1. Februar 2000 Lennart Laberenz

Chronologie einknickender Sachpolitik

Raymond Federmann hat in einem Roman über einen alten Mann seine zynischen gesellschaftlichen Vorstellungen vom 21. Jahrhundert skizziert. Damit meint er eine Neuauflage neodarwinistischer Gesellschaftsorganisation: Es werden nämlich Behinderte, sozial Schwache, generell alle, die nicht den Normalitätskriterien entsprechen, in Raumkolonien abgeschoben. »Die Welt läuft gut, reibungslos ... die Politik der Konfrontation hat ausgespielt ... .« Was bei Federmann die Vorahnungen vom Ende des Politischen in einer Totalität sind, erscheint unter Gerhard Schröder zunehmend alltagspolitische Wirklichkeit. Gesellschaftspolitische Reformvorschläge, die am Ende gar alternativen Charakter hätten, werden von Rot-Grün zumindest hartnäckig umgangen, das Szenario zeigt ausschließlich Katzen, die um den dampfenden Brei herumlavieren.

Dabei entwickelt die SPD ganz neue Qualitäten. Prägte bislang das Verweigerungsszenario eher der Rekurs auf konstruierte und vorgeschobene »Sachzwanglogik«, [1] so geht die SPD-Regierung mehr und mehr zur offenen Verweigerung von Reformvorhaben über.

In den Jahren der Opposition hatte die SPD unter anderem das Thema BAFöG als reformnotwendig angemahnt. So heißt es in einer Erklärung von Edelgart Bulmahn aus dem Februar 1997: »Die Reform der Ausbildungsförderung ist unabdingbar notwendig, und sie ist möglich. Hierfür ist vor allem politischer Wille erforderlich.« Mit Sicherheit hat die Thematisierung sozialer Ungerechtigkeit, die gerade bezüglich der Zugangschancen zu Bildung, Ausbildung und Wissenschaft evident ist, etliche Menschen bewogen, SPD zu wählen.

Auch wenn sich der politische Wille in den Ankündigungen zunächst in der Unterstützung des »Drei-Körbe-Modells« erschöpfte, so musste es dennoch als Ansatz zu einer Neuorientierung gewertet werden. Im Kern sollte hier die Einführung eines elternunabhängig ausgezahlten Sockels von 400 DM für jeden Studierenden an Stelle des Kindergeldes betrieben werden. Doch schon im Herbst wurden wesentliche Punkte »weggeeichelt«: das Dogma der Kostenneutralität und des Leistungszwangs wurden an die geplante Reform angeheftet – so blieben die ersten Eckpfeiler einer grundsätzlichen Veränderung der politischen Praxis am Wegesrand liegen. Einzig die Elternunabhängigkeit der Vergabe blieb; das hätte zumindest tendenziell die bewusst desaströse Politik der finanziellen Unterstützung von SchülerInnen und StudentInnen aus der Regierung Kohl im Kern als zu verändern begriffen.

Gerhard Schröders Politikentwurf beinhaltet bei allen Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten die Überlegung zum abbauenden »Umbau« des Sozialstaates. Komplementär zu den Märkten soll die Staatsfunktion nötigenfalls mit Zwang regulativ in Erscheinung treten. (So erschließen sich Betriebe über kurz oder lang mit Hilfe einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung den Niedriglohnsektor. Das untere Ende des Niedriglohnbereiches wird staatlich mit Leistungskürzungen und Arbeitszwang bewirtschaftet.) Die Quintessenz ist eine Forderung nach »Eigeninitiative«, die an Stelle staatlicher Intervention tritt, die Privatisierung öffentlichen Raumes schreitet voran, das »demokratische Wachstum« wird zugunsten des »marktförmigen Wachstums« (Richard Senett) vernichtet. Willkommen in der Berliner Republik, in der Lohn- und Bildungsabhängige weiter »die Freiheit haben sich zu verkaufen, oder zu sterben«, um ein Wort von Ernst Bloch unwesentlich zu erweitern. Auch für den Bereich Bildung hat diese Politik fatale Konsequenzen, die zu dem Slogan zusammengefasst werden können: Nichts anders, aber das besser!

Mit Thorsten Bultmann und Rolf Weitkamp [2] gilt es zunächst den Mythos der sozialliberalen Bildungsreform zu entkleiden, denn sie hat »...nicht zu vermehrter realer gesellschaftlicher Gleichheit geführt, sondern im Rahmen ständiger Erhöhung des durchschnittlichen Qualitätsniveaus zur entsprechenden Reproduktion neu-alter Hierarchien – nur eben auf höherem Niveau.« [3] Bildung ist, und ebendies analysieren Edelgard Bulmahn u.a. ja nicht anders, ein wichtiger Faktor bei der Verteilung vorgegebener sozialer Chancen in einer kapitalistischen Ökonomie. Nur vergessen die SPD-BildungsstrategInnen gerne und oft, dass das Bildungssystem »...diese Chancen jedoch nicht [erzeugt] und ist insofern ein von den ökonomischen und sozialen Machtverhältnissen abhängiges, diesem nachgeordnetes System. Damit ist auch der Wirkungsgrad von Bildungs- und Hochschulpolitik begrenzt, präziser: er ist vom Grad ihrer Einordnung in ein gesellschaftspolitisches Umbaukonzept abhängig.« [4]

