1. Dezember 2003 Mario Keßler

Das Jahrhundert der Extreme – autobiographisch gewogen

Der Historiker des "Zeitalters der Extreme", so der Titel seines erfolgreichsten Buches, hat die Perspektive gewechselt: Nun beschreibt Eric Hobsbawm sein Saeculum aus persönlicher Sicht.[*]

Mit diesen Lebenserinnerungen, in England unter dem Titel "Interesting Times" erschienen, legt er Rechenschaft über sein politisches Denken und seine wissenschaftliche Arbeit ab. Dieses Buch, so Hobsbawm, ist gewissermaßen "die B-Seite von Das Zeitalter der Extreme: nicht Weltgeschichte, veranschaulicht durch die Erfahrungen eines Einzelnen, sondern Weltgeschichte, die diese Erfahrung formt oder vielmehr eine wechselnde, aber stets begrenzte Anzahl von Wahlmöglichkeiten anbietet, aus denen, um ein Wort von Marx zu gebrauchen, ›die Menschen ... ihre eigene Geschichte machen, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen‹." (S. 11)

Dies waren die Umstände von Hobsbawms Kindheit und Jugend: Er wurde 1917 in Alexandria als Sohn eines Engländers und einer Österreicherin geboren und wuchs zweisprachig in Wien und Berlin im unteren Mittelstand, aber "in einer transnationalen Welt" auf (S. 72). Das Trauma von verlorenem Krieg und Zusammenbruch der Monarchien, von Revolution und Inflation, von nur halb geglückter Demokratisierung und politischer Polarisierung prägte das Leben seiner Umwelt in beiden Großstädten. Hobsbawms Umwelt, das war vor allem seine weitverzweigte jüdische Verwandtschaft, die ihm nach dem frühen Tod der Eltern Halt bot, das war aber auch die Welt der Kultur und die Politik, die den Gymnasiasten ergriff und nie mehr losließ. Hobsbawms Rückblick ist frei von jeder Nostalgie auf die verschwundene Welt des Mitteleuropas der Kaiserreiche, deren Geist auch in der Zwischenkriegsepoche noch spürbar war. Befremdlich für den Rezensenten wirkt allerdings Hobsbawms en passant als "persönliche Meinung" geäußerte Vermutung, "dass das deutsche Europa, das nach einem Sieg des Kaisers entstanden wäre, möglicherweise eine bessere Lösung gewesen wäre als die Welt von Versailles". (S. 470) Unterschätzt Hobsbawm hier nicht das Hohenzollern-Regime mitsamt seinen militaristischen Institutionen wie seinen Kriegszielen?[1]

Die großen sozialen Gegensätze, der Nationalismus und Antisemitismus bewogen Hobsbawm, sich auf die Seite der Linken zu schlagen, die selbst zutiefst uneinig war. "Die englische Staatsbürgerschaft immunisierte mich wahrscheinlich und zum Glück auch gegen die Verlockungen eines jüdischen Nationalismus, wenngleich der Zionismus unter der mitteleuropäischen Jugend im allgemeinen mit gemäßigten oder revolutionären sozialistischen Auffassungen Hand in Hand ging." (S. 41) Am Berliner Prinz-Heinrichs-Gymnasium, an dem er die dramatische Endphase der Weimarer Republik erlebte, herrschte ein konservativer Geist, wenngleich der Nazismus nicht dominierte. Es war somit keineswegs ausgemacht, dass Hobsbawm Anschluss an das Milieu der KPD finden würde.[2] Dass dies geschah, war dem beharrlichen Werben eines etwas älteren Jungkommunisten geschuldet, der wie Hobsbawm Familienangehörige in England hatte. Rudolf Leder, der, obgleich keineswegs proletarischer Herkunft, "sich in der bürgerlichen Umgebung unserer Schule deplaziert fühlte", wurde später unter seinem Schriftstellernamen Stephan Hermlin berühmt (S. 84).

