24. Mai 2013 Klaus Peter Kisker: Wege aus dem Kapitalismus

Das Ende der Geschichte

Das breite, tiefsitzende Unbehagen von großen Teilen der Bevölkerung an den gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen konnte bisher nicht in politische Aktionen zur Überwindung des Kapitalismus überführt werden, weil es den Herrschenden trotz aller Fehlentwicklungen gelungen ist, den Kapitalismus zu beschönigen und zu verharmlosen – vor allem aber als alternativlos hinzustellen.

Aus der Sicht der herrschenden Lehre, der neoliberalen Ideologie, ist die Frage nach dem bestmöglichsten Regulierungssystem grundsätzlich gelöst. Für sie ist der Untergang des Regulierungssystems, das mit dem Ostblock untergegangen ist, ein Sieg des so genannten Liberalismus und stellt, wie Francis Fukuyama behauptet, das alternativlose Ende der Geschichte dar.[1] TINA – there is no alternative! Dabei wird ganz bewusst oder unbewusst ein grundsätzliches Versagen des Kapitalismus geleugnet und eine generelle Fehlentwicklung ausgeschlossen. Um Wege zur Transformation zu öffnen, erscheint es notwendig:

  • erstens die Illusion eines humanisierbaren Kapitalismus zu entlarven,
  • zweitens ideologischen Schutt zu beseitigen, der den Blick auf Alternativen verstellt.

Zum ersten Punkt: Auf einen langfristig humanisierbaren, stabilen und ökologisch orientierten Kapitalismus zu setzen, zeugt zum einen von einer Verdrängung der Geschichte und zum anderen von einer Ignoranz gegenüber der Logik dieses Systems. Beides ist im Übrigen auch in den Grundsatzprogrammen der SPD und des DGB und leider auch in dem der Linkspartei zu finden.

Es ist keine zutreffende Gegenwartsanalyse, keine fundierte Kapitalismusanalyse, wenn es in dem Programm der Partei DIE LINKE heißt: »Der Kapitalismus kehrt zu seiner Normalität zurück.« (S. 14f.) Abgesehen davon, dass große Teile der westdeutschen Bevölkerung heute immer noch »Normalität« mit der Entwicklung in den 1950 und 1960er Jahren assoziieren, negiert diese Aussage die grundlegenden Veränderungen, die mit dem Strukturbruch in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eingetreten sind.

In dem Abschnitt »Die neoliberale Wende« (S. 19ff.) wird nicht deutlich, warum es diese Wende gegeben hat, und was sie bedeutet. Problematisch ist die Aussage, diese Wende diene dem Ziel, die Profitraten nach oben zu treiben. Richtig ist: Angesichts dramatisch fallender Profitraten war diese Wende der Versuch, den Profitratenverfall aufzuhalten, was durch rigorose Umverteilung auch gelungen ist. Der ganze Abschnitt in diesem Programm ist eine Beschreibung, keine Analyse!

Die Illusion eines humanisierbaren Kapitalismus wird durch die unbestreitbare Tatsache genährt, dass es der Arbeiterbewegung in den vergangenen 200 Jahren kapitalistischer Geschichte in harten, oft verlustreichen Kämpfen gelungen ist, die Lage der abhängig Beschäftigten in den Industrieländern deutlich zu verbessern. Das heißt, der Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeitern konnten gewisse Schranken gesetzt werden. Aber wenn wir uns die Geschichte der Klassenkämpfe im 19. und 20. Jahrhundert genauer ansehen, erkennen wir, dass Erfolge ausschließlich in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität errungen werden konnten. Viele der Errungenschaften der Arbeiterbewegung wurden – nicht erst seit Anfang der 1980er Jahre – dann in Rezessions- oder Krisenzeiten wieder kassiert.

Wer weiterhin auf eine neue Prosperitätsphase setzt, verdrängt oder ignoriert, dass sich der Kapitalismus seit Ende der 1970er Jahre in einer tief greifenden Krise befindet. Kein Grundsatzprogramm hat dies bisher adäquat berücksichtigt.

Einig sind sich die meisten Politiker, Gewerkschafter und auch Wissenschaftler, dass es einen Strukturbruch gegeben hat, aber die eigentliche Ursache wird eskamotiert. Selbst der Ökonom und einer der fünf Wirtschaftsweisen, Peter Bofinger, spricht in seinem neuen Buch von einem »gewaltigen Erdbeben, das die gesamte Weltwirtschaft erfasst hat«, aber er nennt keine Ursachen.


