1. März 2001 Winfried Wessolleck

Der globale Kohlenstoffkrieg

Nicht erst seit dem gescheiterten 6. Klimagipfel im niederländischen Den Haag (13. bis 24.11.2000) sind klärende Fragen zu stellen: Wohin steuert die internationale Klimapolitik? Wie kompromissbereit und konsensfähig ist die Klimadiplomatie im Hinblick auf einen tragfähigen globalen Klimastabilisierungs-Konsens, der diesen Namen verdient? Was sind die unverzichtbaren Kernelemente, Handlungsnormen und technologischen Steuerungsbedingungen, mit denen die anthropogene Weltklimawende eingeleitet werden soll?

Mit dem Abbruch der 6. Vertragsstaaten-Konferenz, die im April / Mai 2001 in Bonn wieder aufgenommen werden soll, bewegt sich die erdumspannende Klimapolitik in einer deprimierenden Verhandlungskrise. Die internationale Klimadiplomatie, fraktioniert und gespalten in machtstrategische Interessenblöcke und Staatengruppen, [1] ist im Zuge der Erarbeitung eines völkerrechtlich bindenden Konzeptes in überwunden geglaubte Konfliktgräben zurückgefallen. Noch drei Jahre zuvor, auf dem 3. Klimagipfel im japanischen Kyoto (1997), schien das Tor in eine ökologisch nachhaltige Entwicklung aufgestoßen worden zu sein. Der hellwache argentinische Verhandlungsführer Estrada – das drohende Scheitern des Gipfels vor Augen – ließ am letzten Verhandlungstag wenige Minuten vor 24 Uhr alle Uhren anhalten und zwang so die erschöpften Konferenzakteure zum Protokoll-Kompromiss. Das war nicht nur die Geburtsstunde des Kyoto-Protokolls, es war vielmehr eine klimapolitische Heldentat, auch wenn das von der versammelten »Klimainternationale« und der Weltöffentlichkeit nicht hinreichend gewürdigt wurde (S. Oberthür / H.E. Ott 2000: 343-344). In Den Haag war von diesem Erfolgswillen fast nichts mehr zu spüren.

Unterdessen ist die Klimadiplomatie, in der die USA-dominierte »Umbrella-Gruppe« als Hauptbremser und Dissensfaktor fungiert, dazu übergegangen, das Kyoto-Protokoll systematisch infrage zu stellen und auszuhöhlen. Im Tagungs»dschungel«, in dem bornierte Einzelstandpunkte, Rechtstechnokraten und Machtkalküle aufeinanderprallen, hat sich eine gewollte Konferenz-Entropie (Unordnung) und eine undurchsichtige Scheinkomplexität etabliert. Der eigentliche Sinn und Zweck der Vertragsstaatenkonferenzen wird damit immer fragwürdiger.

In solch einer handlungsblockierten Situation ist eine Rückbesinnung, auf die Rahmenvereinbarungen und Zielvorgaben der Rio-Klimakonvention von 1992 angezeigt. Der vielbeschworene »Geist von Rio« ist dabei, sich in den Köpfen der Klimadiplomaten in eine imaginäre Symbolfigur zu verwandeln.

Der Rio-Erdgipfel: Visionen und Wege aus der Treibhausfalle

Das Klima-Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen (KRÜ), das auf dem Rio-Gipfel von 168 Staaten beraten und beschlossen wurde, bildet den »Grundstein« der Anerkennung und Abwendung der weltgesellschaftlich relevanten Klimaproblematik. [2] Die Zielnorm des KRÜs ist in Artikel 2 festgeschrieben: »Das Endziel dieses Übereinkommens ... ist es, die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird.« Dies sollte und soll in einem Zeitraum, der zunächst undefiniert blieb, geschehen, der den natürlichen Ökosystemen Anpassungszeit an die erwarteten Klimaänderungen gibt, die Nahrungsmittelerzeugung nicht bedroht und die Gewähr bietet, die wirtschaftliche Entwicklung auf nachhaltige Art und Weise fortzuführen.