Obwohl Eric Hobsbawm durch seinen britischen Pass nach der Errichtung des Hitler-Regimes geschützt war, ging er mit seinen Verwandten, deren wirtschaftliche Existenz durch den antijüdischen Boykott zerstört wurde, nach England. Dieses Land war 1933 "noch immer eine abgekapselte Insel, auf der das Leben nach ungeschriebenen, aber zwingenden Regeln, Ritualen und erfundenen Traditionen geführt wurde". (S. 110) Hobsbawm konnte Berlin nicht vergessen, und sein Tagebuch führte er weiterhin auf Deutsch. Doch wurde er zunehmend "britischer", und die Erfahrungen des Wechsels von einer Welt in die andere sollte sich für seine Geschichtsschreibung, in der die vergleichende Perspektive so prägnant ist, als ungemein nützlich erweisen. Hobsbawm bestand (auch dank der guten britischen wie kontinentalen Gymnasialbildung) die Begabtenprüfung für die Zulassung zur Universität. 1936 nahm er am King’s College in Cambridge das Geschichtsstudium auf. Cambridge war damals "eine introvertierte Kleinstadt auf dem Land am Rand von East Anglia"; die Universität sah ihre Aufgabe "zumindest in den Geisteswissenschaften nicht darin, Fachgelehrte auszubilden, sondern die Mitglieder einer herrschenden Klasse zu formen." (S. 129, 135) Die Professoren, die Dons, gehörten meistens zur liberalen Mitte, doch gab es, vor allem unter den Naturwissenschaftlern, auch eine starke linke "Fraktion".

Den Zweiten Weltkrieg erlebte Hobsbawm in den rückwärtigen Diensten; so half er lange Zeit, Befestigungsanlagen gegen eine vermutete deutsche Invasion Englands anzulegen. Der in Deutschland und Österreich Aufgewachsene blieb trotz seines akzentfreien Englisch und trotz des britischen Passes den Dienststellen oft suspekt. Doch wurde er nach Kriegsende in Deutschland als britischer Armeeangehöriger eingesetzt, um gefangene Deutsche zu vernehmen – darunter seinen späteren Kollegen, den Bielefelder Sozialhistoriker Reinhart Koselleck. Er war in engem Kontakt mit Exilanten aus Mitteleuropa, von denen einige, wie der Dichter Erich Fried und besonders der Maler Georg Eisler, seine Freunde wurden.

Nach dem Krieg begann seine akademische Laufbahn als Historiker. Die ursprünglich geplante Arbeit zur Sozialgeschichte Französisch-Nordafrikas gab Hobsbawm bald zugunsten einer Forschungsarbeit über die Fabian Society und ihre Wirkungsgeschichte auf. Doch nach der 1950 in Cambridge erfolgten Promotion gestaltete sich die akademische Laufbahn zunächst schwierig. Grund war Hobsbawms Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei. Der Bruch Stalins mit Tito und die Vernichtung der Demokratie in Osteuropa konnten Hobsbawm nicht dazu bringen, die Partei zu verlassen. Warum nicht – diese Problematik gehört zu den instruktivsten Teilen des Buches. Hier sei nur angedeutet, dass er sich, und dies war typisch für das kommunistische Denken der Zeit, keinen gesellschaftlichen Fortschritt in Frontstellung zur Sowjetunion vorstellen mochte. Hobsbawm fand zunächst nicht und dann nur schlecht bezahlte Lectureships am King’s College in Cambridge und am Birkbeck College in London. Die letztgenannte Hochschule wurde schließlich sein dauerhaftes wissenschaftliches Heim. Bis es soweit war, verspürte er schmerzhaft den "Ausschluss" von Kommunisten "aus der intellektuellen Gemeinschaft" am eigenen Leib – gerade Linksliberale behaupteten immer wieder, ein Kommunist könne nichts anderes sein als ein Agent Moskaus. (S. 215)

