1. Oktober 2008 Joachim Bischoff / Richard Detje

Das Ende des Wallstreet-Dollar-Regimes

Wir erleben die schwersten Turbulenzen des Finanzsystems seit der Weltwirtschaftskrise 1929. Länger als 14 Monate tobt ein Entwertungsprozess durch die Geschäftsbücher der Finanz­institute. Der ehemalige US-Notenbankchef Alan Greenspan spricht zu Recht von einer "Jahrhundertkrise".

Schon jetzt sind alle Größenordnungen übertroffen: Die bis September bei den Finanzinstituten erfolgten Wertberichtigungen werden auf rund 500 Mrd. $ geschätzt. Allein in den USA sind bislang ca. 900 Mrd. $ öffentliche Mittel gegen die Finanzkrise eingesetzt worden. Zusätzlich soll ein staatlicher Geldfonds in der Größenordnung von 700 Mrd. Dollar die Sanierung der Banken ermöglichen. Jetzt sprechen alle davon: die Krise ist noch längst nicht ausgestanden und es existiert noch immer reichlich Steigerungspotenzial.

Die US-Notenbank hat den weltgrößten Versicherungskonzern AIG mit einem Kredit von 85 Mrd. $ zumindest vorläufig vor dem Konkurs bewahrt. Der Konzern hatte Ende 2006 noch einen Marktwert von 190 Mrd. $. Mit diesem Eigenkapital wurde allein bei Assets ein Versicherungsvolumen von 1.000 Mrd. $ bewegt. Als der Prozess der Wertberichtigungen einsetzte, erwiesen sich die Relationen als haltlos: Allein in den letzten drei Quartalen wurden 42 Mrd. $ an Werten abgeschrieben. Dies ist freilich nur ein Bruchteil der anfälligen Kreditversicherungen in Höhe von 441 Mrd. $, darunter auch 58 Mrd. $ Kreditabsicherungen für minderklassige Hypothekenpapiere. Nach massiven Kursverlusten war AIG zum Zeitpunkt der Verstaatlichung noch 6 Mrd. $ wert, was bei den anstehenden Ausfallbeträgen ohne staatliche Intervention den Gang zum Konkursgericht bedeutet hätte. "Verstaatlichung" durch den US-Steuerzahler war angesagt, weil kein Kapitaleigner die Milliardenverluste und -risiken übernehmen wollte.

Wenige Tage zuvor wurden die halbstaatlichen Hypothekeninstitute Freddie Mac und Fannie Mae verstaatlicht. Die Dimensionen dieses Vorgangs verdeutlichen, dass die Risiken, die aus dem Platzen der Immobilienblase in den USA resultieren, bis heute unterschätzt werden. Das Volumen der Kreditverträge beläuft sich auf rund 12 Billionen $. Weil die Häuserpreise sich in einer chronischen Talfahrt befinden, werden immer mehr Hypothekenkredite notleidend, d.h. sie können nicht mehr mit Zinsen und Tilgungsraten bedient werden. Knapp 50% der Immobilienwerte – d.h. Kreditverträge im Wert von 5,4 Billionen $ – werden über Fannie Mae und Freddie Mac gehalten. Diese Institute waren trotz ihres halbstaatlichen Status am Ende, weil mit einem Eigenkapital von 40 Mrd. $ eine solche Kreditsumme mit wachsenden Wertberichtigungen nicht gestemmt werden kann. Auch die vorgesehene Aufstockung des Eigenkapitals um 200 Mrd. $ dürfte die zu erwartenden Wertabschreibungen nicht kompensieren. Insgesamt ist mit einer durchschnittlichen Absenkung der Immobilienpreise um 20-30% zu rechnen. Das bedeutet, dass sich Fannie Mae und Freddie Mac auf ein Abschreibungsvolumen von mehr als einer Billion Dollar einstellen müssten. Folglich überzeugt die jetzige Auffangposition die meisten Experten nicht.