Es ist eine klimawissenschaftlich unstrittige Aussage, dass hier nicht eine »Stabilisierung des irdischen Treibhausgas-Ausstoßes« (hauptsächlich Kohlenstoffdioxid), sondern ein klimaphysikalisch notwendiges Stabilisierungsniveau des Erdatmosphärensystems, also eine physiozentrische Stabilisierung, gefordert ist. Das heisst, wie sind klimachemische Treibhausgase/Luftschadstoffe, die regellose, nicht rückholbare Erwärmungseffekte und Ungleichgewichte in der Atmosphäre hervorrufen, schon in ihrer irdischen, industriell-technologischen Energie- und Stoffumwandlung zu vermeiden oder aber in effektiven Toleranzen zu halten, um das Erde-Klima-System, das mit der ökologischen Biosphäre organisch verbunden ist, in einem entwicklungsoffenen Stabilitätszustand zu (er-)halten? Obwohl im KRÜ nicht explizit erwähnt, lieferte das wissenschaftliche Beratergremium der Vereinten Nationen, das IPCC (Intergovernmental Panal on Climate Change), gleich zu Beginn der 90er Jahre die quantifizierbaren Globaldaten und Zeitskalen der weltweit notwendigen Treibhausgas-Reduktionen. Sie stellen die maßgebenden Globalreduktionen und Zeitvorgaben dar und sind heute aktueller denn je: eine Halbierung des weltweiten Treibhausgasausstosses bis 2050 und für die Industriestaaten eine Reduzierung um mindestens 80% bis 2050 (bezogen auf das Basisjahr 1990).

Dass den Industriestaaten des Nordens die Hauptverantwortung und auch die Hauptlasten der Treibhausgasreduktion zufallen, war in Rio noch Konsens. Denn von ihnen gehen 70-80% aller global freigesetzten Atmosphärengase und Klimaschadstoffe aus. Das KRÜ hat (in Artikel 3) diese Erkenntnisse anerkannt und formuliert, dass »... die Vertragsparteien, die entwickelte Länder sind, bei der Bekämpfung der Klimaänderungen und ihrer nachteiligen Auswirkungen die Führung übernehmen.« An gleicher Stelle werden die »speziellen Bedürfnisse und besonderen Gegebenheiten der Entwicklungsländer« hervorgehoben, die unter den Auswirkungen der Klimaänderungen besonders leiden und in jüngster Zeit sich häufenden Naturkatastrophen fast hilflos ausgesetzt sind. Das KRÜ nennt – m.E. nur unvollständig – zehn ökogeografische, regionale und stoffwirtschaftliche Kriterien und Krisenmerkmale von Entwicklungsländern und -regionen, in denen das unberechenbare, chaosinduzierende Klimafolgensyndrom gravierende sozial-ökologische Existenznöte schafft und zur beschleunigten Durchführung von Schutz- und Gegenmaßnahmen drängt. Aufgezählt werden die kleinen Inselländer, die sich im Rio-Folgenprozess zur AOSIS vereint haben, Länder mit tiefliegenden Küstengebieten, Länder mit Trockengebieten und Waldschäden, Länder, in denen häufig Naturkatastrophen auftreten (Afrika, Südasien, Mittel- und Südamerika), Länder, die verstärkt von Dürre, Mißernten und von der Ausbreitung von Wüstengebieten (Nordafrika, teilweise in Zentralasien) betroffen sind, Länder, die von der Gewinnung, dem Verbrauch und dem Export fossiler Brennstoffe (Kohle, Öl, Gas) abhängig sind.

Großes Erstaunen und Unverständnis löst der Grundsatz des KRÜ aus, mit dem »Politiken und Maßnahmen zur Bewältigung der Klimaänderungen kostengünstig (eingefordert werden), um weltweite Vorteile zu möglichst geringen Kosten zu gewährleisten.« Ein solch globaler Kosten-Nutzen-Ansatz der Bewältigung/Abwehr und der reaktiven Regulierung von Klima-, Naturhaushalts- und Infrastrukturschäden war schon zum Zeitpunkt des Rio-Gipfels eine volks- und versicherungswirtschaftliche Illusion und Fehlberechnung. Privatisierbare Kosten- und Gewinnvorteile verschaffen sich die Global Players und Staatsregierungen des Nordens durch Externalisierung, d.h. durch die zeitliche Verschleppung und Unterlassung differenzierter Klimaschutzmaßnahmen im eigenen Land. Der Handel mit »Heißer Luft« (C02-Emissionshandel), äußerst fragwürdige »Selbstverpflichtungen der Industrie zur Emissionsreduktion«, fehlende oder nur spärliche Initiativen zum Umbau der Energie(verbrauchs)systeme, des automobilen Verkehrswesens etc. – all das sind Beispiele für Kostenvermeidungsstrategien, deren klima-physikalische Auswirkungen und Negativfolgen – Stürme/Orkane, Überschwemmungen, Erntevernichtungen etc. – über die Erdatmosphäre in die Entwicklungsländer des Südens »verlagert« werden. An »das Recht« der Vertragsstaaten, eine nachhaltige Entwicklung zu fördern«, ist dort oft gar nicht mehr zu denken. Hier müsste der Norden eine Führungsrolle mit einem klima-ökologischen Globalkonzept übernehmen, aber außer Rhetorik und defensiver Programmatik ist von den Staatsregierungen nicht viel zu hören. Das Fehlen nationaler Entwicklungs- und Umweltpläne – die es in den Niederlanden, Dänemark und Österreich gibt, hingegen nicht im rot-grün regierten Deutschland – bestätigt diese Einschätzung.

