1. Oktober 2002 Richard Detje und Otto König

Autonomie und politisches Mandat

1.
Im europäischen Maßstab und erst recht im Kreis der kapitalistischen Metropolen haben sich die deutschen Gewerkschaften als vergleichsweise stabile Organisationen erwiesen. Sicher, auch sie leiden unter Mitgliederverlusten und es gelingt ihnen nur in bescheidenen Ansätzen, so genannte neue Arbeitnehmerschichten zu gewinnen. Auch sie waren Opfer neoliberaler Deregulierungs- und Privatisierungspolitik. Aber zu keinem Zeitpunkt hatten sie einen Frontalangriff wie in Großbritannien zu überstehen, wurden ihre Hochburgen wie in Italien – man denke nur an Fiat – geschliffen, oder wurden sie wie in Spanien von einem marktradikalen Modernisierungsprozess überrollt.

Trotz Niederlagen wuchs in diesen Ländern der Widerstand: gegen den Abbau des Kündigungsschutzes, gegen verschärfte Zumutbarkeitsregelungen bei Arbeitslosigkeit, gegen Umverteilung, Privatisierung und Verweigerung angemessener gewerkschaftlicher Rechte. Es gibt eine gemeinsame Tagesordnung in Europa, die hinter den konkreten Anlässen der sozialen Kämpfe steht: Es geht um den sozialen Mantel des Arbeitsverhältnisses, um die sozialen Schutzschichten der Lohnarbeit, die durch die Herausbildung eines flexiblen Kapitalismus grundlegend in Frage gestellt sind. Hierin ordnet sich die politische Landschaft der Bundesrepublik ein: Kündigungsschutz, prekäre Arbeit, Niedriglohnsektoren, soziale Rechte auf dem Arbeitsmarkt – das sind Stichworte, die nicht erst durch die Hartz-Kommission überparteilich zum Programm erhoben worden sind.

Und noch eine Gemeinsamkeit soll herausgestellt werden: Mit Ausnahme von Spanien hatten in diesen Ländern in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre Mitte-Links-Regierungen das neoliberale Erbe angetreten. In Deutschland haben die Gewerkschaften ihren politischen Einfluss eindrucksvoll unter Beweis gestellt, indem sie 1998 maßgeblich zum Wahlsieg des rot-grünen Bündnisses beitrugen. Das kann auch gar nicht strittig sein: Gewerkschaften müssen mit der real existierenden Regierungslinken kooperieren. Die Frage lautet allerdings, ob sie offensiv für Arbeit und soziale Sicherheit weiterkämpfen, oder hoffen, den Verzicht auf öffentliche Kritik honoriert zu bekommen. Aus der ersten rot-grünen Legislaturperiode sollte gelernt werden, dass politische Zurückhaltung sich für diejenigen Gewerkschaften nicht auszahlt, die von einem Regierungswechsel auch eine neue Politik erwartet haben.

2.
In Berlin
haben Abteilungs- und Referatsleiter des DGB-Bundesvorstands eine Zwischenbilanz der Politik der linken Mitte vorgelegt, der DGB-Vorsitzende hat ein programmatisches Vorwort beigesteuert.[1] Die Bilanz fällt durchwachsen, in der Einführung des Herausgebers Hans-Joachim Schabedoth jedoch eindeutig aus: »Nicht wenige haben den Eindruck, der mit großen Hoffnungen verbundene Politikwechsel für Arbeit und soziale Gerechtigkeit sei im Geflecht der alltäglichen Regierungsaufgaben und der Zwänge zur Haushaltskonsolidierung stecken geblieben. Man wird darüber weiter streiten müssen. Fest steht jedenfalls, dass sich vier Jahre rot-grüner Regierungspolitik für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelohnt haben.« /23/