Das gilt auch für die 300 Mrd. $, die der Kongress für den Hypothekenversicherer Federal Housing Administration bewilligt hat und mit denen notleidende Kredite refinanziert und mit staatlichen Garantien versehen werden. Die Eindämmung der Immobilienkrise wird weit höhere öffentliche Mittel beanspruchen.

Die Bush-Administration hat ergänzend zu den bisherigen Verstaatlichungsoperationen ein Programm ausgearbeitet und mit dem Kongress verhandelt, um einen staatlichen Rettungsfonds mit rund 700 Mrd. $ auszustatten. Mit diesem Fonds sollen – wie bei der Sanierung der Saving and Loan-Krise in den 1980er Jahren – mit öffentlichen Mitteln von den Finanz­instituten notleidende Wertpapiere und Kredite aufgekauft und später ohne Zeitdruck sukzessive wieder verkauft werden. Damals zeigte freilich der reale Akkumulationsprozess eine Wachstumsdynamik, die gegenwärtig nicht vorhanden ist. Mit dem mittlerweile kumulierten Rückgriff auf öffentliche Finanzen in einer Größenordnung von ca. 1,7 Billionen $ wird die Staatsverschuldung massiv ausgeweitet. Der Steuerbürger soll für die Verluste zahlen und der Handlungsspielraum der politischen Institutionen wird weiter eingeschränkt. Vorstellbar ist, dass damit weitere Zusammenbrüche im Bankensystem verhindert werden – das hängt nicht zuletzt davon ab, wie die nunmehr beginnenden Verteilungsauseinandersetzungen zwischen den Banken und den Regierungsstellen um den Preis der notleidenden Papiere ausgehen.

Die Bush-Administration mit ihrem neuen Star, Finanzminister Henry Paulson, springt trotz des enormen Einsatzes von Steuergeldern zu kurz. Im Fokus steht die Rettung der Finanz­institutionen. Zu Recht kritisieren die Demokraten das Fehlen eines ergänzenden Programms, das den privaten Haushalten stärker unter die Arme greift und die konjunkturelle Entwicklung in den USA stützt. Und sie kritisieren ebenfalls zu Recht die "nie dagewesene Machtfülle", die das Finanzministerium mit dem 700 Mrd. $-Notfallprogramm beim Zugriff auf das Vermögen der Nation erhält. Von demokratischen Entscheidungen, Transparenz und Kontrolle keine Spur. "Eigentlich haben wir in Amerika Gesetze und Regeln, an denen wir uns orientieren. Aber inzwischen entscheiden nur noch wenige Akteure, wer übrig bleibt und wer nicht. Keiner weiß, warum Lehman nicht gerettet wurde. Es ist ein völlig intransparenter Vorgang und zeigt das schlechte Regieren." (Joseph Stiglitz in der FAZ vom 21.9.2008) Gleichwohl: die Demokraten werden nach einigen ergänzenden Zusagen dem Notprogramm zustimmen, weil sie selbst keine Konzeption zur Erneuerung der US-amerikanischen Gesellschaft haben.

Auch wenn hiesige Banker das baldige Ende der Finanzkrise beschwören, werden uns die Wertverluste noch weit in das Jahr 2009 begleiten. Statt einer Verringerung der Sprengkraft müssen wir von der Möglichkeit einer "Kernschmelze" des Weltfinanzsystems ausgehen. Es gilt, sich die ganze Dimension des Platzens der Vermögenspreisblase vor Augen zu führen. Im Zentrum stehen die weit überzogenen Häuser- und Grundstückspreise in den USA und einigen weiteren kapitalistischen Hauptländern. Die auf diese Preise ausgestellten Hypothekenkredite müssen wertberichtigt werden und gleichermaßen die darauf bezogenen Versicherungen auf Zahlungsausfälle. Die Finanzinstitute haben die Hypothekenpapiere zur Entwicklung weiterer Finanzprodukte genutzt, womit die Kette der Entwertung länger geworden ist. Zugleich hat der Vertrauensverlust auch andere Wertpapiere erfasst, sodass beträchtliche Teile des "fiktiven Kapitals" – fiktiv, weil bloß illusorisch-symbolischer Ausdruck des Realkapitals im Produktionsprozess – deutlich geringer bewertet werden.