Öko-Kolonialismus

In den 90er Jahren ist ein von den Vereinten Nationen initiiertes globales Klimaregime entstanden. Es befindet sich jedoch in einem völkerrechtlich/institutionell ungesicherten Organisationsstatus. Die Klima-Vertragsstaaten bilden längst kein einheitlich sprechendes und noch weniger handelndes »Weltstaatssubjekt«. Es gibt keine »Weltregierung«, auch keinen »Weltklima-Gerichtshof«, die/der die Reduktionsmengen und Reduktionszeiträume für Treibhausgase mit Sanktionsmitteln gegenüber den Nationalstaaten durchsetzen könnte. Umgekehrt: Gegenwärtig ist die Weltstaatengemeinschaft dabei, das von ihr selbst erarbeitete Klimaschutz-Regelwerk durch Schlupflöcher, Blockaden und zweckfremde Uminterpretationen wieder zu unterlaufen.

Statt das Kyoto-Protokoll fortzuentwickeln, besteht seit Den Haag die Gefahr, dass es auf dem Altar eines aggressiven Öko-Kolonialismus geopfert wird. Der Klimagipfel ist im wesentlichen an den Verhandlungskomplexen der »nationalen Klimaschutzmaßnahmen und Umweltpläne«, der Einbeziehung und Beschränkung von »Senken-Aktivitäten« (Wälder, grüne Biomasse als Kohlenstoffspeicher) und den klimaökologisch zu verwerfenden »Regeln des C02-Emissionshandels« (zwischenstaatlicher, marktförmig ablaufender Verkauf und Ankauf »Heißer Luft«) letztlich gescheitert.

Die USA und mit ihr die »Umbrella«-Gruppe haben in Den Haag demonstriert, dass sie gleich mehrere Kyoto-Prinzipien, denen zufolge praktischer, vorbeugender Klimaschutz im eigenen Land beginnt, nicht mehr hinreichend anerkennen. Stattdessen favorisieren sie den weltweiten Handel mit Kohlenstoff-Emissionen (Hauptanbieter sind Russland und die Ukraine, Hauptinteressenten die »Umbrella«-Staaten). Das wäre ein gefährlicher Rückfall in die zukunftslose fossile Energieträger-Ausbeutung und die sie begleitende Energie-Ideologie (bei den Weltklimaverhandlungen mischen die amerikanische Kohle-, Öl- und Autolobby kräftig mit). »Die Weltwirtschaft und mit dieser die Weltgesellschaft werden somit von Pyromanen dominiert, die immer gigantischere Mengen fossiler Brennstoffe verfeuern und an diesem System so lange es irgendwie geht festhalten wollen. ... die globale ›Entflammung‹ fossiler Energien (wird) allein zwischen 1990 und 2010 um 50% steigen.« (H. Scheer 1999: 13) Der Treibhauseffekt, als klima- und geoökologisches Zentralproblem (Wärmestreuung, Entropiezunahme), ist eindeutig auf die Energiemengen-Angebotsseite, die mengensteigernde Energieumwandlung und den zeitintensivierten Energieverbrauch zurückzuführen. Es ist zu erwähnen, dass die Einführung der Öko-/Energiesteuer hierzulande im Höchstfall eine sekundäre, staatlich nachgeschaltete Symptombekämpfung, aber längst keine ökonomisch-ökologische Ursachentherapie des Klimafolgen-syndroms darstellt (M. Massarrat 1998, 2000).

Desorientierend ist die »neue« Verhandlungsposition der USA / »Umbrella«-Gruppe, die die nur ungenügend quantifizierbare C02-Speicherfähigkeit von natürlichen Senken (Wälder, Pflanzen) als »probaten Ansatz« der Treibhausgasreduktion propagieren. Das ist unhaltbar, denn durch Waldbrände, Brandrodungen und Abholzungen von Waldbeständen/Urwäldern können in wenigen Tagen und Monaten große CO2-Mengen wieder freigesetzt werden. Und wer mit groß angelegten, schnell wachsenden Baumplantagen (Waldmonokulturen, Fichte/Tanne) Treibhausgasreduktion zu betreiben vorgibt, der verstößt in Wirklichkeit gegen sämtliche Prinzipien und Erkenntnisse der sozialökologischen Verknüpfung von Klimastabilisierung, Nachhaltigkeit und optimaler Naturquellenreproduktion. Denn schnellwachsende Waldmonokulturen – anstelle von artenreichen, ökologisch stabilen und Kohlenstoffdioxid langfristig speichernden Misch- und Urwäldern – sind selbst Teilursache der Klimadestabilisierung. Genau an dem Scheinkonzept »Einbeziehung und Anrechnung von C02-Senken« ist der 6. Klimagipfel gescheitert.