Ein wichtigeres Instrument bei der Bestellung eines reformpolitischen Feldes wäre nun z.B. die Veränderung der materiellen Ausgangsbasis derjenigen, die Bildungseinrichtungen besuchen und dies fürderhin auch zu tun gedenken. Indem eine der ersten politischen Entscheidungen der neugewählten Regierung Kohl die Abschaffung des SchülerInnen-BAFöGs war, weiter die BAFöG-Sätze eingefroren und die Förderungsrichtlinien zu Ungunsten der zu Fördernden verändert wurden, hat konservative und neoliberale Politik diesem Feld eine wichtige Stellung für ihre Gesellschaftsideologie eingeräumt. So weist der letzte Sozialbericht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (bmb+f) eine Föderungsquote im Sommersemester 1997 von 18,6% (1994: 26,8%) auf. [5] Allerdings sind das beileibe nicht diejenigen, die den Höchstsatz bekamen ...

»Eigeninitiative« wurde auch hier gepredigt und das Land schüttelte sich unter den rechtskonservativen Reden eines Roman (»der Ruck«) Herzog. Statt die Unterfinanzierung zu thematisieren, wurde eine Elitedebatte entfacht und von den so unterschiedlichen Begabungen (unter gründlicher Missachtung ihrer gesellschaftlichen Konstruktion) und dem allgemein flachen Studieneifer der Studierenden gefaselt.

So kommt es, dass die Grundlage einer fundamentalen Bildungs- und Ausbildungsföderungsdebatte eher eine morastige Melange von konservativen Uraltideen (Zugangsselektion via erhöhten Nummeri Clausi, Spracheingangstests, Auswahl durch Studierende u.v.a.m.) und neoliberaler Leistungsdefinition (erhöhte Prüfungsdichte, Studienabstufung durch Bachelor/Master etc.), die noch dazu von SozialdemokratInnen dummdreist verbreitet werden. Tatsächlich bekommt etwa der »SPD-Bildungsexperte« Peter Glotz kein intellektuelles Problem, da er generell annimmt, dass »das bisherige Bildungssystem in Deutschland ja so [ist], dass der Student dort studiert, wo die Waschmaschine seiner Mutter steht.« [6]

Da kann ein zugegeben sicherlich nicht mit dem Bildungssystem näher vertrauter Kanzler schon leicht einmal den Überblick verlieren. Zusammen mit dem Kollegen Finanzminister wurde das Reformanliegen mit einer Handbewegung weggewischt. Die dabei praktizierte Manier lässt wieder einmal nicht nur viel auf Schröders Rollenverständnis zwischen den Geschlechtern schließen, eine neue Qualität formuliert sich in der »Begründung«. Die Eltern hätten, so der besorgte Kanzler, das Kindergeld in Haus- oder Wohnungsbau gesteckt und das Abschneiden dieser monatlichen Zuwendung sei den Eltern schlicht nicht zumutbar. An dieser Stelle müsste zunächst einmal eine tiefe, langanhaltende Stille herrschen. In der Art und Weise, mit der hier Sachpolitik behandelt wird, manifestieren sich neben dem angesprochenen Männlichkeitswahn schon profunde Unkenntnis und große konzeptionelle Löcher.

Während die CDU legitimerweise als korrupter Haufen bezeichnet werden kann, der finanztechnisch mit kriminellem Ziel nach Strich und Faden betrügt, trifft der gleiche Vorwurf sein Ziel, wenn der Umgang dieser Regierung mit dem Feld der politischen Versprechungen thematisiert werden sollte. Nur fällt das leider aus dem Bereich der strafrechtlichen Belangbarkeit. Im Koalitionsvertrag heißt es: »Mit einer grundlegenden Reform der Ausbildungsförderung werden wir 1999 beginnen. In einem ersten Schritt werden wir Einschränkungen der 18. BAfoeG-Novelle zurücknehmen und die Freibeträge weiter anheben. Für eine grundlegende Reform und Verbesserung der Ausbildungsförderung werden wir ein im Bundestag und Bundesrat zustimmungsfähiges Konzept bis Ende 1999 vorlegen. Dazu werden wir unter anderem alle ausbildungsbezogenen staatlichen Leistungen zusammenfassen...« Auch dieser Teil des denkwürdigen Schriftstückes ist also bereits nachhaltig in Vergessenheit geraten. Dafür gab es aber auch einen Bildungskongress im Bonner Wasserwerk, auf dem wieder Schlaues und weniger Schlaues diskutiert wurde. Vollmundig waren die Ankündigungen und salbungsvoll die Reden. Es ändert sich auch nichts, wenn schon der nun wirklich nicht zum Expertenkreis zählende Wolfgang Clement vor der Presse von der »Bildung als Standortfaktor Nummer eins« daherschwafeln darf. Auf Papier gebracht verströmen die Ergebnisse schließlich auch den gleichen Charme der Überflüssigkeit wie offensichtlich alle politischen Erwartungen in diesen Zeiten. Die Zeit der konfrontativen Politik scheint wirklich vorbei.

Lennart Laberenz ist Student an der Humboldt-Universität Berlin.

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