettlauf in die "Wissensgesellschaft" in der Konkurrenz mit den USA und Südostasien die Nase vorn zu haben, würde massenhafte Arbeitslosigkeit bald zu einem Fremdwort und Fachkräftemangel zur neuen Gegenwartsbedrohung werden ("Lissabon-Strategie"). Dieser Traum endete im Frühjahr des Jahres 2000. Seitdem steckt die kapitalistische Welt in einer Krise, die die politische "Elite" – ob rechtsbürgerlicher oder sozialdemokratischer Provenienz – drei Jahre lang erfolglos dadurch versucht hat zu therapieren, dass in Halbjahresabständen Aufschwungparolen verkündet wurden.

Es war wohl die Verabschiedung von eigenen Illusionen, die Schröder als "Zäsur" oder – gemeinsam mit Clement – als Notwendigkeit eines "zweiten Godesberg" verarbeitet. "Wenn sich die wirtschaftliche Basis einer Gesellschaft so radikal verändert, kann man nicht so tun, als hätte das keine Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Überbau",[2] hält der Kanzler seinen Kritikern vor. Realitätstüchtige Politik heißt für Schröder, Sozialtransfers und öffentliche Dienstleistungen (Überbau) zu kappen, um Kapital- und Vermögensbezieher (Basis) zu entlasten, damit diese wieder akkumulieren. Dabei nimmt er Abschied vom "Dritten Weg". Nicht mehr Inklusion, sondern Exklusion ist die Substanz der "Agenda 2010". Durch Ausgrenzung von Arbeitslosen aus dem Bezug von Lohnersatzleistungen, durch Deregulierung des Kündigungsschutzes, durch Ausweitung und Verfestigung von prekären Niedriglohnverhältnissen, durch fortschreitende Privatisierung von Gesundheitsdienstleistungen und Kapitalisierung der Rentenversicherung. Exklusion findet aber auch bei den ökonomischen und gesellschaftlichen "Eliten" statt, die von der Finanzierung des Gemeinwesens in zunehmendem Maße freigestellt werden, obgleich sie dessen soziale und materielle Infrastruktur (Realtransfers) überdurchschnittlich in Anspruch nehmen. Auch diese Abkehr von einer Politik, die die wirtschaftlichen Eliten in die gesellschaftliche Verantwortung nimmt, ist ein weiterer Schritt zur Aushöhlung demokratischer Strukturen des Gemeinwesens.

"Das wichtigste Ziel von Gerechtigkeitspolitik ist die Überwindung von Arbeitslosigkeit", betont Wolfgang Thierse.[3] Doch wie das bewerkstelligt werden soll, weiß der stellvertretende SPD-Vorsitzende nicht zu sagen: "Von keinem der Instrumente, die wir vorschlagen, können wir genau sagen, ob und in welchem Umfang es erfolgreich sein wird." Da streicht man Bedürftigen die Sozialtransfers und demontiert soziale Rechte, die ein wenig Lebenssicherheit beschert haben, ohne zu wissen, ob neben der Ausweitung existenzieller Armut irgendein positiver Effekt damit erzielt wird. Thierse gehört nicht zu der Spezies dynamischer neusozialdemokratischer Zyniker, denen bei Arbeitslosigkeit immer nur Besitzstandsdenken-Lohnnebenkosten-Inflexibilität als Ursachenfaktoren einfällt. Aber welches Maß an Desorientierung prägt die Entscheidungen maßgeblicher Teile der politischen Klasse, wenn einer wie Thierse die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitslose von 32 auf 18 Monate damit rechtfertigt, dass in 60% der Unternehmen keine Arbeitnehmer über 50 Jahren mehr beschäftigt sind? Zweifellos: Unternehmen betreiben auf Kosten der Bundesanstalt für Arbeit Personalpolitik. Doch was ist gewonnen, wenn sie künftig direkt auf Kosten älterer ArbeitnehmerInnen ihre Selektionsstrategien fahren?

Hintergrund für diese enorme Konfusion ist, dass es eine neusozialdemokratische Beschäftigungspolitik zu keinem Zeitpunkt gegeben hat:

Zu einer auch nur in Ansätzen konsistenten Arbeitsmarktpolitik hat es die Regierung nie gebracht. Umgekehrt: Der Anstieg der Arbeitslosigkeit von 1999 bis 2004 um 400.000 auf prognostizierte 4,5 Mio. im Jahresdurchschnitt ist zu großen Teilen hausgemacht. Durch radikale Kürzung der Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik werden im kommenden Jahr nur noch 93.000 Arbeitslose in Beschäftigung schaffenden Maßnahmen sein: minus 337.000 gegenüber 1999. Hinzu kommen 100.000 weniger TeilnehmerInnen in beruflicher Vollzeitweiterbildung. Allein dadurch übertreffen die Kürzungen bereits den Anstieg der registrierten Arbeitslosigkeit.

Arbeitszeitverkürzung – also die Umverteilung von Arbeit – steht nicht auf der Agenda. Selbst die Eindämmung des exzessiven Gebrauchs von Überstunden durch Absenkung der gesetzlich erlaubten Höchstarbeitszeit (unter Kohl auf 60 Wochenstunden heraufgesetzt) gehört nicht zu dem, was neusozialdemokratisch unter "Reform" verstanden wird.

Und was die Stärkung der ökonomischen Basis betrifft, ist bei der Regierung Schröder ebenso Fehlanzeige wie unter Kohl – zumindest dort, wo man direkt Einfluss nehmen kann. Denn "gespart" wird nicht zuletzt durch Streichung öffentlicher Investitionen. Ihr Anteil am BIP ist seit 1999 weiter gesunken – bis 2004 auf 1,5%.[4] Würde diese Quote auf den Wert der USA (3,2% vor der aktuellen Erhöhung der Rüstungsausgaben) angehoben, gäbe es 450.000 Arbeitsplätze mehr.[5]

Realität, die der Kanzler bei seinen Kritikern vermisst, ist, dass die neusozialdemokratische Wirtschaftspolitik nach außen auf eine Strategie des Exports von Arbeitslosigkeit durch Lohn(neben)- kostenkonkurrenz im nationalen Benchmarking setzt, und im Innern neben der Exklusion von sozialen Problemlagen eine Strategie der Refeudalisierung der Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse verfolgt: Umverteilung zugunsten der besitzenden Klassen, damit diese sich mehr Dienstleistungspersonal leisten können. Doch selbst diese Rechnung geht gesamtwirtschaftlich nicht auf.[6]

Die Versprechen, die bei der Umsetzung der "Agenda 2010" gegeben werden, sind wiederholt verkündet worden und heute so realitätstüchtig wie bei früheren Anlässen: Statt den Sozialstaat "unter radikal veränderten Bedingungen zu erhalten" (Schröder), wird Armut und Entrechtung, werden soziale Ängste und Entsolidarisierung vorangetrieben – wovon perspektivisch rechtspopulistische Kräfte profitieren. Doch auch ein Bundeskanzler zieht es vor, Kassandra für das eigentliche Problem zu halten. Gewerkschaften, die sich seiner Politik in den Weg stellen, müssen medial niedergeschrieben und zu politischen Bittstellern degradiert werden. Tony Blair ist diesen "Dritten Weg" nicht ohne machtpolitischen Erfolg gegangen. Ob Schröder ihm dabei folgen kann, hängt letztlich davon ab, ob die innerparteiliche Opposition das Bündnis mit IG Metall, ver.di[7] und IG-BAU wie auch mit den zahlreichen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen sucht, die an der Realitätstüchtigkeit des politischen Kampfes für eine "andere Welt" festhalten.

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