1. Mai 2000 Bernhard Müller

CDU - Markt und Menschlichkeit

Mit dem Essener Parteitag ist die CDU offensichtlich aus dem »Tal der Demütigungen« herausgekommen. Die Demoskopen signalisieren leichte Zuwächse in der Publikumsgunst, die neue Parteivorsitzende hat im Eiltempo den Spitzenplatz in der Beliebtheitsskala bundesdeutscher PolitikerInnen erstürmt und staunende Repräsentanten der »neuen Mitte« hinter sich gelassen. Die Konsolidierung der CDU wurde im Wesentlichen durch drei Maßnahmen erreicht: Auswechslung des politischen Personals, Änderungen des innerparteilichen Finanzmangements und der Parteiorganisation sowie Ansätze zu einer politisch-programmatischen Erneuerung.

1. Mit der Präsentation eines neuen Personaltableaus für die Parteiführung, nicht zuletzt mit der Wahl einer Frau aus den neuen Bundesländern an die Spitze und einer Reihe junger Frauen (u.a. die Vorsitzende der Jungen Union Müller) und Männer in den Parteivorstand, signalisierte die Union das endgültige Ende der Ära Kohl. Etliche Vertreter des »System Kohl« waren entweder erst gar nicht mehr zum Parteitag erschienen oder wurden abgewählt (Hinze). Der Verzicht Blüms, Geisslers und Süssmuths auf Wiederkandidatur steht für die Bedeutungslosigkeit von Arbeitnehmerflügel und Frauenunion in der Willensbildung der Partei. Eindeutig an Gewicht gewonnen hat der an den Intrigen gegen Schäuble offensichtlich intensiv beteiligte Landesverband NRW. Mit Rüttgers, dem neuen Generalsekretär Polenz und dem Fraktionsvorsitzenden Merz stellt er drei herausragende Repräsentanten der »neuen CDU«.

2. Eine kritische Auseinandersetzung mit der »Ära Kohl« und dem Parteispenden- und Korruptionssumpf, der die Union an den Rand des politischen Ruins getrieben hatte, gehörte nicht zur politischen Agenda des Essener Parteitags. Der Parteitag beschloss lediglich eine Reform des Finanzmangements, die die Partei vom Ruf unseriöser Finanzierungsmethoden befreien soll. Mit der Wahl Cartellieris zum Schatzmeister wurden die personalpolitischen Weichen so gestellt, dass die Partei auch in Zukunft nicht von den einnahmeträchtigen Quellen der »besseren Gesellschaft« abgeschnitten wird. Gleichwohl musste der Parteitag ein umfangreiches Sanierungskonzept beschliessen. Abstriche bei den Wahlkampfkosten, den Personalkosten der Parteizentrale und höhere Mitgliedsbeiträge für die Bundespartei wären der Partei allerdings auch ohne Spendenaffäre nicht erspart geblieben. Ein strukturelles Defizit von ca. 17 Millionen DM pro Jahr und Kreditschulden von 25 Millionen DM müssen abgetragen werden. Für die aus der Parteispendenaffäre resultierenden Strafzahlungen in Höhe von mindestens 40 Millionen hat die CDU bisher lediglich eine Rücklage von 15 Millionen (aus Hessen) in ihrer Rechnung. Offensichtlich hofft man durch Aufschub, Änderung der politischen Kräfteverhältnisse etc. die Zeche für die eigenen kriminellen Machenschaften nicht bezahlen zu müssen.