Die strukturelle Überakkumulation

Charakteristisch für die längerfristige Entwicklung der Wirtschaft in den wichtigsten kapitalistischen metropolen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg war ein kräftiges Wirtschaftswachstum mit zyklendurchschnittlich abnehmenden Zuwachsraten des Sozialproduktes. Abnehmende Wachstumsraten sind also nichts Neues, aber im Unterschied zu den Aufschwungsphasen vor dem Ersten Weltkrieg und nach dem Zweiten Weltkrieg sehen wir seit Beginn des 7. Nachkriegszyklus, d.h. seit 1975, dass die Arbeitslosigkeit im Zuge des Aufschwunges nicht abgebaut wird,[2] dass die Armut auch in den reichen Ländern zunimmt, dass Überkapazitäten trotz massenhafter Konkurse über die Zyklen hinweg bestehen bleiben, und dass eine in dieser Rigorosität noch nie zu beobachtende Verdrängungs­konkurrenz eingesetzt hat.

Die in allen hoch industrialisierten, kapitalistischen Ländern zu registrierende Tendenz der längerfristig, d.h. über die nach wie vor vorhandenen konjunkturellen Schwankungen hinweg, fallenden Profitraten hat zwar zu immer stärkeren Klagen der Industrie geführt, war aber solange unproblematisch, wie trotz der fallenden Profitraten die Profitmassen erhöht werden konnten.

Neu ist nun seit Mitte der 1970er Jahre, dass die längerfristige Akkumulationsrate, das heißt, das neue, zusätzlich gebildete Realkapital, gesamtgesellschaftlich und tendenziell gesehen, nicht mehr ausreicht, den Fall der Profitrate zu kompensieren. Die Folge ist: Seitdem sinken tendenziell bei deutlichen Unterschieden zwischen einzelnen Regionen, Branchen und Unternehmen im längerfristigen Trend nicht nur die Profitraten, sondern es sinkt auch die gesamtgesellschaftliche Profitmasse. Mit dieser als strukturelle Überakkumulation zu bezeichnenden längerfristigen Entwicklung sind die kapitalistischen Systeme in eine neue Entwicklungsphase eingetreten.


Verschärfung der Krise

Strukturelle Überakkumulation ist eine längerfristig sich anbahnende, absehbare Entwicklung, die im Unterschied zur zyk­lischen Überakkumulation nicht auf falschen Signalen seitens des Marktes beruht. Sie wird nicht, wie die zyklischen Einbrüche, zwangsläufig hingenommen. Sie beseitigt keine Disproportionen, sondern gefährdet den Bestand der kapitalistischen Systeme. Anhaltende Überkapazitäten und sinkende Profitmasse signalisieren Überakkumulation und fordern strategisches Handeln seitens der Kapitale. So ist zu erklären, dass die Realinvestitionsquote deutlich zurückgegangen ist, dass die Unternehmer versuchen, ihre Investitionen auf Ersatz- und Rationalisierungsinvestitionen zu beschränken, dass sie auf Kosten der Realinvestitionen riesige Geld­kapitale bilden und eher andere Firmen aufkaufen, als die Gewinne zum Ausbau bestehender Unternehmen zu verwenden.

Mit diesen kapitalimmanent logischen, betriebswirtschaftlich rationalen Maßnahmen konnte eine große Zahl von Unternehmen kurzfristig ihren Gewinn stabilisieren, längerfristig verschärfen sie jedoch damit die strukturelle Überakkumulation. Die zyklendurchschnittliche Einschränk­ung der Realkapitalakkumulation, die Reduzierung der Erweiterungsinvestitionen und die neuen, Produktionskapa­zitäten vernichtenden Zentralisationsstrategien haben zwar kurzfristig den Fall der Profitrate bremsen können, bewirken aber gleichzeitig eine weitere zyklendurchschnittliche Senkung der Akkumulationsrate, sodass der kritische Punkt, von dem ab die Akkumulationsraten den Fall der Profitrate nicht mehr kompensieren können, von dieser Seite her schneller erreicht wird.