Allerdings: Hinter dem Berg notleidender Hypotheken- und sonstiger Kredite für private Haushalte steht die enorme Verschuldung. Der Prozess der Entwertung von Krediten und Wertpapieren wird durch zeitliche Streckung weniger dramatisch ablaufen. Der Prozess der Reproportionierung von privatem Konsum und Kredit wird aber über die nachfolgende Kontraktion des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses weitere Zuspitzungen bringen. Hier zeigt sich die Achillesferse aller bisherigen Rettungsversuche: Sie zielen nahezu ausschließlich auf das Finanzsystem und lassen den Zusammenhang von gesellschaftlicher Reproduktion und den Verteilungsverhältnissen außer Acht.

Entkoppelung von der Realökonomie und die Folgen

Die massiven Entwertungsprozesse sind eben nicht die Folge einiger spekulativer Finanztransaktionen. Vielmehr hat sich das Finanzsystem von dem realen Verwertungsprozess des Kapitals entkoppelt. Die aktuellen Korrekturen sind mit einer massiven Vernichtung von Eigentumstiteln verbunden. Seit Jahren basiert der Konsum der privaten Haushalte zu einem guten Teil auf Pump. Die neoliberale Politik hat seit Jahrzehnten die Konsumenten zur Verschuldung ermutigt. Das auf Pump basierende Hauseigentum ist nur die Spitze des Eisbergs; die Verschuldung durch Kreditkartenkäufe, Autokäufe, Studiengebühren usw. liegt teilweise deutlich über dem monatlichen Nettohaushaltseinkommen. Ausgehend vom Immobilienmarkt bricht dieses Kartenhaus der privaten Verschuldung jetzt zusammen.

Das systemische Risiko zunächst für das US-Finanzsystem ist gewaltig. Etliche der US-Finanzunternehmen waren im Verhältnis von 30 zu 1 verschuldet und haben ihre Geschäfte überwiegend mit kurzfristigen Operationen refinanziert. Können diese ihren Schuldenberg aufgrund des Misstrauens unter den Finanzinstituten nicht mehr regelmäßig umschichten, sind sie massiv verwundbar. Der Notfonds der US-Regierung hat die Funktion, über eine Zwischenfinanzierung die notwendige Zeit zu schaffen, um Not- und Panikverkäufe von Wertpapierpositionen zu verhindern. Es muss aber auch um eine Reproportionierung der Verteilungsverhältnisse gehen. Wenn die Politik diese Gestaltungsaufgabe ignoriert, wird der naturwüchsige Bereinigungsprozess weitere Interventionen erzwingen.

Mit dem Schrumpfungsprozess der Finanzsphäre wird der zyklisch bedingte Abschwung in der Kapitalakkumulation verstärkt. Und umgekehrt. "Zu den Verlusten, die im Zusammenhang mit den verbrieften US-Immobilienkrediten aufgetreten sind, kommen nun zunehmend noch die Kreditausfälle hinzu, die typischerweise in konjunkturellen Abschwüngen auftreten und die Bankbilanzen belasten. Inzwischen haben sowohl Ausfälle als auch Zahlungsverzögerungen bei Krediten ein höheres Niveau erreicht als während der Rezession im Jahr 2001, wobei Kredite an Konsumenten und Unternehmen gleichermaßen betroffen sind." (Institut für Weltwirtschaft Kiel, September 2008)

