1. März 2006 Hans Herzer / Gerd Hof

Bildungsarbeit ist Organisationsaufgabe

Der hohe Stellenwert der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit für die Politikfähigkeit der Organisation IG Metall wird vielfach betont. Als unterstützendes Handlungsinstrument zur Umsetzung strategischer Schwerpunkte ist der Beitrag der Bildungsarbeit gerade in schwierigen Zeiten und bei krisenhaften Entwicklungen besonders gefragt. Gewerkschaftliche Bildungsarbeit hat als organisationsgebundene zielorientierte Bildungsarbeit die Funktion, die soziale Handlungsfähigkeit und die politische Durchsetzungskraft der IG Metall in Betrieb und Gesellschaft zu erhalten, zu stärken und ständig weiter zu entwickeln.

Aktuelle Aufgaben der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit

An die gewerkschaftliche Bildungsarbeit richten sich gegenwärtig viele Anforderungen zur Förderung und Entwicklung gewerkschaftlicher und politischer Orientierung. Sie soll darüber hinaus konkrete Handlungshilfe und prozessnahe Beratung bieten. Die Schwerpunkte der Bildungsarbeit der IG Metall liegen heute in der Grundlagenausbildung und Nachwuchsqualifizierung, in der politischen und aufgabenbezogenen Weiterbildung und in der prozessbezogenen Beratung von Einzelnen und Gremien. Träger dieser Bildungsarbeit sind insbesondere haupt- und ehrenamtliche ReferentInnen in den Regionen, es sind die Bildungsstätten mit hauptberuflichen ErwachsenenbildnerInnen und es sind Kooperationspartner der Gewerkschaften in den Regionen.

Die Wirksamkeit der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit wird zunehmend an ihrem Nutzen für die soziale und für die betriebliche Konfliktbewältigung, in ihrem Beitrag für die Mitgliederentwicklung und nicht zuletzt in ihrer nachhaltigen Wirkung auf die Entwicklung politischer Orientierung und Bindung an die Organisation gemessen.

Dabei geht es keineswegs um eine instrumentelle Zuordnung von individuellen Lerninteressen von Betriebsräten und Vertrauensleuten zu Organisationszielen. Vielmehr wissen wir, dass persönlich motivierte, glaubwürdige und inhaltlich überzeugende IG MetallerInnen vor Ort für den Erfolg der Organisation – auch in der Mitgliederentwicklung – wesentlich sind. Die Bildungsarbeit kann hier einen wichtigen Beitrag leisten.

Dauerhafte Akzeptanz kann die gewerkschaftliche Bildungsarbeit nur erhalten

  wenn sie sich auf die strategischen Handlungsfelder der Organisation inhaltlich überzeugend bezieht und darauf konzentriert,

  wenn sie organisationspolitisch wirkungsvoll ist und

  wenn ihre Angebote den Auftraggebern und den Teilnehmenden einen deutlich erkennbaren Nutzen bieten.

Das Arbeitsvorhaben "Weiterentwicklung der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit" wird in der Organisation zu Recht daran gemessen, ob und wie die Strukturen, die Konzepte und die Angebote der Bildungsarbeit ihren Teil dazu beitragen, dass die IG Metall bei radikal veränderten Rahmenbedingungen ihre Handlungsmöglichkeiten und ihren Einfluss in Betrieb und Gesellschaft erhält und verbessert.

Die gewerkschaftliche Bildungsarbeit muss sich auf die veränderten Realitäten in den Betrieben und in der Gesellschaft nüchtern und interessenorientiert beziehen.

1. Auf der betrieblichen Ebene werden tarifvertraglich und betrieblich vereinbarte Standards in Frage gestellt. Es besteht die Gefahr, dass der Druck auf Betriebsräte und Belegschaften weiter zunimmt. Eine ausreichende und motivierte Mitgliederbasis sowie kompetente und engagierte betriebliche Funktionäre sind entscheidende Voraussetzungen für gewerkschaftliche Offensiven. Mit den ERA-Tarifverträgen wurde eine neue Ära der Entgeltgestaltung eingeleitet. Deren Umsetzung fordert Betriebsräte und IG Metall in den Betrieben fachlich und strategisch. Die Bildungsarbeit muss zur Kompetenzentwicklung in diesen Feldern aktiv beitragen. Dazu ist eine enge Verknüpfung mit bezirklichen Schwerpunkten und Kernthemen insbesondere in der Arbeits- und Tarifpolitik und bei der Einführung und Umsetzung der ERA-Tarifverträge nötig.