Wir halten die genannten Gründe für das, was Schabedoth »Eindruck« nennt, für irreführend. Rot-Grün hat sich nicht einfach nur verheddert (»Geflecht«) oder, wie es an anderer Stelle heißt, an zureichender erotischer Ausstrahlungskraft fehlen lassen. Schon gar nicht sollten sich Gewerkschaften daran beteiligen, Sachzwangmythen (»Zwänge der Haushaltskonsolidierung«) nachzubeten und damit Fatalismus und Entpolitisierung zu fördern. Gerade für die Interessenvertreter der Lohnabhängigen ist es entscheidend, sich in breiten gesellschaftlichen Debatten über politische Veränderungsoptionen zu verständigen und für Umgestaltungsperspektiven zu werben. Wir halten fest: Eine Politik, die für Regierungshandeln Spielräume schafft, indem der Versuch der Regulierung der internationalen Kapitalmärkte unternommen wird, indem »nach unten« umverteilt wird, indem soziale Schutzrechte gerade für prekäre Beschäftigungsgruppen erweitert werden, usw. war 1999 schon nach wenigen Monaten von Rot-Grün nicht mehr zu erwarten. Sparpolitik – und eben nicht aktive Beschäftigungspolitik – wurde zur Zukunftsvorsorge schlechthin erklärt. Wolfgang Scheremet hat Recht, dass der »harte Konsolidierungskurs bei gleichzeitigen Steuerentlastungen für Unternehmen und Bezieher hoher Einkommen .. zu einem dramatischen Rückgang der öffentlichen Investitionen geführt« hat, und damit, dass ohne einen Kurswechsel sich »diese Schieflage in den kommenden Jahren nicht verbessern, sondern eher noch verschlimmern« wird. /42/ Das rot-grüne Regierungsbündnis hat keinen Politikwechsel eingeleitet. Die Gewerkschaften haben allerdings auch keinen öffentlich wahrnehmbaren Druck gemacht, diesen einzufordern.

Auf die Frage, wer die Nutznießer der Politik von Rot-Grün sind, werden an oberster Stelle »die Unternehmer« (2002: 43%/1998: 19%) und »die Reichen« (39/14) genannt. Demgegenüber sehen sich »die Arbeitnehmer, die Angestellten, die Arbeiter« als Verlierer (12/42) ebenso wie »die Geringverdienenden« (9/43) und »die Arbeitslosen« (7/35).[2]

Eine gewerkschaftliche Bilanz, die zugleich »Leitprojekte für die nächste Legislaturperiode« /24/ zur Diskussion stellen will, sollte den Widerspruch zwischen kritischer gesellschaftlicher Erfahrung und rot-grüner Selbstwahrnehmung nicht kleinreden. Derartige Verdrängung könnte einen Glaubwürdigkeitsverlust der Gewerkschaften selbst zur Folge haben. In unübersichtlichen Zeiten, in denen soziale Bedrohungen auch durch traditionelle politische Bündnispartner nicht abgenommen haben, sondern Zukunftsängste anwachsen, müssen Gewerkschaften um Deutungsmacht für sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt streiten. Für eine neue Kultur der Arbeit zu streiten, erwarten wir nicht von den Grünen und auch nicht von der Mehrheitssozialdemokratie – das müssen die Gewerkschaften schon selber tun.

3.
Es geht um Arbeit
und menschliche Würde. Konrad Klingenburg, Referatsleiter für politische Planung beim DGB, sieht die Zukunft der Arbeit vor allem durch Globalisierung und demografische Entwicklung geprägt. Niemand wird dem widersprechen – aber auch hier sollte man ökonomische und soziale Veränderungen nicht unhinterfragt lassen. Denn: »Das Neue am Kapitalismus ist nicht seine Globalisierungstendenz; sie gehört, wie die bürgerliche politische Ökonomie und Marx hinreichend unter Beweis gestellt haben, zur Struktur dieser Wirtschaftsform.«[3] Das Neue an der Globalisierung ist die Deregulierung der Kapitalbewegungen und der Märkte. »All das, was man unter dem ... Begriff der ›Globalisierung‹ fasst, ist keineswegs das Ergebnis zwangsläufiger ökonomischer Entwicklungen, sondern einer ausgeklügelten und bewusst ins Werk gesetzten, sich ihrer verheerenden Folgen allerdings kaum bewussten Politik. Diese Politik ... ist in Wirklichkeit eine Politik der Entpolitisierung«.[4] Politische Planung fängt erst an, wenn man Floskeln wie die, dass Globalisierung »gestaltet« werden müsse, oder dass man »den Anforderungen« der Globalisierung »Rechnung zu tragen habe«, nicht mehr nacherzählt, sondern die »Politik der Globalisierung« vom Sockel der Zwangsgesetzlichkeit herunterholt. Erst das eröffnet Chancen für eine Alfabetisierung der Ökonomie, in der politische Alternativen begründet werden können – also politisch nach vorne gedacht (geplant?) werden kann.