Die Einschränkung der Realkapitalakkumulation – deutlich abzulesen an der gesunkenen Investitionsquote – bei Zunahme des Anteils der Rationalisierungsinvestitionen bedeutet, dass das zyklendurchschnittliche Wachstum der Arbeitsproduktivität über dem Wachstum des Sozialproduktes liegt. Eine solche Konstellation muss zu einer überzyklischen Entlassung von Arbeitskräften führen. Längerfristig abnehmende Beschäftigung heißt abnehmende Nachfrage nach Konsumtionsmitteln und damit Kontraktion der Konsummittelproduktion. Damit fällt nicht nur Nachfrage nach Investitionsgütern, sondern zusätzlich effektive Nachfrage nach Konsumgütern aus, zumal mit zunehmender Entlastung der Unternehmen durch entsprechende Steuersenkungen und Abbau sozialstaatlicher Elemente eine gigantische Umverteilung der Einkommen und Vermögen von unten nach oben eingesetzt hat. Wird dieser akkumulationsbedingte Ausfall an effektiver Nachfrage nicht durch staatliche Aktivität oder zunehmende Nachfrage aus dem Ausland (Exportüberschuss) kompensiert, führt dies zu einer weiteren Reduzierung der Investitionsgüternachfrage. Es entwickelt sich ein circulus vitiosus mit zunehmender Arbeitsplatzvernichtung.

Mit der zunehmenden Geldkapitalbildung und den daraus erzielten Zins- und Spekulationserträgen konnten in den letzten Jahren die sinkenden Erträge bzw. Verluste im Produktionsbereich auf Kosten der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte vielfach kompensiert werden. Welche Auswirkungen diese Ausweichmanöver hatten und noch haben, zeigte die Krise 2008f. – und zuletzt die so genannte Zypernkrise.

Besonders erfolgreich im Sinne des Kapitals war die Stabilisierung der Profitrate durch rigorose Umverteilung des Volkseinkommens zulasten der abhängig Beschäftigten. Der Abbau von Sozialstaatlichkeit als Reaktion auf die strukturelle Überakkumulation hat seit Mitte der 1980er Jahre zu einer Verringerung des Falls der Profitrate geführt. Der Preis dafür ist zunehmende soziale Ungleichheit, wachsende Armut und steigende soziale Spannungen, kurz eine Zerstörung der Zivilgesellschaft und damit auch eine Gefährdung der wesentlichen Voraussetzungen für Produktivitätssteigerungen.

Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zeigt besonders deutlich, dass die kapitalistischen Systeme an ihre historische Schranke gestoßen sind. Sie sind nicht am Ende in dem Sinn, dass mit ihrem baldigen Zusammenbruch zu rechnen ist. Die durch Umverteilung seit Mitte der 1980er Jahre stabilisierten Profitraten zeigen die Überlebenskraft dieser Systeme. Aber es wird deutlich, dass die kapitalistischen Strategien zunehmend die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte hemmen bzw. pervertieren. Die immer wieder beschworene Produktivität, Rationalität und Effizienz kapitalistischer Märkte ist betriebswirtschaftlich nicht zu bestreiten, sie ist indes gesellschaftlich immer weniger gegeben. Der berühmte Ausspruch von Henry Ford, was gut sei für Ford, sei gut für Amerika, beruht auf der zunehmend perversen Identifikation der Interessen des Kapitals mit den Interessen der Gesellschaft.

Faktisch bedeutet die betriebswirtschaftliche Rationalität und die daraus resultierende Arbeitslosigkeit eine enorme Vergeudung von Ressourcen. Es ist doch nicht zu bestreiten, dass es in der Bundesrepublik wie in der gesamten Welt ungeheuer viel zu tun gibt. Das hat schon Keynes 1933 betont. Er schreibt: »Wenn ich heute die Macht hätte, würde ich sicherlich unsere Hauptstädte mit allen Errungenschaften der Kunst und Zivilisation in der höchsten Vollendung, die die Bürger jeder einzelnen erreichen könnten, ausstatten. Ich wäre überzeugt, dass das, was ich herstellen kann, ich mir auch ›leisten‹ könnte. – Ich glaube, dass das so ausgegebene Geld nicht nur besser wäre als irgendeine Arbeitslosenunterstützung, sondern sie sogar überflüssig machen würde.«[3]

Die Beseitigung von Umweltschäden, die Umstellung auf umweltschonende Energie-, Verkehrs- und Abfallsysteme, die Sanierung der Städte, die Schaffung von Wohnungen und sozialer Infrastruktur sind nur einige Beispiele für dringende Aufgaben, die viel Arbeit erfordern. Die Bewältigung dieser Aufgaben würde den Lebensstandard der Mehrheit der Menschen nachhaltig verbessern. Anzuerkennen, dass es nicht genug Arbeit für alle arbeitsfähigen und arbeitswilligen Menschen gibt heißt, den status quo eines zunehmend disfunktionalen Regulierungssystems zu akzeptieren.