Die schwerste Krise des Finanzsystems ist auch eine Krise der USA als ökonomischer Führungsmacht der kapitalistischen Hemisphäre. "Die Wall Street, wie man sie lange kannte, hat aufgehört zu existieren", bilanziert das gleichnamige Journal. Dabei geht es nicht nur um das Geschäftsfeld des Investmentbanking und den Neuzuschnitt der Bankenlandschaft. Es geht nicht zuletzt um den US-Dollar, da die aktuelle Mischung von globaler Finanzkrise und zyklischer Abschwächung der internationalen Konjunktur auch in den Währungsrelationen noch relevante Korrekturen erzwingt. Die politische Klasse und die wirtschaftliche Elite der entwickelten kapitalistischen Länder drängen daher alle führenden kapitalistischen Nationen zu einer konzertierten Aktion. Die Krise bringt das Ende des Jahrzehnte dominanten Wallstreet-Regimes der großen Finanz­institute und wird die Rolle des Dollars im gegenwärtigen Weltwährungssystem erneut in Frage stellen.

Die Furchen, die die globale Finanzkrise in den Volkswirtschaften zieht, zeigen sich in der Krise der japanischen Ökonomie ebenso wie in der Rezession der Europäischen Union und der britischen Industrie. Die Realökonomie schrumpft in der EU seit dem 2. Quartal 2008. Für das kommende Jahr prognostiziert das Kieler Institut für Weltwirtschaft für Frankreich und Italien einen Rückgang des BIP um 0,3% und für das ebenfalls durch das Platzen der Immobilienblase gebeutelte Spanien um 1,2%. Insgesamt wird für die Länder des Euroraums bestenfalls mit einer Stagnation gerechnet. Für Deutschland brechen damit die wichtigsten Exportmärkte – deren Nachfrage seit 2006 für den Aufschwung und sprudelnde Unternehmensgewinne hierzulande gesorgt hatte – weg, was auch durch weitere Markteroberung in Asien sowie Mittel- und Osteuropa nicht kompensiert werden kann. Seit Ende 2007 nimmt die Nachfrage nach Industrieprodukten – vor allem aus dem Euroraum – ab. Im verarbeitenden Gewerbe lag das Volumen des Auftragseingangs im Juli um 9,1% unter dem Niveau vom Dezember 2007. Seit dem 2. Quartal dieses Jahres befindet sich die Wirtschaft in Deutschland in einer Rezession. Sie wird sich verstärken, wenn in den kommenden Monaten die Investitionen von ihrem bislang hohen Niveau heruntergefahren werden. Die Folgen werden sich mit gewisser zeitlicher Verzögerung auf den Arbeitsmärkten und bei den Steuereinnahmen zeigen. Die von der politischen Klasse und der wirtschaftlichen Funktionselite kolportierten Versprechungen einer durch Unternehmenssteuersenkungen, Sozialstaatsabbau und flexibilisierte Arbeitsmärkte herbeigeführten Prosperitätskonstellation lösen sich in Luft auf.

Casino-Kapitalismus aus den Fugen geraten

Mit dem Platzen der ökonomischen Träume wird in den Metropolen das bürgerliche Weltbild erschüttert. "Dies ist eine demütigende Zeit für die Vereinigten Staaten von Amerika", erklärte "King Henry" Paulsen angesichts der Verstaatlichungs- und Regulierungsaktionen der Bush-Administration. Demütigend allerdings nicht für das Land, sondern für seine Neoliberalen, deren Programm einer "Eigentümergesellschaft" im Strudel der Immobilienkrise ebenso untergegangen ist wie das Versprechen, dass Märkte allein Steuerungskompetenz besitzen. Doch soll man sich auch nichts vormachen: Zwar ist die Emphase verschwunden, mit der Marktentscheidungen gleichsam als höchstes demokratisches Plebiszit des konsumfreudigen Citoyens gefeiert wurden, aber der Streit über die weitere Zukunft des bürgerlichen Lagers ist noch nicht ausgefochten.

