1. April 2001 Michael Wendl

Das Bündnis für Wettbewerbsfähigkeit und die Gründung von ver.di

Allmählich nehmen die Gesprächsrunden im »Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit« den Charakter eines von der ökonomischen Realität abgehobenen Rituals an. Dieses Ritual dient der Inszenierung eines Theaters: Bundesregierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften führen ein Stück auf, das »Beschäftigungspolitik« heißt, faktisch damit aber nichts oder nur sehr wenig zu tun hat.

Dabei gehen die Gesprächsteilnehmer von einem stark geschönten Bild der wirtschaftlichen Lage aus: »Die deutsche Volkswirtschaft befindet sich in einem anhaltenden Aufschwung (...) in den letzten beiden Jahren sind fast eine Million neue Arbeitsplätze geschaffen worden (...). Dazu haben die positive Konjunkturentwicklung, steigende Exporte, Entlastungswirkungen der Steuerreform für die privaten Haushalte und die beschäftigungsorientierte Tarifpolitik beigetragen«, heißt es in der jüngsten »Bündnis«-Erklärung.

Diese Beschreibung enthält ein gehöriges Stück Propaganda für die Bundesregierung. Zum einen geht ein Großteil der zusätzlichen Beschäftigung auf die neu eingeführte Sozialversicherungspflicht für geringfügig Beschäftigte zurück. »Im Vergleich mit der Zunahme der Erwerbstätigkeit ist die Zahl der registrierten Arbeitslosen weniger stark gefallen. Hierbei spielt eine Rolle, dass der Beschäftigungsaufbau hauptsächlich auf geringfügig Beschäftigte entfiel, also Personen, die vorher nicht als arbeitslos registriert waren.« (DIW-WB 1-2/2001, S. 20)

Zweitens sind die Entlastungseffekte der Steuerreform für die Kaufkraft der privaten Haushalte durch den Anstieg der Inflationsrate auf deutlich über 2,5% kompensiert worden und drittens hat die moderate Lohnpolitik der Jahre 2000/2001 zu einer folgenschweren Dämpfung der Konsumnachfrage geführt. Umgekehrt wäre es sinnvoll gewesen: Lohnerhöhungen im Rahmen des kostenneutralen Verteilungsspielraums von Produktivitätszuwachs und Zielinflationsrate – also rund 4% – hätten über die Stärkung des privaten Konsums zu einer kräftigeren Beschäftigungsausweitung geführt. Die beschäftigungspolitische Bilanz der letzten beiden Jahre ist im Vergleich zu anderen Ländern – z.B. Frankreich und USA – ausgesprochen dürftig. Eine Politik der Lohnstückkostensenkung, wie sie im »Bündnis« vom 9. Januar 2000 als »beschäftigungsorientierte Tarifpolitik« deklariert wurde, hat zwar zu einer weiteren Ausweitung des Überschusses im Warenhandel mit anderen Ländern geführt, dadurch aber die gesamte Wertschöpfung noch abhängiger vom Export und damit der Labilität der Weltwirtschaft gemacht. Der von den deutschen Gewerkschaften 2000 mitinitiierte Lohnkostensenkungswettlauf hat nicht nur die westeuropäische Tarifkoordination nach der Doorner Initiative unterlaufen, er zwingt die im Kostenwettbewerb stehenden Länder der Europäischen Währungsunion auch zum Nachziehen, da der Ausgleichsmechanismus der Währungsabwertung ausfällt. (siehe dazu DIW-WB 6/2001, S. 101)

Auf den Gewerkschaftskongressen zur Gründung von ver.di wurde die Kritik an dieser Politik des Lohnverzichts offen ausgesprochen und entsprechend beschlussmäßig fixiert.

Die gewerkschaftspolitische Kontroverse wurde dabei nicht in der Frage der Bewertung der Tarifpolitik der Jahre 2000/2001 festgemacht, hier sind sich (fast) alle in der Kritik einig. Strittig bleiben die aus dieser Einschätzung zu ziehenden Konsequenzen: Austritt aus dem »Bündnis« oder – so hat es die Mehrheit auf den Kongressen beschlossen – verändertes Weitermachen mit klar definierten Zielen und Bedingungen.

Konsens besteht in der Auffassung, dass zukünftig die tarifpolitischen Entscheidungen nicht im »Bündnis«, sondern in den Tarifkommissionen getroffen werden. Denn klar ist, dass mit den Bündnisvereinbarungen zur Tarifpolitik vom 9. Januar 2000 faktisch Lohnleitlinien festgelegt wurden und Hubertus Schmoldt (IG BCE) hat offen eingeräumt, dass die tarifpolitischen Vereinbarungen vom 9.1.2000 auch eingehalten wurden. Roland Issen und Dieter Schulte haben dies bestätigt. Das peinliche Ausweichen der ÖTV vor dem in der Urabstimmung bereits beschlossenen Arbeitskampf im Juni 2000 weist in die gleiche Richtung.