Nach Jahren der Ungewissheit hatte Hobsbawm jenes Glück, das ein Wissenschaftler in einer Außenseiterposition unbedingt braucht: Der Verleger George Weidenfeld beauftragte ihn Ende der 1950er Jahre, einen Band über das Zeitalter der Revolutionen 1789 bis 1848 zu schreiben. Das Buch erschien 1962 im großen Publikumsverlag Weidenfeld & Nicholson und machte seinen Verfasser schlagartig bekannt, nach den Übersetzungen auch im Ausland. Endlich hatte er auch eine Festanstellung am Birkbeck College, aber Hobsbawm musste 54 Jahre alt werden, bevor er den Titel eines Professors erhielt. Doch diese intellektuelle Selbstbiographie ist auch ein Beispiel dafür, wie ein Wissenschaftler seiner politischen Überzeugung treu bleibt und dennoch sich aus seiner beruflichen Bahn nicht hinausschleudern lässt. Allerdings war England weder mit den USA noch mit der Bundesrepublik oder den so genannten realsozialistischen Ländern vergleichbar, wo unangepasste Wissenschaftler es ungleich schwerer hatten. Blauäugig war Hobsbawm allerdings nicht. Die Defizite in den sich sozialistisch nennenden Ländern nahm er durchaus wahr. Allerdings bedurfte es der moralischen Erschütterung durch Chruschtschows "Geheimrede" auf dem 20. KPdSU-Parteitag im Februar 1956, um sich vom Kommunismus als säkularem Glauben zu lösen. Erst hier begann wirklich die Verwandlung des Eric Hobsbawm von einem Parteisoldaten zu einem kritischen Marxisten. Er schildert beredt und mit vielen Details, wie sich der Ablösungsprozess vom Stalinismus auch bei seinen Freunden, kommunistischen Wissenschaftlern gleich ihm, vollzog. Doch im Unterschied zu E.P. Thompson, Christopher Hill, Ralph Miliband, Rodney Hilton oder John Saville blieb Hobsbawm KP-Mitglied. In einem Nebensatz schreibt er, dass er dabei blieb, obwohl die Partei, "da sie sich nicht reformiert hatte, keine politische Zukunft haben" werde. (S. 245) Die Mitgliedschaft in der Partei bedeutete aber nunmehr für ihn "nicht mehr das, was sie seit 1933 bedeutet hatte. In der Praxis mauserte ich mich von einem Parteisoldaten zu einem Sympathisanten, oder, anders ausgedrückt, von einem faktischen Mitglied der KP Großbritanniens im Geiste zu einem Mitglied der KP Italiens. Sie entsprach meiner Vorstellung von Kommunismus weit mehr." (S. 251)

Von den Ländern des sowjetischen Machtbereiches war Hobsbawm die DDR am vertrautesten, hier hatte er auch Freunde wie Jürgen Kuczynski, Fritz Klein und Siegfried Bünger, mit denen er fachlich und politisch zusammenarbeitete. "Zweifellos waren die besten und intelligentesten Mitglieder der SED Kritiker des Systems und blieben dennoch bis zum Schluss optimistische Reformer." Doch der Druck des "übermächtigen Nachbarn" Bundesrepublik "rechtfertigte Maßnahmen, die unter anderen Umständen Kommunisten entsetzt hätten, selbst wenn man die Ablehnung einer liberalen Demokratie durch die Partei berücksichtigte." (S. 177f.)

Das Buch enthält Kapitel über Hobsbawms Arbeitsjahre als Historiker, über seine zahlreichen Reisen insbesondere in die romanischen Länder, in deren Sprachen und Kulturen er allmählich hineinwuchs, seine Vorliebe für den Jazz und über seine Lehrtätigkeit in den USA nach seiner Emeritierung am Birkbeck College. Das Buch ist seinen Enkeln gewidmet, die wiederum zu einer Generation gehören, "die dem Kapitalismus skeptisch gegenübersteht, obwohl sie an unsere Alternativen auch nicht glaubt." (S. 466)