"Kann Globalisierung gerecht sein?", fragt der konservative Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio und lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er den Markt und seine weltweite Öffnung trotz globaler Finanzkrise als das absolut überlegene "Entdeckungsverfahren" der Moderne ansieht. Doch die Übersetzung von kapitalistischer Rationalität in gesellschaftlichen Progress nimmt in einer Zeit, in der die säkularisierte Nation erodiert, selbst krisenhafte Formen an: "Wenn der Horizont der Nation verblasst, weil die Eliten nur noch als international vernetzte Funktionsträger unter sich sind und die so genannten Modernisierungsverlierer unter Zahlung eines wohlklingenden Bürgergeldes in der Bilanz der Wirtschaftsgesellschaft als abgeschrieben gelten dürfen, dann wird die schrumpfende und zahlende Mitte allein die Gesellschaft nicht mehr zusammenhalten können, weder materiell noch ideell." (FAZ vom 22.9.2008) In Frankreich hat sich ein Teil der wirtschaftlichen Elite mit noch größerem Alarmismus zu Wort gemeldet: sie sieht das Land in einer vorrevolutionären Periode – im Sinne von 1789 –, wobei der Funke von der Mittelschicht ausgehen könnte, die unter wirtschaftlichen Druck geraten und erzürnt sei, dass der Abstand zur kleinen Klasse der Privilegierten – also den Vermögenden und ihrem Management mit ihren hohen Einkommen und ihren goldenen Fallschirmen – immer größer wird. In der Tat: Die Kehrseite des großen Schuldenbergs bei der Mehrheit der Bevölkerung ist der unermessliche Reichtum der kleinen Elite. Es geht daher auch nicht um "Gier", sondern die Verteilungsverhältnisse sind im Casino-Kapitalismus aus den Fugen geraten.

Die Zukunft der Nation und die Beherrschung der gesellschaftliche Ausgrenzung sind zwei Themen im bürgerlichen Diskurs. Mit Blick auf die "Mitte" kommt die Frage nach der Zukunft einer meritokratischen, also auf Leistungsgerechtigkeit gründenden Ordnung hinzu. In den Worten von Peter G. Peterson, ehemaliger US-Handelsminister und einer der Gründer sowie jetziger Chairman der Blackstone Group (einer der weltweit führenden Private Equity-Gesellschaften): "Amerika hat sich in eine fiskalisch zügellose, verantwortungslose, kurzsichtige, nur Ansprüche stellende Gesellschaft verwandelt... Heute haben wir praktisch eine persönliche Sparrate von 0% des verfügbaren Einkommens, in manchen Monaten sogar eine negative Sparrate, während es vor 15 Jahren vielleicht um die 8%, 9% waren." (FAZ vom 18.9.2008) Hier wird deutlich, wie gegensätzlich sich die sozialen Wahrnehmungen in der Gesellschaft entwickeln: Die Manager der maßlosen Bereicherung leistungsloser Geldvermögen geißeln die Verschuldung von Menschen, die trotz unzureichender und teilweise auch nur diskontinuierlicher Lohneinkommen die Fiktion der Eigentümergesellschaft geträumt haben.

Ohne Zweifel: Die bürgerliche Gesellschaft in den USA hat über ihre Verhältnisse gelebt; das zeigt sich an dem aufgehäuften Schuldenberg der privaten Haushalte, der unter dem wachsenden Druck der Verteilungskonflikte nicht abgetragen werden kann; dies zeigt sich bei der öffentlichen Verschuldung und der extremen Abhängigkeit der USA vom Kapitalzufluss, um die vielfältigen Konsumansprüche aufrecht erhalten zu können. Eine Reproportionierung von Produktion, Revenueverteilung, Konsum, privatem und öffentlichem Eigentum ist im Gange. Die Frage ist, wen es trifft. Wir haben es mit einer Entkoppelung der Logik "Lassen Sie ihr Geld arbeiten" vom eigentlichen Wertschöpfungsprozess zu tun. Die Hoffnung auf eine Rückkehr zu den bürgerlichen Wertorientierungen eines meritokratisch strukturierten Kapitalismus ist in Zeiten eines Finanzmarktkapitalismus eine Illusion.