Befreiung vom ideologischen Schutt

Kommen wir nun zu dem zweiten Schritt. Eine handlungsorientierende Theorie für eine bewusst gestaltete menschliche Gesellschaft gibt es bisher nicht. Sie kann nur in einer breiten Diskussion auf der Basis eines Bewusstseins von der Notwendigkeit von Veränderungen entwickelt werden. Ein solches Bewusstsein zu schaffen, heißt durch realistische Orientierungspunkte den Weg zu einer breiten Diskussion über ein politisches Programm der Transformation zu öffnen.[4] Ich spreche hier ausdrücklich von einem Prozess der Transformation, Reform oder Revolution ist – wie schon Rosa Luxemburg schreibt – keine Alternative. Einen gewaltsamen ad hoc-Sprung in ein anderes System kann es nicht geben und ist aus humanistischen Gründen auch nicht wünschenswert. Eine Strategie der Transformation muss mit Reformen beginnen

Sie erfordert vor allem, ideologischen Schutt wegzuräumen, der die Sicht auf Alternativen versperrt. Zu dem ideologischen Schutt gehört u.a.

  • die Gleichsetzung von Kapitalismus mit Marktwirtschaft,
  • die Behauptung der Rationalität und Effizienz von profitgesteuertem Wirtschaften,
  • die Behauptung, es gäbe gar keine Alternativen,
  • die Behauptung, Sozialismus bedeute zentrale Planung und Verwaltung, die den Menschen bevormunde und ineffizient sei.
  • Schließlich zählt dazu die These: Markt und Plan seien unvereinbare Gegensätze.

Gehen wir das Problem von der Seite des Marktes an.[5] Märkte gab es in vielen Gesellschaften lange vor dem Kapitalismus und Märkte gab es im Feudosozialismus des Ostblocks. Im Kapitalismus wird der Markt zu einem den Charakter der gesamten Gesellschaft bestimmenden Moment.[6] Aber auch der Markt oder die Geldsteuerung im Kapitalismus ist weder theoretisch noch praktisch plan- bzw. staatsfrei. Markt und Geld setzen den Staat als konstituierendes Element voraus. Ohne die staatliche Garantie, dass Produkte als Waren getauscht werden können, und ohne die (implizite) Planung, was als privates Gut getauscht werden kann und was als öffentliches Gut durch die Gesellschaft bereitzustellen ist, ist der Markt nicht in der Lage, seine Allokationsfunktion zu erfüllen.

Skizzieren wir nun das Problem von Markt und Staat von der Seite der Planung her. Auch hier ist festzustellen, dass es ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Regulierung schon immer gab und in allen Gesellschaftssystemen gibt. Sie erfolgt in den kapitalistischen Systemen weitgehend implizit und vor allem unkoordiniert auf einzelne Ziele gerichtet. Der springende Punkt jeder bisherigen Planung liegt darin, dass sie niemals vergesellschaftet worden ist, also niemals in einem Prozess gestaltet wurde, in den die Bevölkerung aktiv und partizipativ einbezogen wurde.[7]

Zweifellos besteht zwischen der Steuerung durch Profit und einer durch demokratische Planung ein Spannungsverhältnis. Es kann deshalb nicht darum gehen, ein – notwendigerweise inkohärentes – duales System der Steuerung durch gesellschaftliche Prozesse und durch Marktmechanismen zu konstruieren. Das Ziel neuer Überlegungen muss sein, den Markt stärker als bisher in den kapitalistischen Systemen, als Allokationsmechanismus in ein System der gesellschaftlichen Willensbildung einzubeziehen. Das heißt, den Markt nicht länger als eine Ideologie oder blinde Macht zu betrachten, sondern ihn als ein Instrument zu begreifen, dem innerhalb gesellschaftlicher Willensbildung gemäß global vorgegebener Ziele der Raum für die Allokation vorbehalten bleibt, der durch gesellschaftliche Steuerung nicht abzudecken ist. Das heißt, die Flexibilität des Marktes auszunutzen, ihn insbesondere als Instrument der Feinsteuerung zu funktionalisieren, und ihm die Bereiche zu überlassen, wo gesellschaftliche Willensbildung nicht stattfindet oder unsinnig wäre.