Oskar Negt hat in Anknüpfung an neue Produktionskonzepte einen sehr weitreichenden Begriff von »politischer Arbeit« geprägt, »deren Kooperationsgeist so sehr auf das Ganze bezogen ist, dass von außen kommende Herrschaftsverhältnisse diese Produktionstätigkeit nur noch stören, nicht mehr fördern können.«[5] Man mag das angesichts der Rekonventionalisierung oder der Retaylorisierung von Arbeit für zu weit in die Zukunft geblickt halten. Doch eine Politik der Humanisierung von Arbeit, die ihre Entfremdung zurückdrängen will, hat hier anzusetzen. Klingenberg sollte auch in diesem zentralen Punkt seine Thesen überdenken: Die Freizeit- oder Spaßgesellschaft, die er zitiert, ist ein Nebelbild, instrumentelle Arbeitsorientierung, d.h. Arbeit als »Mittel zum Zweck, um an der Konsum- und Erlebniswelt teilhaben zu können« /78/, kein erfolgversprechender Fundus für eine Politik, die individuelle Befriedigung und soziale Emanzipation zusammenbringt.

Wir heben diesen Punkt nicht zuletzt wegen der eingangs benannten Konvergenz der Kämpfe in Europa für die sozial-solidarische Gestaltung des Arbeitsverhältnisses hervor. Eines der wichtigen »Leitprojekte« für die Gewerkschaften ist die Erneuerung ihrer Arbeitspolitik, um den Anspruch auf »gute Arbeit« gegen marktradikales »Arbeiten ohne Ende« durchzusetzen. Das ist ein zumindest ebenso anspruchsvolles Projekt wie das der »Humanisierung der Arbeit« in der Spätphase des Fordismus. Damals wie heute ist es verknüpft mit dem Anspruch auf Partizipation und Demokratisierung der Arbeitswelt. Das ist neben der Europäisierung der Debatte um Mitbestimmung, die Marie Seyboth hervorhebt, ein entscheidender Aspekt, weshalb bei der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes nicht bei Wahlordnung, Größe und Ausstattung des Betriebsrats stehen geblieben werden darf, sondern der Kampf für die Erweiterung der Mitbestimmungsrechte weiterzuführen ist.

4.
Die Generalvollmacht
aus der Führung großer Einzelgewerkschaften für die Empfehlungen der Hartz-Kommission war wahlkampftaktischer Natur – weder IG Metall noch ver.di sollten kurz vor dem 22. September gegen den SPD-Kanzler in Stellung gebracht werden. Doch wie positioniert sich der DGB nach der Wahl? Johannes Jakob (Referatsleiter Arbeitsmarktpolitik) hat eine klare Position: keine Ausweitung von Niedriglohnjobs und mit weniger sozialen Rechten ausgestatteter Leiharbeit, keine Aushöhlung tariflicher und sozialstaatlicher Standards, keine Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, keine Privatisierung der Arbeitsvermittlung. Ist damit die Widerstandsperspektive des DGB aufgezeigt. Oder meint Michael Sommer im Ernst, durch die 100 prozentige Umsetzung der Hartz-Empfehlungen (»kein Steinbruch« - was auch immer das heißen mag) irgendeinen gewerkschaftlichen Erfolg erringen zu können.

