1. Februar 2006 Michael Wendl

Beschäftigte als Risikoträger

Die verteilungspolitische Initiative von Bundespräsident Horst Köhler hat in den Gewerkschaften unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Köhler hatte zum Jahreswechsel gefordert, mit Kapitalbeteiligungen der ArbeitnehmerInnen "einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich entgegenzuwirken." Das ist alles andere als neu: In den 1950er und 1960er Jahren gab es eine breite gesellschaftspolitische Diskussion über Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Auch damals wurden bereits Modelle eines Investivlohns entwickelt.[1]

Investivlohn in neuem Gewand

Für die aktuelle Debatte, die sich auf den modernen finanzgesteuerten Kapitalismus bezieht, hat Michael Aglietta den Vorschlag einer Kapitalbeteiligung der abhängig Beschäftigten aus einer Perspektive begründet, die von tendenziell fallenden Geldlöhnen im modernen Kapitalismus ausgeht.[2]

Die Vereinte Dienstleitungsgewerkschaft hat auf Köhlers Vorschlag zunächst kritisch reagiert, danach aber gegenüber der Presse einen Tarifvertrag zur Zukunftssicherung der (öffentlichen) Krankenhäuser vom 23.8.2005 (TV ZUSI) präsentiert, der – so ver.di – eine Mitarbeiter-Kapitalbeteiligung ganz im Geiste Köhlers vorsieht. Der damit präsentierte Zusammenhang ist kühn: ver.di und die Vereinigung Kommunaler Arbeitgeberverbände haben eine Variante von Notlagentarifverträgen abgeschlossen, die einen Teil des Entgeltverzichts als so genannte Genussscheine ausgestaltet, die den Unternehmen zur Verfügung gestellt und sehr viel später zurückgezahlt werden sollen.

Notlagentarifverträge beinhalten eine Abweichung vom geltenden Verbandstarifvertrag nach unten. In der Regel wird der Entgeltverzicht mit einem Ausschluss betriebsbedingter Beendigungskündigungen abgegolten.

Nach dem TV ZUSI soll ein Teil des Entgeltverzichts von insgesamt höchstens 10% des Entgeltvolumens in Genussrechtskapital umgewandelt werden und als solches das Eigenkapital kommunaler Krankenhäuser erhöhen. Aus dem aufgestockten Eigenkapital sollen dann Investitionen finanziert werden können.

Vermarktlichung

Dieser komplizierte Vorgang soll kurz erläutert werden:

1. Einmal geht es im TV ZUSI um kommunale Krankenhäuser, denen mit der Abweichung vom Flächentarifvertrag "geholfen" werden soll. Die Krankenhäuser in Deutschland befinden sich in der Zeit zwischen 2005 und 2009 in einer Konvergenzphase. In dieser soll sich die Vergütung der Krankenhäuser durch die Krankenkassen an einen landesweiten Basisfallwert[3] anpassen. Krankenhäuser werden ab 2004 nicht mehr durch (annähernd) kostendeckende Tagespflegesätze pro PatientIn, sondern durch diagnoseorientierte Fallpauschalen ("diagnosis related groups") finanziert. Diese sollen fiktiv Marktpreise für Krankenhausleistungen abbilden. Um der Fiktion von Wettbewerbspreisen nachzukommen, wird ab 2010 ein (bundesland-)einheitlicher Basisfallwert angestrebt. Die Krankenhäuser müssen bis zu diesem Zeitpunkt ihre individuellen Basisfallwerte an den landesweiten Fallwert anpassen. Dabei gibt es zwei Fallgestaltungen: (a) Krankenhäuser, deren aktueller individueller Basisfallwert unter dem angestrebten landesweiten Wert liegt und (b) Krankenhäuser, deren individueller Fallwert über dem zukünftigen landesweiten Wert liegt. Die ersteren machen möglicherweise aktuell Verluste, bekommen aber in den nächsten Jahren schrittweise höhere Fallwerte vergütet. Die zweiten müssen ihre zu hohen Fallwerte schrittweise reduzieren.

Der ganze Prozess wird dadurch kompliziert, dass es zusätzlich Fallzahlen (PatientInnenzahlen) und einen Case-mix-Index – als Gradmesser für die "Schwere" der Fälle – gibt, die als weitere Parameter in den Preisbildungsprozess eingehen und damit die Einnahmeseite des Krankenhauses bestimmen.