Aufgrund der negativen Erfahrungen in den feudoso­zialistischen Staaten ergibt sich die Konsequenz: Gesellschaftlich gewollte und realisierbare globale Ziele können nur vorgegeben werden, wenn sie auf einem Informationsprozess aufbauen, der auf Partizipation bzw. Selbstbestimm­ung beruht. Ein solcher Informationsprozess muss von den Betrieben ausgehen. Er muss über branchen- und regionalspezifische Wirtschafts- und Sozialräte zu einem gesamtwirtschaftlichen Wirtschafts- und Sozialrat laufen, der mit einer entsprechenden globalen Organisation zusammenarbeiten muss. Nur auf einer solchen Informationsbasis kann die Gesellschaft entscheiden, wofür die vorhandenen bzw. mobilisierbaren Ressourcen eingesetzt werden sollen, was in welchen Mengen unter welchen Rahmenbedingungen produ­ziert werden soll.

Ein wesentlicher Schritt auf dem Weg, den Markt als Instrument in einen Prozess der gesellschaftlichen Willensbildung einzubinden, ist den Profit neu, das heißt gesellschaftlich, zu definieren, nicht ihn zu beseitigen. Unternehmensprofit oder -verlust ist keine naturgegebene Orientierungsmarke. Zahlreiche, durch Menschen gemachte Gesetze regulieren, was wie als Kosten in der privatwirtschaftlichen Kalkulation berücksichtigt werden muss, und was als externe Kosten der Gesellschaft aufgebürdet werden kann. Die privatwirtschaftliche Gewinn- und Verlustrechnung berücksichtigt nicht, dass jede Leistung eines Unternehmens auf zwei Komponenten beruht: einmal auf der individuellen Leistung, zum anderen auf dem gesellschaftlichen Umfeld, den allgemeinen Produktionsvoraussetzungen, dem es die Möglichkeit zur Leistungserbringung verdankt. Um die sich immer weiter öffnende Schere zwischen privater und gesellschaftlicher Rationalität zu schließen oder das Auseinanderklaffen zumindest schrittweise zu mindern, erscheint ein gesetzlicher Rahmen notwendig, der die Unternehmen verpflichtet, auf der Basis einer gesellschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung zu kalkulieren.[8] Ein Steuer-Subventionsmodell, das die Differenz zwischen privaten und gesellschaftlichen Kosten berücksichtigt, das privatwirtschaftlich rentable, aber die Gesellschaft belastende Produktion hoch besteuert und umgekehrt, privatwirtschaftlich nicht rentable, aber der Gesellschaft nützliche Produktion subventioniert, ist ein Weg, die Produktion den gesellschaftlichen Bedürfnissen anzupassen.[9] Ein solches Modell ist m.E. mit vielerlei Eigentumsformen zu praktizieren. Wichtig erscheint hierbei, dass zunächst nur globale Ziele vorgegeben werden, die dann ggf. auf Branchen- und Regionalebene zu differenzieren sind. Wichtig erscheint ferner, mit wenigen Vorgaben anzufangen. Sowohl das Informations- wie das Vorgabesystem können letztlich nicht am Grünen Tisch entworfen werden. Was wir brauchen, sind keine starren Vorgaben, sondern Grundlagen für ein in sich lernfähiges System.

Die Behauptung, dass der Staat aufgrund der Globalisierung der Kapitale nicht mehr in der Lage ist, durch seine Geld- und Fiskalpolitik soziale und ökologische Ziele durchzusetzen, und dementsprechend auch nicht mehr der Adressat humanis­tischer Forderungen sein könnte, ist falsch.