Der Bundeskanzler hat angekündigt, dass er die – wie er es sieht – erfolgreiche »beschäftigungsorientierte« Tarifpolitik für 2002 und danach mit den Bündnispartnern fortsetzen will. In dieser Situation liegt es nahe, den Ausstieg der Gewerkschaften aus dem Bündnis für die richtige Reaktion zu halten. Faktisch wird es dann zu einer politischen Spaltung der Gewerkschaften kommen, da zumindest die IG BCE an ihrer Bereitschaft zum Bündnis und zum Lohnverzicht nichts ändern wird. Zugleich würde die tatsächliche Machtlosigkeit des DGB schonungslos offen gelegt. Es liegt daher im Interesse der DGB-Gewerkschaften selbst, den Versuch zu unternehmen, sich vor dem nächsten Bündnistermin im Herbst 2001 auf eine halbwegs gemeinsame Linie zu verständigen.

Das »Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit« ist nicht verstanden, wenn es als »runder Tisch«, also als bloßes Instrument des Dialogs zwischen Bundesregierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften interpretiert wird. Es handelt sich auch nicht um eine beschäftigungsfördernde Veranstaltung.

Es kann aber eine politisch-ökonomische Konstellation geben, die zu Recht als »Bündnis für Arbeit« qualifiziert werden könnte. Diese Konstellation würde gekennzeichnet durch eine gesamtwirtschaftlich angelegte expansive Ausgabenpolitik des Staates, durch eine großzügige Geldmengenpolitik der Zentralbank und eine nicht-inflationsfördernde Lohnpolitik der Gewerkschaften. Dieser Konstellation entspricht das im Stabilitätsgesetz vom 12. Mai 1967 fixierte konjunkturpolitische Instrumentarium.

Das aktuelle »Bündnis« markiert eine ganz andere politisch-ökonomische Konstellation. Sie wird mit dem Begriff des Wettbewerbskorporatismus umrissen. Mit einer restriktiven Finanzpolitik und einer gerade nicht expansiven, sondern einseitig stabilitätsorientierten Geldpolitik der Zentralbank werden die konjunkturpolitischen Möglichkeiten, Wachstum und Beschäftigung zu fördern, nicht nur nicht genutzt, sondern fast ins Gegenteil verkehrt. Beschäftigungszuwächse entstehen durch außenwirtschaftliche Expansion, durch Ausweitung des Handelsbilanzüberschusses. Diese Strategie wiederum macht es nötig, einen komparativen Vorteil in der Frage der Arbeitskosten – genauer der Lohnstückkosten – gegenüber den anderen Ländern zu erreichen. Das ist der Bundesrepublik Deutschland ab 1994, also nach der Konjunkturkrise 1993/94 sehr effektiv gelungen. Das »Bündnis« ist im Kern ein »Bündnis für Arbeitskostensenkung«, ein nationaler Wettbewerbs- und Standortpakt. [1]

Faktisch haben sich die DGB-Gewerkschaften trotz heftiger interner Kritik darauf eingelassen, die Sicherung und Ausweitung der Beschäftigung über einen weiteren Ausbau einer seit Jahren international überlegenen Wettbewerbsposition zu versuchen. Das war vermutlich in dieser Weise nicht beabsichtigt. Große Teile der Gewerkschaften – eben nicht nur die Führungsetagen – haben sich die Sichtweise von der durch zu hohe Arbeits-, speziell Lohnnebenkosten verursachten Standortschwäche Deutschlands zu eigen gemacht, zumal diese Sicht zugleich eine vorzügliche Legitimation für die niedrigen Lohnabschlüsse nach 1993 bietet. Es fehlt auch nicht an Vorstößen, eine solche Lohnpolitik innerhalb der Gewerkschaften nicht nur aus dem einfachen neoklassischen Schema, dass niedrige Löhne zu mehr Beschäftigung führen, sondern etwas aufwendiger sozialwissenschaftlich begründen zu versuchen, z.B. durch die Produktionszyklustheorie. [2] Nach wie vor finden solche Sichtweisen in den Gewerkschaften selbst eine nicht zu unterschätzende Unterstützung, was sich in der Zunahme nationalistischer Vorurteile unter den abhängig Beschäftigen zeigt. [3] Dieses führt wiederum bei den kritischeren und internationalistisch denkenden Gewerkschaftsmitgliedern dazu, ihre moralisch oder makroökonomisch begründete Aversion gegen nationale Standortpakte zu verfestigen.