Hobsbawms große Bedeutung als Sozialhistoriker liegt in seiner, gegenüber dem traditionellen Marxismus, weitaus flexibleren Interpretation der geschichtlichen Wirklichkeit begründet. Er löste sich vom starren Klassenparadigma und von der überkommenen formationstheoretischen Sichtweise, wie sie seit der Zweiten Internationale das marxistische Gesellschaftsdenken dominierten. Es gelang ihm, andere als nur die bislang bekannten Formen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sichtbar zu machen. Im Typus des "Sozialrebellen" sah Hobsbawm einen in der plebejischen Kultur verwurzelten, seine Klassenlage nicht notwendigerweise reflektierenden, die herrschenden Denk- und Ausbeutungsmechanismen dennoch herausfordernden historischen Akteur. Symbole und Riten, die "Erfindung von Traditionen" und verschiedene Formen der Überwindung von Konventionen – all diese Fragen standen im Zentrum einer undogmatischen, dennoch dem Anliegen der Unterdrückten und Entrechteten immer verpflichteten Historiographie. Eric Hobsbawms Name bleibt mit einer kulturgeschichtlichen Spurensuche der Besiegten dauerhaft verbunden.

"Über achtzig Jahre lang im 20. Jahrhundert zu leben, war eine natürliche Lektion in der Veränderlichkeit von politischer Macht, von Imperien und Institutionen. Ich habe das völlige Verschwinden der europäischen Kolonialreiche gesehen, nicht zuletzt des größten von allen, des britischen Empires, das nie größer und mächtiger war als in meiner Kindheit, als es die Strategie einführte, in Regionen wie Kurdistan oder Afghanistan durch Bombenabwürfe für Ordnung zu sorgen. Ich habe gesehen, wie große Weltmächte in die unteren Ränge verwiesen wurden, und auch das Ende eines Deutschen Reiches, das tausend Jahre, und einer revolutionären Macht, die ewig währen sollte. Ich werde das Ende des ›amerikanischen Jahrhunderts‹ wohl nicht mehr erleben, aber man kann ganz sicher sein, dass einige der Leser dieses Buches es erleben werden." (ebd.) Der Historiker solle jedoch nicht rein kontemplativ über das Werden und Vergehen sinnieren. "Soziale Ungerechtigkeit muss immer noch angeprangert und bekämpft werden. Von selbst wird die Welt nicht besser." (S. 471)

Bücher Eric Hobsbawms
Primitive Rebels (1959, dt. 1962);
The Age of Revolution, 1789-1848 (1962; dt. 1962);
Labouring Men: Studies in the History of Labour (1964);
Industry and Empire: From 1750 to the Present Day (1968; dt. 1969);
Bandits (1969, dt. 1972);
Captain Swing (mit George Rudé; 1969);
Revolutionaries (1973; dt. 1977);
The Age of Capital, 1848-1875 (1975; dt. 1977);
The Italian Road to Socialism (mit Giorgio Napolitano; 1977; dt. 1977);
Worlds of Labour (1984);
The Age of Empire, 1875-1914 (1987; dt. 1989);
Politics for a Rational Left: Political Writings, 1977-1988 (1989);
Echoes of the Marseillaise (1990);
Nations and Nationalism Since 1780: Programme, Myth, Reality (1990; dt. 1991);
The Jazz Scene (1993);
Age of Extremes: The Short Twentieth Century, 1914-1991 (1994; dt. 1995);
On History (1997; dt. 1998);
Uncommon People: Resistance, Rebellion and Jazz (1998; dt. 1998);
1968: Magnum Throughout the World (mit Marc Weizmann; 1998);
The New Century (mit Antonio Polito; 1999; dt. 1999);
Interesting Times: A Twentieth Century Life (2002; dt. 2003).

Dr. Mario Kessler, Jg. 1955, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung und Privatdozent am Historischen Institut der Universität Potsdam. Letzte Buchveröffentlichung: Exil und Nach-Exil. Vertriebene Intellektuelle im 20. Jahrhundert, Hamburg 2002.

Zurück