2. Auf der tarifvertraglichen Ebene geht es zentral um die Sicherung des Flächentarifvertrages, um den Erhalt der Tarifbindung der Unternehmen und um die Sicherung von Tarifstandards. An der Arbeitszeitdebatte sehen wir, dass die Arbeitgeber nicht nur eine erhöhte betriebliche Flexibilität wollen, sondern auf ein "rollback" abzielen. In der tarifpolitischen Debatte geht es neben der Verteilungspolitik auch um einen Klärungsprozess zu Perspektiven einer qualitativen Tarifpolitik, die sich auf Themen wie Qualifizierung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie auf die Gestaltung von Arbeits- und Leistungsbedingungen gestaltungsorientiert bezieht. Die Bildungsarbeit greift in vielfältigen Bildungsangeboten diese tarifpolitischen Herausforderungen auf. Die tarifpolitischen Kompetenzen von Betriebsräten und Vertrauensleuten müssen (wieder) gestärkt werden. Wir bearbeiten diese Themen in der Nachwuchsqualifizierung und stärken die Spezialisierung in tarifpolitischen Themen.

3. Gesellschaftspolitisch sind Gewerkschaften in vielfältiger Hinsicht gefordert. Die Angriffe auf die Tarifautonomie nehmen zu. Die Unternehmensmitbestimmung wird in Frage gestellt. Der Sozialstaat soll so umgebaut werden, dass ArbeitnehmerInnen tendenziell zu den VerliererInnen gehören. Als Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten ist die IG Metall Anwalt der Mitglieder und steht zu gesellschaftlichen Leitbildern und Werten der sozialen Gerechtigkeit, der Partizipation und demokratischen Mitwirkung sowie für eine nachhaltige Entwicklung in sozialer, ökonomischer und ökologischer Hinsicht.

Auf diesem Hintergrund suchen Gewerkschaften nach Perspektiven der Globalisierung und setzen sich kritisch mit dem Einfluss der Kapital- und Finanzmärkte auf die Politik und politische Entscheidungsmöglichkeiten auseinander.

Zukunftsorientiert im Denken, sachgerecht in der Diagnose und Analyse, interessengeleitet und werteorientiert in der Ausrichtung sowie mutig engagiert im Handeln: Dazu kann die Bildungsarbeit beitragen und sie tut es heute schon.

Dabei bleibt Kernaufgabe der Bildungsarbeit die Qualifizierung der betrieblichen FunktionärInnen für die betrieblichen, tarifpolitischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und für Gestaltungsperspektiven innovativer und guter Arbeit. Gewerkschaftliche Bildungsarbeit kann Vertrauensleute und Betriebsräte befähigen, sich mit der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander zu setzen und sie ermutigen, Lösungen mit ihrer Gewerkschaft anzugehen.

Mit dem Arbeitsvorhaben "Weiterentwicklung der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit" nehmen wir die Herausforderungen an, wir überprüfen unsere Strukturen und Konzepte und gewichten Themen in einigen ausgewählten Schwerpunkten neu.

Der Gewerkschaftstag 2003 hat wesentliche Eckpunkte des Arbeitsvorhabens "Weiterentwicklung der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit" bestätigt. Die Delegierten haben sich konstruktiv und kritisch mit der Ausrichtung und Anlage dieses Arbeitsvorhabens auseinander gesetzt. In den Beschlüssen des Gewerkschaftstages wurde der Auftrag erteilt, den Veränderungsprozess konzentriert fortzuführen und auf einer Bildungstagung Ende 2006 Erfahrungen und Ergebnisse zur Diskussion zu stellen.

Auf diesem Hintergrund haben wir die begonnenen Projekte und Prozesse stabilisiert und zugleich neue Prioritäten gesetzt. Bis zur Bildungstagung 2006 geht es schwerpunktmäßig um

  die Entwicklung eines tragfähigen Leitbildes für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit der IG Metall;

  die Erarbeitung eines für Teilnehmende und Verwaltungsstellen plausiblen, einfachen und angemessenen Strukturbildes für unsere Bildungsarbeit, das Bildungswege transparent macht, die Bildungsplanung erleichtert und die Bildungswerbung unterstützt;

  die Stabilisierung und den Ausbau der neuen Qualifizierungsreihen für Vertrauensleute und Betriebsräte einschließlich ihrer Werbung und Beratung;

  die Struktur eines übersichtlichen Weiterbildungsangebotes für gewerkschafts- und gesellschaftspolitische Themen und für die Spezialaufgaben der Interessenvertretung;

  die Erarbeitung der Struktur und neuer Module im Jugendbildungsbereich;

  transferierbare Ergebnisse aus den regionalen Projekten zur konzeptionellen Entwicklung der politischen Einstiegsqualifizierung, zur ReferentInnenausbildung und zur Bildungsorganisation in den Regionen;

  die Einführung eines Qualitätsmanagements im Bildungsbereich.

