1. Oktober 2006 Klaus Bullan

Bildungsmisere auf gutem Weg

Der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung Andreas Storm stellt bei der Präsentation des OECD-Berichts "Bildung auf einen Blick 2006" fest: "Deutschland ist in der Bildung auf einem guten Weg und wird die starken Fähigkeiten seiner Menschen in Zukunft noch besser nutzen".

Diese Sichtweise ist weniger auf mangelnde Fähigkeiten beim sinnentnehmenden Lesen zurückzuführen, wie sie vielen deutschen Schülern bei PISA bescheinigt werden, sondern ist eine Mischung aus Kopf-In-den-Sand-Stecken und Schönfärberei. Die Fakten zeigen, dass der Weg nicht gut ist, auf dem das deutsche Bildungswesen geht.

Und wenn von konservativer Seite zunehmend der Sinn internationaler Vergleiche infrage gestellt wird, wenn die Ergebnisse für uns unerwünscht sind, dann liegt das daran, dass diese Untersuchungen als hinderlich beim Herbeiwünschen guter Stimmung in Deutschland angesehen wird.

Die Hauptmängel des deutschen Bildungswesens werden durch den OECD-Bericht erneut bestätigt und es zeichnet sich keine durchgreifende Besserung ab:

  Deutschland hat zu viele Kinder und Jugendliche, die unzureichend vorbereitet in das Leben und die Arbeitswelt entlassen werden.

  Deutschland hat viel zu wenig Studienanfänger und Hochschulabsolventen.

  Die Benachteiligung und Selektion nach sozialer Herkunft ist auf allen Stufen des Bildungswesens, von der Kita bis zur Weiterbildung, Weltspitze.

  Deutschland vernachlässigt systematisch und seit langem die öffentlichen Investitionen in die Bildung.

  Der – durch die Föderalismusreform noch weiter getriebene – Bildungsföderalismus lässt die deutschen Bundesländer noch weiter auseinanderdriften.

15% der Jugendlichen verlassen das Bildungswesen ohne Berufsausbildung oder Abitur. Darunter sind ganz überwiegend Haupt- und Sonderschüler, Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus ärmeren und wenig gebildeten Familien. Hier ist auch die so genannte Risikogruppe von regional bis zu einem Viertel aller Jugendlichen zu suchen, die kaum eine Chance auf Beschäftigung und selbstständige Lebensführung hat.

Die hohe Rate derjenigen, die einen Berufsabschluss oder Abitur haben, macht es für den Rest um so schwieriger und ist auf Bildungsanstrengungen Deutschlands vor 30 Jahren zurückzuführen. Seitdem stagniert dieser Anteil im Gegensatz zu allen übrigen OECD-Staaten, die hier deutliche Fortschritte machen. Die Älteren sind in Deutschland ebenso gut ausgebildet wie die Jüngeren, in den anderen Staaten (Ausnahme USA) wächst das Bildungsniveau ständig.

Obwohl die Studienanfängerquote in Deutschland sich in den zurückliegenden Jahren leicht erhöht hat, hat diese Steigerung nicht mit dem Anstieg in den übrigen OECD-Staaten mithalten können. Die Zahl der Studierenden stieg von 1995 bis 2004 in Deutschland um insgesamt 8%, im OECD-Mittel hingegen in diesem Zeitraum um 49%. Ähnliches gilt für die Hochschulabsolventen: "Im internationalen Vergleich der Abschlussquoten unter den 24 OECD-Staaten mit vergleichbaren Daten liegen nur noch Österreich, die Tschechische Republik und die Türkei hinter Deutschland." (OECD: Bildung auf einen Blick 2006, Briefing notes für Deutschland, S. 11) Deutschland ist neben den USA das einzige Land, in dem die 45-54-Jährigen häufiger einen Hochschulabschluss haben, als die 25-34-Jährigen. Der Trend ist eindeutig und ungebrochen: Während Deutschland bei der Hochschulqualifikation der Älteren noch auf dem neunten Rang liegt, fällt es wegen der großen Anstrengungen, die die übrigen Länder in den letzten zwei Jahrzehnten unternommen haben, bei den Jüngeren auf den 22. Platz zurück.

Spitzenwerte erreichen wir bei der sozialen Selektion: Nur in Belgien und der Slowakischen Republik sind die Chancen, als Kind mit schwächerer sozioökonomischer Herkunft nicht zu den leistungsschwächsten Mathematikschülern zu gehören, größer als in Deutschland. Nirgends gibt es mehr Jugendliche, die mit 15 Jahren mindestens ein Schuljahr wiederholt haben und nirgends ist die Beteiligung an Weiterbildungsmaßnahmen so stark abhängig von guter Ausbildung wie hierzulande.

Die Investitionen in Bildung bleiben weiterhin deutlich hinter dem OECD-Durchschnitt zurück. Deutschland gibt 5,3% seines BIP für Bildung aus, der Durchschnitt der OECD liegt bei 5,9%, die Spitzenländer wie USA und Korea bei 7,5%, Island bei 8%, Dänemark bei 7%. Noch deutlicher liegt Deutschland bei den öffentlichen Bildungsausgaben zurück, wogegen die privaten Bildungsausgaben über dem OECD-Durchschnitt liegen. Dies ist vor allem auf die hohen Ausgaben der privaten Haushalte für Kindertageseinrichtungen zurückzuführen sowie auf die Beiträge der Unternehmen zum dualen System der Berufsausbildung. Die Einführung von Studiengebühren wird den relativen Rückgang der öffentlichen Ausgaben für die Bildung in Zukunft weiter verstärken.

Auch hier zeigt sich keine Tendenz zum Besseren, im Gegenteil, denn die Ausgaben pro Schüler nehmen zwischen 1995 und 2004 in Deutschland um 5% zu, im OECD Durchschnitt dagegen um 33%. Die Debatte über die weiteren Sparpotenziale, die in rückgehenden Schülerzahlen liegen, zeigt, dass die Politik offensichtlich nicht bereit ist, hier grundsätzlich umzusteuern.

Schließlich zeigen die vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen ergänzenden Untersuchungen der OECD-Daten im Bundesländervergleich, dass die Schieflage hier noch zunimmt. Dies trifft sowohl auf die Gruppe der Risikoschüler, die soziale Selektion und die Studierendenquoten in den Ländern zu als auch auf die Finanzierung: Ein Grundschulkind in Hessen oder Nordrhein-Westfalen kostet zum Beispiel jährlich 4.100 Euro, eins in Thüringen oder Hamburg dagegen 6.000 Euro. Während Hamburg 2% seines BIP für die Schulen ausgibt, liegt dieser Wert in Thüringen bei 4,8%, in Niedersachsen bei 3,5%.

Das zahlenmäßige Studierende-Lehrkräfteverhältnis beträgt im Saarland 8:1, in Nordrhein-Westfalen 16:1. Die durchschnittliche Klassengröße in Grundschulklassen liegt in Hamburg bei 24,0, in Sachsen-Anhalt bei 17,0 SchülerInnen. Diese gravierenden Unterschiede, die durch die Föderalismusreform noch weiter zunehmen werden, wenn etwa die Arbeitszeiten, Besoldung und Entlohnung der Lehrkräfte völlig unterschiedlich geregelt werden können, lassen das Verfassungsziel, gleiche Lebensverhältnisse in allen Bundesländern zu garantieren, in weite Ferne rücken.

Klaus Bullan ist Vorsitzender der GEW Hamburg.

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