Aus einer solchen komplizierten und innergewerkschaftlich konfliktorischen Gemengelage herauszukommen, um wieder tarifpolitische und gesellschaftspolitische Handlungsfähigkeit zu erlangen, ist ausgesprochen schwierig. In einer Situation der objektiven Defensive und politischen Schwäche sind Entscheidungen, die zu einer Polarisierung innerhalb der Gewerkschaften führen müssen, nicht sinnvoll. Es geht also darum, einen Weg zu finden, mit dem die verschiedenen Strömungen in den Gewerkschaften auf einen Minimalkonsens von Forderungen, auf den sie sich verständigen, gebracht werden können. Dabei gibt es mindestens zwei bisher zu wenig beachtete Barrieren:

Das ist zum einen die Frage nach der ideologischen Hegemonie. Wir würden es uns zu einfach machen, das auf die Behauptung einer Dominanz neoliberaler Ideologie zu verengen: Wir haben es beim Wettbewerbskorporatismus mit einem ideologischen Konzept zu tun, das zwar auf der theoretischen Basis der subjektiven Wertlehre, genauer der Neoklassik aufbaut, [4] aber diese Sicht nicht marktradikal fortführt, sondern institutionell mit dem Konzept des Neokorporatismus zu vermitteln versucht. Anders gesagt: Es geht nicht um die Auflösung des Tarifkartells der Gewerkschaften, sondern um ihre gezielte Einbindung mit dem Ziel einer einvernehmlichen Reform des Tarifkartells. An diesem Ziel arbeiten einflussreiche »think tanks« oder Ideologiefabriken der neuen Sozialdemokratie, nämlich das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, die Bertelsmann-Stiftung und die eng mit dem DGB verbundene Hans-Böckler-Stiftung. Gegen diese in den Gewerkschaften einflussreichen Denkfabriken eine theoretisch überzeugende Gegenkonzeption zu entwickeln, ist ausgesprochen schwierig. Zweitens: Die Gewerkschaftslinke selbst verfügt über keine in sich konsistente makroökonomische Konzeption der politischen Steuerung der Finanz-, Güter- und Arbeitsmärkte. Ein einfaches Zurück zum verkürzten Keynesianismus der antizyklischen Globalsteuerung im Sinne des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes von 1967 verbietet sich wegen der geänderten ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen. Aber noch viel hilfloser ist der vulgärmarxistische Radikalismus eines Kampfes »Klasse gegen Klasse«. Es bleibt eine Politik der relativ kleinen Schritte. Der letzte Gewerkschaftstag der ÖTV hat sie in einer kritischen Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Bündnisgespräche vom 4. März 2001 beschlossen:

  Es muss eine materielle Bilanz und politische Bewertung der ersten sieben Bündnisrunden erarbeitet werden.

  Die möglichen Folgen einer EU-Osterweiterung für die Entwicklung von Wertschöpfung und Arbeitsmarkt müssen thematisiert und prognostiziert werden. Auf Basis dieser Erkenntnis muss eine breite innergewerkschaftliche Debatte initiiert werden.

  Die Gewerkschaften müssen Eckpunkte einer gesamtwirtschaftlich angelegten beschäftigungsorientierten Finanz- und Geldpolitik entwickeln, um der bevorstehenden konjunkturellen Abschwächung entgegenwirken zu können. Dazu gehört auch eine gezielte öffentliche Industrie- und Strukturpolitik in den neuen Bundesländern.

  Das Arbeitszeitgesetz muss reformiert werden. Das bedeutet bessere Regeln zum Gesundheitsschutz (Pausen, Ruhezeiten, Höchstarbeitszeiten) und eine wirksame Begrenzung von Überstunden. – Die Verkürzung der regelmäßigen Arbeitszeit muss allerdings außerhalb der Bündnisgespräche wieder auf die Tagesordnung der Tarifpolitik gesetzt werden.

Es muss versucht werden, auf dieser Grundlage eine Verständigung der beteiligten Gewerkschaften zu erzielen. Dabei geht es im Kern darum, das bisher im Sinne des Ausbaus nationaler Wettbewerbsfähigkeit erfolgreiche Bündnis zu beenden. Ein Bündnis für Arbeit wird daraus mit Sicherheit nicht.

Dies durchzusetzen, dazu sind die Bundesregierung und ihre Denkfabriken noch zu stark und die Gewerkschaften zu schwach. Auch ver.di wird daran nichts ändern. Es ist schon ein erheblicher Fortschritt, wenn die Tarifpolitik aus dem Bündnis erfolgreich herausgehalten werden kann. Dazu müssen die Gewerkschaften aber im »Bündnis« präsent sein. In einer Gesellschaft mit korporatistischen Institutionen – und das sind weit mehr als das Bündnis, nämlich die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, die Unternehmensmitbestimmung, die betriebliche Mitbestimmung und die Arbeits- und Sozialgerichte – sind die korporatistischen Strukturen Kampf- und Auseinandersetzungsfelder im Stellungskrieg der Klassen. Diese Ebenen einfach räumen zu wollen, wäre fatal. Das wirkliche Problem im Bündnis ist nicht die Teilnahme der Gewerkschaften, sondern ihre politische Subalternität, teilweise sogar Unterwürfigkeit gegenüber der Bundesregierung. Die wichtigen Auseinandersetzungen vor der nächsten Bündnisrunde finden daher in und zwischen den Gewerkschaften statt.

Michael Wendl ist noch Vorsitzender des ÖTV-Bezirks Bayern, und künftig stellvertretender Landesvorsitzender von ver.di in Bayern.

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