1. April 2008 Karl Georg Zinn

Das Ende des Laissez-Faire – wieder zu spät?

Frage: Was ist der Unterschied zwischen der amerikanischen Notenbank und einer Falschgelddruckerei? Antwort: Die Greenbacks der Fed sind echt, aber sonst gibt es keinen Unterschied.

Beide brauchen nur Papier und Druckerfarbe, und wenn das Produkt in den wirtschaftlichen Kreislauf fließt, steigt die Geldmenge bzw. Liquidität; die reale Nachfrage kann steigen; Produktion und Beschäftigung werden belebt, und der Wohlstand – wessen auch immer – nimmt zu. Gegenwärtig kommt die Wohlstandssteigerung infolge der Produktion zusätzlichen Geldes insbesondere fallierenden Banken und allgemein den Finanzmärkten zugute. Das ist auch gut so, um das mannhafte Politikerwort zu bemühen. Nicht nur gut für Banken und Finanzmärkte, sondern auch für die kapitalistische Realwirtschaft. Nach dem Börsenkrach 1929 fehlte es an vergleichbarer Bereitschaft, die Geldpresse in Gang zu setzen. Damals stürzte die Realwirtschaft innerhalb von drei Jahren (1929-1932) auf einen bis dahin unbekannten depressiven Tiefpunkt. Dieses historische Szenarium wird sich nicht wiederholen – oder etwas vorsichtiger formuliert: Es braucht sich nicht zu wiederholen. Denn was den Finanzmärkten fehlt, sind ja keine realen Ressourcen wie Rohstoffe, Energiegüter, Produkte der verarbeitenden Industrie etc., sondern lediglich jenes bedruckte Papier namens Geld. Wie gesagt, dass lässt sich leicht und billig herstellen – zum Glück für den Finanzkapitalismus. Allerdings müssten die echten "Falschmünzer" auch bereit sein, ihre Zauberkraft, aus dem Nichts ein gewaltiges Etwas zu schaffen, auch zu gebrauchen.

Die amerikanische Notenbank war nicht müßig. Seit dem Sommer des vergangenen Jahres ließ sie immer wieder sechsstellige Milliardenbeträge an US-Dollars in den US-Kreislauf fließen. Jüngst ging sie noch etwas weiter und intervenierte gezielt zugunsten eines einzelnen Instituts und hielt die Brokerfirma Bear Stearns mit einem Notstandskredit ein paar Tage über Wasser, bis das Institut per "Notverkauf" zu einem Spottpreis[1] von der Investmentbank JP Morgan erworben wurde. Der Aktienkurs von JP Morgan schnellte um zwölf Prozent nach oben – in einer baissierenden Börsenlandschaft. Selbstverständlich sind alle diese Manöver Symptome eines maroden Systems – des Systems der Überliberalisierung und des Laissez-Faire-Glaubens an die Selbstheilungskräfte des Marktes. Die Intervention der US-Notenbank findet eine (kleine) Stütze seitens der US-Finanzpolitik: Ausgabensteigerung und Steuersenkungen sollen die Kriseneffekte abfedern.

Europa vertraut (noch) auf gesunden Schlaf und lässt sich vom Schlaflied der EZB und der für Wirtschaft und Finanzen zuständigen Minister beruhigen: Die europäische Wirtschaft und die bundesdeutsche insbesondere seien "in guter Verfassung". Kein Grund zum Handeln. Man beobachte aufmerksam. Ist das beruhigend? In der Tat mag es wenig sinnvoll sein, die Leitzinsen massiv zu senken, aber Liquiditätsengpässen müsste vorgebeugt werden. Wenn Liquidität knapp ist, sollte Geld auch entsprechend teuer sein, aber prinzipiell verfügbar gemacht werden. Das Problem der EZB-Politik, ausschließlich der Währungsstabilität verpflichtet zu sein, wird jetzt zum Problem der europäischen Realwirtschaft. Gewiss, Inflation ist schlimm, aber eine schwere Rezession ist weitaus schlimmer. Die Folgen der seit Jahren verfehlten Wirtschaftspolitik, der Wachstumsschwäche und Massenarbeitslosigkeit geschuldet sind, lassen sich zwar nicht kurzfristig korrigieren, aber es wäre doch zumindest zu erwarten, dass eine deutliche Kursänderung vorgenommen wird. Realistisch erscheint das nicht, und der Großen Koalition des neuen Jahrhunderts fehlt nicht nur ein Karl Schiller, sondern auch die sozialstaatliche Moral der Nachkriegsjahrzehnte.

Die beschränkte Mainstream-Ökonomie

In dem berühmten Aufsatz "Das Ende des Laissez-Faire"[2] hatte John Maynard Keynes 1926 auf die eigenartige Gleichschaltung im ökonomischen Denken im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, also auf das, was heute als "Mainstream" bezeichnet wird, aufmerksam gemacht und einen anstehenden, für ihn notwendigen Paradigmenwechsel gefordert: "Über hundert Jahre wurden wir von unseren Philosophen regiert, die in diesem einen Punkt (Individualismus und laissez-faire; KGZ) wie durch ein Wunder fast sämtlich einer Meinung waren oder wenigstens zu sein schienen. Selbst heute tanzen wir noch nach der gleichen Melodie – aber ein Wechsel liegt in der Luft." Bekanntlich verhallten Keynes Ansinnen und Hoffnungen, bis es zu spät war und die Große Depression nicht mehr zu vermeiden war. Das fröhliche Laissez-Faire der durch Kredite finanzierten Spekulation fand sein Ende am Schwarzen Donnerstag der New Yorker Börse. Soweit sich in den folgenden Jahren – genauer ab 1932/33 – in einigen Ländern die Überwindung des wirtschaftlichen Niedergangs abzeichnete, geschah das mit massiven staatlichen Interventionen und neuen Regulierungen.

Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Selbst eingefleischte Finanzkapitalisten konstatieren heute, dass die "Selbstheilungskräfte des Marktes" unter den gegenwärtigen Umständen am Ende sind.[3] Ohne staatliche Hilfen in großem Umfang verseucht die Krise der Finanzmärkte die Realwirtschaften. Dass und wie größere Finanz- bzw. Bankenkrisen nur durch staatliche Eingriffe überwunden werden können, ließ sich allerdings auch in jüngerer Vergangenheit beobachten. Die japanische Bankenkrise schwärte über die gesamten 1990er Jahre, weil sich die japanische Regierung nicht zu problemgerechten Interventionen entschied. Als sie dann zum Jahrhundertende doch damit begann, die faulen Kredite der japanischen Banken aus Steuermitteln aufzufangen, d.h. die Verluste zu sozialisieren, wurden (bis 2006) etwa 260 Milliarden Euro (40 Billionen Yen) bereinigt.[4] Inzwischen machen Japans Banken wieder einen relativ gesunden Eindruck. Noch eindrucksvoller erscheint das "schwedische Sanierungsmodell", das in den 1990er Jahren die heillos überschuldeten Privatunternehmen vor dem drohenden Zusammenbruch bewahrte.[5] Aus dem einstigen "Thatcher-Land" wurde ebenfalls bekannt, dass die schottische Immobilienbank Northern Rock in den Armen von Vater Staat landete. Die nach wie vor beschworenen Marktkräfte hätten das Institut pleite gehen lassen, und es hätte lachende Dritte gegeben, aber vielen kleinen Sparern wäre nur das Nichts geblieben.

Keynes gehörte nicht nur zu den besten Ökonomen des vergangenen Jahrhunderts, sondern im Unterschied zur großen Mehrheit seiner Fachkollegen hatte er – vergleichbar mit Marx und Schumpeter – einen klaren Blick für die sozialen, politischen und menschlichen Folgen wirtschaftspolitischen Handelns, und seine Prognosen zur Entwicklung des kapitalistischen Systems erwiesen sich in ihrer Treffsicherheit allen Konkurrenzversuchen als überlegen. Seine Kritik an dem Herdenkonformismus und Karriereopportunismus vieler seiner Fachgenossen hat leider an Aktualität nichts eingebüßt: "… die vorsichtige und undogmatische Einstellung der besten Nationalökonomen … (vermochte sich; KGZ) nicht gegen die allgemeine Meinung durch(zu)setzen, daß sie eigentlich das individualistische laissez-faire zu lehren hätten und de facto auch wirklich lehren".[6] Wenn die wirtschaftspolitische Beratung, die in den Massenmedien (vorwiegend) propagierte Wirtschaftslehre und die aus Steuermitteln finanzierte ökonomische Forschung und Lehre auf eine herrschende Doktrin festgelegt, pluralistischer Theorienwettbewerb und deren personale Träger ausgeschlossen werden, ergeben sich Situationen wie die gegenwärtige: Das Kind fällt in den Brunnen, weil ihn rechtzeitig abzudecken den freien Markt zu reglementieren bedeutete, und das wäre wider die herrschende Lehre. Nun ja: "die Schönheit und Einfachheit dieser Theorie sind so groß, daß man leicht vergisst, daß sie nicht den wirklichen Tatsachen entspricht, sondern sich aus einer der Einfachheit halber angenommenen unvollständigen Hypothese ableitet".[7]

Dennoch hat sich seit der Großen Depression ein klein wenig verändert, wie die Intervention der amerikanischen Zentralbank zeigt. Vielleicht widerlegt die Wirklichkeit doch Keynes pessimistische Einschätzung von 1926, als er bemerkte: "Mir scheint, daß heutzutage keine einzige Partei auf der ganzen Welt das richtige Ziel mit den richtigen Mitteln verfolgt."[8]

Karl Georg Zinn ist emeritierter Hochschullehrer der Volkswirtschaftslehre der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen.
[1] JP Morgan zahlte 2 US-$ für eine Aktie von Bear Stearns. Der Kurs stand kurz zuvor noch bei 30 US-$.
[2] John Maynard Keynes, Das Ende des Laissez-Faire, München-Leipzig 1926; wieder abgedruckt in: Harald Mattfeldt (Hrsg.), Keynes. Kommentiere Werkauswahl, Hamburg 1985, S. 96-116 (wir zitieren: Keynes, 1926/1985).
[3] Anna Sleegers/Markus Günther, Ackermann ruft in Finanzkrise um Hilfe, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 66, vom 18.3.2008, S. 16: "Wie dramatisch die Lage an den Finanzmärkten ist, zeigte der Auftritt von Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann auf einer Veranstaltung in Frankfurt. ›Es fällt mir schwer, es zu sagen, aber ich glaube nicht mehr an die Selbstheilungskräfte der Märkte‹, sagte der Manager."
[4] Finn Mayer-Kuckuck, Mit Steuergeldern aus der Misere, in: Handelsblatt, Nr. 55, 18.3.2008, S. 25.
[5] Helmut Steuer, In Schweden greift der Staat ein, in: Handelsblatt, Nr. 55, 18.3.2008, S. 25.
[6] Keynes, 1926/1985, S. 105.
[7] Ebenda, S. 107.
[8] Ebenda, S. 116.

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