2. Die Tarifparteien gehen davon aus, dass den Krankenhäusern in dieser Phase der Anpassung an einen landesweiten Basisfallwert das Instrument einer tariflich geregelten Abweichung vom Flächentarifvertrag nach unten zur Verfügung stehen soll. Das wiederum bedeutet, dass die krankenhausindividuelle Anpassung an veränderte politisch-ökonomische Rahmenbedingungen einer Branche über Lohnsenkungen – wenn auch nur bis zu 10% des Entgeltvolumens – geregelt werden soll.

Damit wird eine zentrale Funktion des Flächentarifvertrages, nämlich einen gemeinsamen Arbeitskostenrahmen für konkurrierende Unternehmen zu bilden, der Lohndumping als Wettbewerbsinstrument ausschließt, preisgegeben. In einer Situation, die von Überkapazitäten in der stationären Krankenversorgung in einer Größenordnung von 15-25% bestimmt wird, die tariflichen Entgeltregelungen für einzelne Unternehmen nach unten zu öffnen, verstärkt die Gefahr des Abschieds vom Flächentarifvertrag.

Auf die Herausbildung eines fiktiven Marktpreissystems mit der Bereitschaft zum "Lohnopfer" zu reagieren, befördert die "Innovationsträgheit" des Krankenhausmanagements. Wettbewerbsnachteile gegenüber privatwirtschaftlichen Krankenhauskonzernen ergeben sich jedoch nicht aus den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes, sondern sind bereits in der Vergangenheit Folge von Innovationsblockaden im Management öffentlicher Krankenhäuser, die nicht die Möglichkeit haben, grundlegende Reorganisationen der krankenhausinternen Arbeitsabläufe durchzusetzen. Zum Teil liegt das an den internen Machtverhältnissen, zum Teil aber auch daran, dass für nötige Investitionen das Geld fehlt. Hier setzt der TV ZUSI an. Ein Teil des Entgeltverzichts soll in ein Investivlohnmodell umgesetzt werden.

3. Der TV ZUSI verlangt, dass der in Genussrechtskapital umgewandelte Entgeltverzicht auf der Passivseite der Unternehmensbilanz als Eigenkapital verbucht wird. Dazu müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein:

a) Dieser Teil des Eigenkapitals muss im Konkurs- oder Liquidationsfall das Kriterium der Nachrangigkeit erfüllen. D.h., zuerst werden die Rückzahlungsansprüche aller anderen Gläubiger erfüllt, erst zuletzt kommen die Ansprüche aus dem Genussrechtskapital.

b) Dieser Teil des Eigenkapitals muss am Unternehmensverlust in der vollen Höhe des Genussrechtskapitals teilnehmen. Zugleich muss die Vergütung für die Überlassung des Genussrechtskapitals "erfolgsabhängig" sein. Aus diesen zwei Bedingungen folgt einmal die Möglichkeit des völligen Verlusts der Rückzahlungsansprüche des Genussrechtskapitals, zum zweiten der mögliche vollständige Verlust der Vergütung für die Kapitalüberlassung.

c) Die Kapitalüberlassung muss für einen längerfristigen Zeitraum erfolgen, was im Einzelfall unter Berücksichtigung der Vermögens- und Finanzlage zu entscheiden ist. Ob das Genussrechtskapital als Eigenkapital bilanziert werden kann, entscheiden letztlich die Wirtschaftsprüfer. In § 6 TV ZUSI wird von einem Mindestzeitraum von sechs Jahren ausgegangen. Das Genussrechtskapital ist in Verlustjahren entsprechend zu vermindern und in Gewinnjahren ggf. wieder aufzustocken.

Eigenkapital oder Liquidität?