Neoliberale Versprechen geplatzt

Jahrzehntelang haben neoliberale Ideologen und Propagandisten die öffentliche Meinung darin bestärkt, dass im entwickelten Kapitalismus Geld- und Vermögensansprüche eine neue Qualität produziert hätten. Angesichts der offenkundigen Entlarvung dieser großen Erzählung konstatiert der Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, eine "ausbleibende Empörung, (den) Defätismus einer Gesellschaft, die in den letzten Jahren, ohne es zu merken, eine verheerende Vernichtung ihrer Ideale erlebt hat... Die neoliberale Ideologie hat einen Vernunft- und Glückszusammenhang zwischen Individuum und Globalisierung hergestellt, der ausschließlich ökonomisch begründet war." (FAZ vom 18.9.2008) Es geht aber nicht um eine Einengung auf eine ökonomische Begründung. Im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung hat die bürgerliche Klasse alle ihre Wertorientierungen – von der Notwendigkeit des Sparens bis hin zur Nation und dem Nationalstaat – preisgegeben. Die neoliberale Ideologie hat einen Vernunft- und Glückszusammenhang zwischen Individuum und Globalisierung versprochen, der nun mit dem Platzen der Vermögensblase auch ökonomisch am Ende ist.

Es kann nicht mehr in Abrede gestellt werden, dass der entfesselte Kapitalismus sich durch die eigene Logik diskreditiert hat. Die Tugenden des verantwortlichen Kaufmanns wurden kleingeschrieben, Gier, Überheblichkeit und gesellschaftliche wie nationale Bindungslosigkeit machten das Rennen. Noch ist das offenkundige Scheitern des säkularen Projekts der Entfesselung nicht verarbeitet. Einen Rest Hoffnung haben sich die Systemverteidiger bewahrt: "Vielleicht würde ein Wechsel in der Optik genügen, die jüngsten Geschehnisse etwas weniger apokalyptisch auszulegen. Wie jedes kreative System profitiert auch der Kapitalismus von periodischen Untergängen im Binnenhaushalt. Diese setzen nämlich – wie auch das Menetekel der 'Titanic' lehrt – schöpferische Kräfte in Gang, deren Gewinn zwar keine Garantien hat, doch die Motivation der Handelnden frisch sowohl mit Adrenalin wie mit unternehmerischer Selbstkritik versorgt." (NZZ vom 18.9.2008)

Noch ist der Wechsel in der Optik bei den Systemverteidigern nicht erkennbar. Allerdings: Ein Teil der Fans der Marktsteuerung mutiert zu Regulierungsanhängern. Es wird derartig flugs verstaatlicht, dass sich die Balken oder die gesellschaftlichen Konten biegen. Es geht aber um weit mehr als Bankenaufsicht und ein paar Schranken für Kreditgeschäfte. Die Dominanz der Finanzmärkte über die Realökonomie muss aufgehoben werden. Wir brauchen eine progressive Besteuerung aller Kapital- und Vermögenseinkommen und wir müssen neben der Kontrolle von Finanztransaktionen auch eine entsprechende Besteuerung durchsetzen. Und: Die Privatisierung der sozialen Sicherheit muss rückgängig gemacht und alle Einkommensarten zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden. Die Linke ist herausgefordert, ihre weitgehende Sprachlosigkeit und Zurückhaltung aufzugeben.

Joachim Bischoff (von ihm erschien gerade das Buch "Globale Finanzkrise") ist Mitherausgeber, Richard Detje Redakteur von Sozialismus.

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