Als weitere »Knackpunkte« haben sich der Umfang der nationalen und der im Ausland erbrachten Reduktionspflichten erwiesen (im Inland betragen sie mindestens 50%, im Ausland maximal 30%). Nicht minder heftig umstritten sind die komplexen, Schlupflöcher jeder Art bietenden Regeln zum Emissionsrechte-Handel, für den sich seit Kyoto auch einige Schwellenländer (z.B. Argentinien und Brasilien) stark machen. Damit wird ein globaler »Verschiebebahnhof« von real emittierenden Klimaschadstoffen installiert, der einzig dazu dient, die globalen C02-Gesamtemissionen künstlich hochzuhalten, anstatt sie wirkungsvoll und in kurzen Zeiträumen abzusenken. Greift das globale Klimaregime hier nicht mit systematischen Kontrollregeln ein, wird der zwischenstaatliche Emissionshandel zu einem profitablen Tausch- und Entlastungsgeschäft für die Industriestaaten mit ihren klimabelastenden Industrien/Großtechnologien, »freien« Märkten/Handelsstrukturen, ihren luxuriösen Konsum- und Verhaltensmustern (Automobilismus, nicht-nachhaltige Energie- und Gebrauchswertvergeudung, Flug(massen)tourismus etc.).

Letzte Chance im Weltklima-Poker

Der gescheiterte Klimagipfel ist ein Warnsignal. Es kann zu einem »amerikanisierten« Minimalkonsens – der mehr Symbolwert als Realentlastung wäre – oder sogar zum völligen Scheitern der Weltklimapolitik, d.h. zur ratifikationslosen Verabschiedung des Kyoto-Protokolls führen. Es kann aber auch – und das ist die hier vertretene optimistische Position – zu einem blockübergreifenden Mobilisierungsfaktor z.B. zwischen der EU, der AOSIS und Ländern der G 77/China-Gruppe werden. Die EU und die rot-grüne Bundesregierung könnten der ersten klimapolitischen »Heldentat« von Kyoto eine zweite in Bonn folgen lassen, wenn sie ihre Führungsrolle im globalen Klimaregime wieder aufnehmen. Das müsste mit einer beschleunigten Ratifizierung des Kyoto-Protokolls durch die EU-Staaten korrelieren. So könnten auch einige Schwellen- und wichtige Entwicklungsländer motiviert werden, den Schritt der Ratifizierung konkret zu erwägen und zu vollziehen. Die C02-Weltmacht USA und mit ihr die »Umbrella«-Staaten gerieten unter Druck und wären isoliert. So könnte eine gewisse »Verschnaufpause« im selbstzerstörerischen Kohlenstoffkrieg gegen das Weltklima, von dem alles organische Leben abhängig ist, eintreten. In Bonn fällt eine Entscheidung mit naturgeschichtlicher Reichweite!

Literatur

  GLOBAL WARMING (1991) – Die Wärmekatastrophe und wie wir sie verhindern können. Der Greenpeace Report, hrsgg. von Jeremy Leggett, München.

  Massarrat, M. (1998): Das Dilemma der ökologischen Steuerreform. Plädoyer für eine nachhaltige Klimapolitik durch Mengenregulierung, Marburg.

  Ders.: Ölpreise, Ökosteuern und Klimaschutzpolitik, in: Blätter f. dt. u. intern. Politik 12/2000. S. 1494-1503.

  Oberthür, S. / H.E. Ott (2000): Das Kyoto-Protokoll. Internationale Klimapolitik für das 21. Jahrhundert, Opladen.

  Rifkin, J. (1982): Entropie – Ein neues Weltbild, Hamburg.

  Scheer, H. (1999): Solare Weltwirtschaft. Strategien für die ökologische Moderne, München.

  Wessolleck, W. (1997): Globale Naturpolitik – Zur Stabilisierung des Weltklimas, in: Sozialismus 9-1997, S. 22-29.

Winfried Wessolleck ist Sozialwissenschaftler und Umweltjournalist in Hannover.

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