Auf den ersten Blick erscheint die mit dem Genussrechtskapital verbundene Erhöhung der Eigenkapitalquote öffentlicher Krankenhäuser als sinnvoll. Nach allgemeiner Auffassung gilt deren Eigenkapitalquote als zu niedrig. Die meisten Kommunen sind zu finanzschwach, um ihre Krankenhäuser angemessen mit Kapital auszustatten. Doch der erste Blick täuscht. Tatsächlich verfügen öffentliche Krankenhäuser über eine ausreichende Eigenkapitalquote. Die Investitionen der Krankenhäuser erfolgten und erfolgen aus dem Haushalt der Bundesländer. Diese öffentlichen Mittel werden in der Unternehmensbilanz als Sonderposten aus öffentlicher Krankenhausfinanzierung verbucht (um Fremdkapital handelt es sich nicht, weil weder Zinsen noch Tilgung gezahlt werden müssen). Würden diese öffentlichen Fördermittel dem Eigenkapital im engeren Sinn hinzugerechnet, würden die Eigenkapitalquoten kommunaler Krankenhäuser auf bis zu 75% steigen. Das ökonomische Problem öffentlicher Krankenhäuser besteht in der Regel also nicht in zu niedrigen Eigenkapitalquoten, sondern in einer zu schwachen Liquidität, genauer in einem zu niedrigen Cash Flow. Dieser markiert den Überschuss der in einer Wirtschaftsperiode erzielten Einnahmen über den laufenden Ausgaben (Personal- und Sachkosten, Zinsen, Steuern). Der Cash Flow ergibt den "Innenfinanzierungsspielraum", der für Investitionen und Schuldentilgung sowie ggf. für eine Gewinnausschüttung zur Verfügung steht.

Aus Sicht der Beschäftigten ist es daher sicherer, das Genussrechtskapital nicht als Eigenkapital zu gestalten, sondern dafür Rückstellungen in der Bilanz zu bilden. Das bedeutet, dass dem Krankenhaus Liquidität zugeführt wird, die für Investitionen zur Verfügung steht. Es bedeutet auch realistische Chancen, dass die Beschäftigten wenigstens einen Teil des Entgeltverzichts wieder zurückerhalten.

Wenn das Genussrechtskapital vollständig am Verlustausgleich der künftigen Wirtschaftsperioden teilnimmt, wird es aller Voraussicht nach weitgehend oder völlig aufgezehrt, weil die betreffenden Krankenhäuser über mehrere Jahre Verluste zu bilanzieren und mit dem Eigenkapital auszugleichen haben.

Die Risiken

Es gibt zusammengefasst mindestens drei Argumente gegen diesen Tarifvertrag:

Erstens macht der TV ZUSI die Senkung der Entgelte der Beschäftigten zu einem wichtigen Instrument im Wettbewerb der Krankenhäuser untereinander. Das zerstört den wettbewerbspolitischen Ordnungsrahmen des Flächentarifvertrages.[4] Ein Teil der Krankenhäuser agiert in diesem Wettbewerb mit bis zu 10% reduzierten Personalkosten. Anpassungsprozesse nach unten werden die Folge sein. In der mittleren Perspektive werden sich zwei Idealtypen von Krankenhäusern herausbilden: Krankenhäuser, die auf den Kostendruck mit Prozess- und Produktinnovationen, mit verbesserter Arbeits- und Ablauforganisation, kurzum mit Rationalisierungsprozessen reagieren, können auf der Basis einer niedrigeren Personalkostenquote (60-65%) höhere Entgelte zahlen und haben entsprechend bessere Chancen bei der Gewinnung von qualifizierten Beschäftigten. Die anderen haben weiterhin eine hohe Personalkostenquote (70-75%) und zahlen entsprechend niedrigere Entgelte. Sie sind die ersten, die aus dem Krankenhausmarkt der öffentlichen Anbieter herausgenommen werden, sei es durch Stilllegung oder durch Privatisierung. Letzteres ist dann als Glücksfall einzuordnen.

Zweitens ist die Konzentration auf die Stärkung des Eigenkapitals bilanzrechtlich unangemessen. Kommunale Krankenhäuser haben in der Regel eine relativ niedrige Fremdkapitalquote, weil die Finanzierung des Anlagevermögens aus öffentlichen Mitteln erfolgt ist.

Drittens ist die Ausgestaltung des Genussrechtskapitals als Eigenkapital die für die Beschäftigten riskanteste Variante. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese ihr Geld nicht mehr sehen werden, ist hoch. Eine Bilanzierung als Rückstellung ist sinnvoller: für die Beschäftigten weniger riskant, für das Krankenhaus ebenfalls attraktiv, weil sich die Liquidität erhöht.