Wir sind uns sicher, dass in diesem Fall gerade unter Arbeitslosen das Glaubwürdigkeitsdefizit der Gewerkschaften noch zunehmen wird. Ebenso wie die Kompetenzprobleme, die beispielsweise in der »Zukunftsbefragung« der IG Metall darin zum Ausdruck gebracht wurden, dass man letztlich auf die Unternehmer angewiesen ist, wenn es um die Schaffung von Arbeitsplätzen geht. Die Hegemonie für ein Mandat Vollbeschäftigung haben die Gewerkschaften nicht. Deshalb sollte es über das Halten der Widerstandslinie hinaus darum gehen, beschäftigungspolitische Kompetenz zu erstreiten. Für Arbeit streiten heißt: für einen radikalen wirtschafts- und finanzpolitischen Kurswechsel zu streiten – und für Umverteilung zu kämpfen! Man muss mit Hans-Joachim Schabedoth nicht über sein Votum für eine Weiterentwicklung des Bündnisses für Arbeit streiten. Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Aber man muss die Auseinandersetzung über die Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums führen, wenn Begriffe wie Zivilgesellschaft und Gemeinwesen künftig noch einmal eine Fortschrittsperspektive markieren sollen. Wenn in einem Buch verantwortlicher DGB-MitarbeiterInnen die Verteilungsverhältnisse aus der Betrachtung herausfallen, muss man ein fortgeschrittenes Stadium ökonomischer Legastenie befürchten. Alfabetisierung tut auch innergewerkschaftlich Not.

5.
Die Erneuerung
der Sozialstaats- (und Arbeitszeit- wie Arbeitsmarkt-)Politik erfordert eine moderne Familienpolitik. Hier hat Rot-Grün unbestritten Erfolge vorzuweisen und – den Ausbau von Ganztagsschulen etc. – noch zu erledigende Aufgaben definiert. Aber auch hier läuft die Politik der Realität hinterher, wie Verena Sauer treffend formuliert. Anders als Oliver Suchy halten wir hingegen die Renten»reform« für den Einstieg in eine privatistische Systemveränderung, so dass umso intensiver zu diskutieren ist, wie ein Wiederholungsfall im Gesundheitssystem durch breitere gesellschaftliche Bündnisse verhindert werden kann.

Auf der Tagesordnung steht die Frage nach der Zukunft des Staates als autoritärer Wettbewerbsstaat oder als ein Emanzipation durch soziale und Freiheitsrechte beförderndes Gemeinwesen. Robert Castel hat nachdrücklich auf den Zusammenhang von Individualismus und Staatsfrage verwiesen. Will man einem antisolidarischen, reaktionären, autoritären Lösungen zuneigenden Individualismus das Fundament entziehen, muss man Perspektiven für einen »strategischen« oder »schützenden« Staat entwickeln, »weil es in einer überaus diversifizierten und vom negativen Individualismus angenagten Gesellschaft keinerlei sozialen Zusammenhalt ohne soziale Sicherungen gibt. Diese Staat müsste seine Interventionen jedoch ganz nah an den Verästelungen der Individualisierung ausrichten.«[6]

Das heißt u.a.: keine Stellvertreterpolitik, sondern Unterstützung für die Verteidigung und Erweiterung von individuellen Rechten, keine Ausgrenzung der Gesellschaft durch korporatistische Verabredungsrunden, aus denen man ohne Sanktionsmacht als Verlierer herauskommt, sondern Verteidigung der politischen Autonomie, um für Demokratisierung streiten zu können.

6.
In den ersten zwei Jahren
seiner Regierungszeit konnte sich Gerhard Schröder unter einem hellblauen Konjunkturhimmel sonnen und am Traum immerwährender Prosperität erfreuen, die ihm nicht nur eine new economy, sondern auch eine neue Mitte bringen sollte. Auf die ökonomischen und sozialen Krisenprozesse hat die Regierung Schröder/Fischer keine Lösungsperspektiven erkennen lassen. Umso offensiver sollten Gewerkschaften nun für Arbeit und soziale Gerechtigkeit streiten. Dieser Streit kann nicht als Flüsterpropaganda geführt werden. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer hat zu Beginn seiner Amtszeit das Kapitel »Bündnis für Arbeit« für beendet erklärt und einen »neuen Gesellschaftsvertrag« propagiert. Mit dem Beginn der zweiten Amtszeit von Rot-Grün sollte zügig klar gemacht werden, in welche politische Tradition diese Forderung gestellt ist.

Zurück