Die kapitalistische Logik ist kein Naturgesetz

Richtig ist, dass der hohe Grad der internationalen Verflechtung der Volkswirtschaften der nationalen Wirtschaftspolitik gewisse Grenzen setzt. Richtig ist aber auch, dass die Nationalstaaten sich durch den Verzicht auf jegliche Kapitalverkehrskontrollen, die noch bis in die 1980er Jahren bestanden, und die Freigabe spekulativer internationaler Finanztransaktionen selbst die Hände gebunden haben. Es ist erstaunlich, dass diese Kastration in den Parteiprogrammen und seitens der Gewerkschaften nicht stärker thematisiert wird. Die Gesellschaft hat ein Recht darauf, die Verschiebung des Mehrwertes, der im Inland von den abhängig Beschäftigten nicht zuletzt aufgrund bestimmter, von der Gesellschaft geschaffener Voraussetzungen erwirtschaftet worden ist, zu kontrollieren. Die Wiedereinführung einer effizienten, die internationale Mobilität des Finanzkapitals einschränkenden Kapitalverkehrskontrolle in Verbindung mit einer Neukon­struktion des internationalen Währungssystems würde nicht nur die Gefahren der weltweit sich zuspitzenden Finanzkrisen mindern, sondern dem Staat Handlungsspielraum zurückgeben um – bei entsprechendem Druck seitens der abhängig Beschäftigten – Politik im Interesse der Gesellschaft gestalten zu können.

Angesichts der Krise der existierenden Regulierungssysteme stehen grundlegende Veränderungen bei Strafe des Unterganges der Gattung Mensch auf der Tagesordnung. Die gegenwärtige Entwicklung wie die politischen Verhältnisse dürfen kein Anlass zur Resignation sein. Sie sind eine Herausforderung, realisierbare Alternativen denkbar zu machen.

Klaus Peter Kisker ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Mitglied im Beirat des Forum Gewerkschaften von Sozialismus.

[1] Francis Fukuyama, The end of history?, in: The Natural Interest, Nr. 16 (1989) S. 3ff.
[2] Vor dem Ersten Weltkrieg schwankten die Arbeitslosenquoten, soweit sie statistisch erfassbar sind, zwischen rd. 7% in der Rezession und unter 1% in den Boomphasen. Vgl. Knut Borchardt, Wandlungen des Konjunkturphänomens in den letzten hundert Jahre, in: Werner Abellhauser/Dietmar Petzina, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Königstein/Ts. 1981, S. 32f.
[3] J.M. Keynes, Nationale Selbstgenügsamkeit, in: H. Mattfeldt, Keynes – kommentierte Werkauswahl, Hamburg 1985, S. 159.
[4] Ich beschränke mich hier bewusst auf einige im engeren Sinn ökonomische Fragen und klammere die Probleme der politischen Durchsetzung durch die Formierung neuer hegemonialer Kräfte aus.
[5] Es ist bemerkenswert, dass es kaum allgemeine – d.h. von den spezifischen Problemen der osteuropäischen Ländern abstrahierende – theoretische Arbeiten zum Verhältnis von Markt und Plan gibt. Dieses Thema war und ist in der bürgerlichen Theorie ein Tabu. Aber auch die sozialistische Linke hat den Fehler gemacht, den Markt mit einer spezifischen Produktionsweise zu identifizieren, anstatt ihn zutreffend als Moment der Zirkulationssphäre zu untersuchen.
[6] Dabei ist zu beachten, dass es in der Realität nie einen von staatlicher Planung freien Kapitalismus gegeben hat, und dass in allen Notzeiten – wie z.B. während der beiden Weltkriege – der Markt immer weitgehend suspendiert wurde.
[7] Ausnahmen gibt es auf kommunaler Ebene.
[8] Eine Vergesellschaftung von Unternehmen sollte dann und soweit möglich sein, wie privates Kapital nicht bereit ist, unter den dann gegebenen Umständen das verbleibende Risiko der Produktion zu tragen. Die Übertragung der Eigentumstitel auf die Belegschaft garantiert alleine nicht die Rückbindung der Gewinne an die gesellschaftliche Arbeit. Ohne den gesetzlichen Rahmen kann sich eine Belegschaft genau so individualistisch verhalten wie ein Unternehmer.
[9] Vgl. Klaus Peter Kisker, Plädoyer für eine gesellschaftliche Profitorientierung, in: Utopie kreativ 198 (2007), S. 335-343

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