3. Mit dem Ende der Ära Kohl ist im Herbst 1998 auch in der Bundesrepublik das Zeitalter des »Kapitalismus als soziale Utopie«, so lautet das Credo des Neoliberalismus, zu Ende gegangen. Die Verunsicherung bei großen Teilen der Lohnabhängigen und der Mittelklassen durch die Konsequenzen der Laissez-faire-Politik wurde durch die tiefe Rezession von 1991 verstärkt; der Abbau von sozialen Sicherungssystemen wurde keineswegs nur als Befreiung, sondern auch als Bedrohung der eigenen Existenz empfunden. Zu Recht interpretiert Bundeswirtschaftsminister Müller diesen Hegemoniewechsel auch als konzeptionelle Schwäche des Neoliberalismus: »Die Jahre des neoliberalen Laisser faire sind vorüber, nicht zuletzt, weil eine einseitig auf Angebotsverbesserung fixierte Politik es oft versäumt hat, die Menschen mitzunehmen. Weil der Strukturwandel forciert wurde, ohne die Menschen auf die anstehenden Veränderungen ausreichend vorzubereiten.« Der entscheidende Grund für die zum Hegemoniewechsel führende Verunsicherung bei Teilen der Bevölkerung war die letztlich unüberbrückbar gewordene Spannung zwischen einer marktradikalen Politik und der gleichzeitig proklamierten Bewahrung überlieferter Werte und Strukturen: der traditionellen Familie, des Nationalstaates und der Religion. Die strikte Gegnerschaft der Neoliberalen zum Wohlfahrtsstaat führte zur Verstärkung sozialer Ängste. Zumindest ein Teil des Führungspersonals der Union hat die Lehre aus der zurückliegenden Deregulierungsphase begriffen: Man kann nicht eine Politik betreiben, durch die auf Dauer größere soziale Schichten ausgegrenzt oder an den Rand gedrängt werden. Der Niedergang des Neoliberalismus in vielen europäischen Ländern hat entscheidend damit zu tun, dass die Prinzipien des Laisser-faire-Kapitalismus zur gesellschaftspolitischen Zukunftskonzeption erhoben wurde.
Das neue Führungsduo der CDU, Merkel und Polenz, umreißt die neue Orientierung: »Wir stellen uns den Veränderungen der Märkte nicht quer in den Weg; wir sehen ihnen aber auch nicht tatenlos zu. Unser Anspruch ist ganz klar – wir sollten uns immer wieder vor Augen führen: Wohlstand und Teilhabe für alle, das heißt eine führende Rolle Deutschlands in einem fairen Wettbewerb um eine menschliche Gesellschaft mit anderen Ländern der Welt. Wir wollen Menschen sein, die stolz auf ihr Land sein können, aus dem sie kommen und in dem sie leben. Wir wollen eine Gesellschaft, die Markt und Menschlichkeit versöhnt... Erinnern wir uns an die Botschaft der Sozialen Marktwirtschaft! Ich meine, wir haben diese Botschaft in den vergangenen Jahren etwas vernachlässigt... Die Ethik der sozialen Marktwirtschaft hat zwei Dinge zur Folge: Nicht alle können gleich sein. Aber es darf auch nicht sein, dass wenige alles und viele gar nichts haben.« (Merkel) Deshalb ist eine Rückkehr zu einer Politik des Laisser-faire mit der selbstverständlichen Implikation, die Mehrheit der Bevölkerung müsse zugleich die Zunahme sozialer Ungleichheit und und eine Verschärfung sozialer Spaltung akzeptieren, schon innerhalb der christlichen Unionsparteien keine mehrheitsfähige Konzeption mehr. Zugleich grenzen sich Merkel und Polenz gegen das rechtspopulistische Fügelschlagen von Teilen der Union ab. Für sie bildet die Formel von der Notwendigkeit der »Eroberung der Lufthoheit über den Stammtischen« (Stoiber) keine zukunftsfähige Politikkonzeption, da die Union dann ähnlich wie die britischen Konservativen oder das bürgerliche Lager Frankreichs seine strukturelle Mehrheitsfähigkeit zu verlieren drohe. »Wir müssen uns um die Stammtische kümmern, aber wir müssen auch dafür sorgen, dass das, was da manchmal an Vorurteilen ist, nicht in einer miefigen Atmosphäre bleibt, sondern ein Stück weit aufgeklärt wird.« (Polenz) Der politische Wille, sich nicht nach rechts abdrängen zu lassen, ist eindeutig; die Behauptung der bürgerlich-konservativen Volkspartei unterstellt also einen neuen Kompromiss zwischen kapitalistischem Wettbewerb und Sicherung von sozialen Mindeststandards, der freilich noch nicht greifbar ist.

4. Die Anerkennung der Herausforderungen durch die weltwirtschaftliche Globalisierung und die Stärkung des nationalen Kapitals ist und bleibt die Grundlage jedweder gesellschaftspolitischen Konzeption der bürgerlichen Massenparteien. Sicherung des sozialen Zusammenhalts heißt in diesem Kontext: die traditionellen Identitäts- und wertstiftenden Gemeinschaften wie Familie, Gemeinde, Nation und Religion müssen gefördert werden. »Wir sollten eine Partei sein, die Partei ergreift für Bindungen, für Menschen, die den Mut haben, sich in dieser Gesellschaft zu binden. Wir sollten Menschen ermutigen, sich bei komplizierten Sachzusammenhängen eine Meinung zu bilden. Wir sollten sie ermutigen, sich entscheiden zu können. Und wir sollten sie ermutigen, sich zu engagieren... Starke Bürger, starker Staat – das sind die beiden Ziele, denen wir uns in einer aktiven Bürgergesellschaft verantwortlich fühlen müssen.« (Merkel) Ein deutlich abgestecktes Modell des bürgerlichen Lagers zur Sicherung des sozialen Zusammenhalts, der Bekämpfung von Armut und sozialer Spaltung auch gegenüber der Strategie der »Dritten Weges« und eine Orientierung, wie darin »Wertorientierung und Wertschöpfungsorientierung« (Polenz) verbunden werden, ergibt sich daraus noch nicht. Dessen Ausarbeitung bleibt der weiteren Programmdiskussion überlassen. Dabei werden sich dann auch die Exponenten des wertkonservativen Lagers (Stoiber, Koch, Teufel, Rüttgers) wieder stärker zu Wort melden.

Die christdemokratischen Parteien haben die Herausforderung begriffen: Ein rigoroser Kurs der Deregulierung sichert den Beifall der Interessenverbände von Kapital und Unternehmen, schließt aber eine strukturelle Hegemonieschwäche ein. Soll Rot-grün von den gesellschaftlichen Machtpositionen verdrängt werden, muss das bürgerliche Lager eine Zukunftsposition präsentieren, in der sich auch die berühmten »kleinen Leute« aufgehoben fühlen. Anders als in Großbritannien oder Frankreich wollen die Parteien des bürgerlichen Lagers den Einfluss auf die sozialen Schichten der Mitte nicht aufgeben. Sozialdemokraten und Bündnisgrüne werden mit einem solchen politischen Kurs herausgefordert.

Bernhard Müller ist Verlagsmitarbeiter in Hamburg.

Zurück