Eine Schlussfolgerung aus dem Gewerkschaftstag ist: Es braucht Raum und Zeit für Debatten. Es war immer eine Stärke der Bildungsarbeit in der IG Metall, dass unterschiedliche Positionen und Kontroversen mit der Bereitschaft ausgetragen wurden, sich auf gemeinsame Leitbilder, Strategien und Konzepte zu verständigen. Diesem Grundgedanken folgt der Leitbildprozess im Bildungsbereich der IG Metall, der beteiligungsorientiert angelegt ist. Auf der Bildungstagung 2006 soll ein Leitbild beraten werden, das die unterschiedlichen Sichtweisen und Positionen in einem Korridor der Verständigung sichtbar macht. Seine Ausdrucksform und Gestaltung soll attraktiv und motivierend wirken.

Ausblick zur Weiterentwicklung der Bildungsarbeit

In Anbetracht der vorhandenen und der absehbaren Finanzierungsgrenzen für die Bildungsarbeit bei gleichzeitig steigenden Anforderungen der Betriebs- und Tarifpolitik liegen die strategischen Herausforderungen für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit in der Optimierung des Bildungsangebotes in Richtung einer organisationspolitisch begründeten Nachfrageorientierung. Bildung nach Maß sowie prozessbegleitende Maßnahmen, die sich auf die Handlungsfelder der IG Metall beziehen, werden die Zukunft der Bildungsarbeit der IG Metall ebenso prägen wie ein klar strukturiertes und zugleich vielfältig kombinierbares, qualitativ hochwertiges Bildungsangebot mit Modulen und Baukästen.

In diesem Zusammenhang bieten die modularen Ausbildungsgänge für Vertrauensleute und Betriebsräte eine geeignete Basis zur Entwicklung und Umsetzung maßgeschneiderter Module für betriebsnahe Bildungsarbeit in der Nachwuchsausbildung. Unter Berücksichtigung des betrieblichen Handlungskontextes und der Bestimmung von Zielen und Aufträgen leistet die gewerkschaftliche Bildungsarbeit damit eine konkrete und überprüfbare Unterstützung für aktive Interessenvertretungen und örtliche Gliederungen.

Maßstab für den Organisationserfolg und für gelungenes Lernen sind nach unserem Verständnis in erster Linie engagierte und kompetente TeilnehmerInnen, die motiviert in ihren Alltag zurückkehren. Ein weiterer Maßstab liegt für uns in einem gesteigerten betriebspolitischen Einfluss von Betriebsräten, Vertrauensleuten und Jugend- und AuszubildendenvertreterInnen auf die Herstellung oder Wiedergewinnung von Tarifbindung. Schließlich liegt ein Maßstab für den Erfolg in der Bindung von Betriebsräten an die IG Metall.

Die Qualität der Bildungsarbeit, der Bildungsangebote und der strukturellen Rahmenbedingungen ist hoch. Wir optimieren sie fortlaufend auch im Hinblick auf eine anerkannte Zertifizierung als große Bildungsträgerin in Deutschland.

Das Arbeitsvorhaben zur Weiterentwicklung der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit wird mit hohem Engagement von vielen auf dem Hintergrund vielfältiger Analysen gestaltet, die uns schon vor Jahren gezeigt haben, dass wir noch stärker als in der Vergangenheit eine Bildungsarbeit für klar definierte Zielgruppen (Betriebsräte, Vertrauensleute, Jugendfunktionäre) leisten müssen. Wir schauen genau hin, wen wir erreichen und wen wir mit unserer Bildungsarbeit noch nicht (oder nicht mehr) erreichen können. Auf diesem Hintergrund und mit Bezug zu den genannten Herausforderungen, vor denen die IG Metall als Ganze steht, gestalten wir beteiligungsorientiert diesen Entwicklungs- und Veränderungsprozess im Bildungsbereich unserer Organisation.

Hans Herzer ist Projektkoordinator des Arbeitsvorhabens "Weiterentwicklung gewerkschaftlicher Bildungsarbeit" beim Vorstand der IG Metall.
Gerd Hof ist Leiter der IG Metall-Bildungsstätte in Lohr.

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