Warum wird so ein fragwürdiger Tarifvertrag abgeschlossen?

Seit ca. zwei Jahren ist ver.di mit dem Missbrauch der Institution des Notlagentarifvertrages konfrontiert. Kommunale Krankenhäuser in privater Rechtsform haben ihre Betriebsräte – und darüber vermittelt ver.di – mit der Androhung von Massenkündigungen bzw. Privatisierung zu Tarifverträgen gezwungen, in denen eine Entgeltabsenkung mit dem Ausschluss betriebsbedingter Beendigungskündigungen verbunden wurde. Diese Notlagentarifverträge sind aber nur möglich für insolvenzfähige Unternehmen, also für kommunale Krankenhäuser in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft (GmbH oder AG). Öffentlich-rechtliche Betriebe sind nicht insolvenzfähig, weil die Kommune verpflichtet ist, die Betriebsdefizite zu tragen. Diese unterschiedliche Behandlung hat dazu geführt, dass die Personalräte öffentlich-rechtlicher Betriebe auch für ihre Krankenhäuser die Möglichkeit des Notlagentarifvertrages nutzen wollten. Um diese Tendenz zur freiwilligen Lohnsenkung einzuschränken, wurde in ver.di die Überlegung einer Kapitalbeteiligung der Beschäftigten entwickelt. Dadurch sollte die Institution des Notlagentarifvertrages für die Arbeitgeberseite mit höheren Hürden als bisher verbunden werden. Es sollte den Kommunen schwerer gemacht werden, ihr Unternehmensrisiko den Beschäftigten aufzubürden.

Im Resultat haben wir die schlechteste aller denkbaren Varianten präsentiert bekommen: die mittelfristige Zerstörung des Flächentarifvertrages TVöD im Krankenhaussektor und einen ökonomisch hoch riskanten Entgeltverzicht der Beschäftigten. Die diagnoseorientierten Fallpauschalen sind eine empirische Konstruktion. Ihre Werte werden auf der Basis der tatsächlichen Kosten von Referenzkrankenhäusern gewonnen. Wenn unter den Referenzkrankenhäusern Anwender des TV ZUSI sind, drückt das über sinkende Arbeitskosten die landesweiten Basisfallwerte und damit die Einnahmen der Krankenhäuser. Die Entgeltsenkungen führen darüber vermittelt zu sinkenden Werten der Fallpauschalen.

Gegenwärtig gibt es eine Chance, die Anwendung dieses Tarifvertrages zu blockieren. Ironischerweise besteht sie in der ständischen Interessenvertretung des Marburger Bundes, der Organisation der Krankenhausärztinnen und Ärzte. Der Marburger Bund hat die tarifpolitische Zusammenarbeit mit ver.di gekündigt und wird den TV ZUSI nicht akzeptieren. Es ist gegenwärtig juristisch völlig offen, ob TVöD und TV ZUSI für Mitglieder des Marburger Bundes rechtlich verbindlich sind.

ver.di wird es aber politisch nicht durchstehen, dem nichtärztlichen Personal in Kliniken einen Entgeltverzicht bis zu 10% aufzuzwingen, während das ärztliche Personal gleichzeitig für 30% höhere Entgelte auf die Straße geht. Trotz der aufmunternden Worte von Horst Köhler wird der TV ZUSI daher nicht wirksam werden.

Michael Wendl ist Mitherausgeber von Sozialismus.
[1] Achim von Loesch (1965): Die Grenzen einer breiteren Vermögensbildung, Frankfurt/M.
[2] Michel Aglietta (2000): Ein neues Akkumulationsregime, Hamburg. Zur Kritik an Aglietta siehe Michael Wendl (2001): Löhne und Beschäftigung in: W. Sauerborn/M. Schlecht/W. Wendl, Jenseits der Bescheidenheit, Hamburg.
[3] Der Basisfallwert bildet die Krankenhauskosten des durchschnittlichen Behandlungsfalls ab.
[4] Siehe dazu Michael Wendl: Öffnungsklauseln in Flächentarifverträgen – eine sinnvolle Alternative? In: Sozialismus 2/2005.

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