26. November 2010 Redaktion Sozialismus

Der Kampf um die Mitte

Die Grünen werden zur Zeit von einer starken Strömung des Zeitgeistes nach vorne getragen. Nach einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach sagen 21% der Bevölkerung: »Die Grünen gefallen mir«. 2009 waren das nur 9%. Noch aufschlussreicher als die Größe der tatsächlichen, ist die der »gefühlten« Anhängerschaft. 43% geben an »Die Grünen gefallen den meisten Menschen«. Entsprechend pendeln die Umfragewerte der Partei bei der Sonntagsfrage um die 20% – und liegen damit etwa doppelt so hoch wie das Bundestagswahlergebnis von 2009. In Baden-Württemberg und Berlin könnten die Grünen nach aktuellem Stand im kommenden Jahr sogar die Regierungschefs stellen.

Woher dieser Höhenflug? In einer insgesamt fragilen ökonomischen und politischen Konstellation profitieren die Grünen von der bröckelnden Hegemonie des bürgerlichen Lagers. Mit einer vorwiegend auf die Stützung der Vermögensbesitzer gerichteten Antikrisenpolitik, einem unverblümten Lobbyismus vor allem für die Energiekonzerne und der Rückkehr zu einem Sparregime sind in Deutschland nur noch schwer Mehrheiten zu gewinnen. Das Vertrauen in das Versprechen der »Stützung der Leistungswilligen« ist nicht erst seit Ausbruch der Großen Krise dahin und geht einher mit einer wachsenden Distanz zum politischen System. Größere Teile der mittleren EinkommensbezieherInnen, auf die sich die bürgerliche Hegemonie stützte, sehen für sich und ihre Kinder keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr, sondern umgekehrt vom Abstieg bedroht, wenn nicht bereits betroffen. Auch die Hoffnung, vom vermeintlich anhaltenden Wirtschaftsaufschwung zu profitieren, ist eher gering. Hiervon profitieren zur Zeit die Grünen. »Zwei Gesellschaftsmodelle stehen sich aktuell gegenüber…: Das Modell Lobby- und Klientelpolitik … gegen das einer am Gemeinwohl orientierten Politik, die nicht nur an das Jetzt, Heute und Hier denkt, sondern das Morgen und Übermorgen genauso berücksichtigt wie die Interessen derer, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens leben« – so der Parteivorsitzende Cem Özdemir.

Begünstigt wird der Aufstieg der Grünen dadurch, dass wachsende Teile der Bevölkerung die Formel einer »alternativlosen Politik« nicht mehr akzeptieren. Stuttgart 21 und das Atommülllager in Gorleben stehen für diese Haltung. Der Protest lenkt Wasser auf die Mühlen der Grünen. »Wir leben in einer informierten, selbstbewussten Gesellschaft. Da muss sich jede Politik nicht nur durch rechtsstaatliche Verfahren legitimieren, sondern auch durch Bürgerbeteiligung, Transparenz, Verbandsklageregeln, Einsicht in Unterlagen. Sie können die Bürger nicht mehr hintergehen. Genau dafür stehen die Grünen.« (Jürgen Trittin)

Ihr zentrales Projekt ist der Green New Deal. Er soll einen gesellschaftlichen Strukturwandel einleiten und einen Ausweg aus der Krisenkonstellation bieten. Darüber hinaus werden massive Investitionen in die Bildungsinfrastruktur, eine Bürgerversicherung zur Finanzierung des Gesundheitssystems und für die, »die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen«, ein gesetzlicher Mindestlohn und höhere Transferleistungen gefordert. Finanziert werden soll das durch den Abbau von ökologisch schädlichen Subventionen und »eine gerechte Besteuerung von Gutverdienenden und Vermögenden«.

Die Grünen haben es offenkundig geschafft: vergessen zu machen, dass sie als Teil der Agenda 2010-Koalition massiven Sozialstaatsabbau, die Deregulierung der Finanzmärkte und erhebliche Steuersenkungen mit auf den Weg gebracht und damit zur Vertiefung der sozialen Gräben beigetragen haben.

Der Sozialdemokratie unter Gabriel fällt das sehr viel schwerer. Ihr werden die sozialen Ängste, die sie in ihrer Regierungszeit unter Schröder und Merkel zu verantworten hat, von ihrer WählerInnenklientel nicht so einfach nachgesehen, wie das bei den Grünen als modernisierte Partei der Besserverdienenden der Fall ist. Hinzu kommen politische Fragmentierungen, die sich aus der Erosion der einst sehr breit aufgestellten Volkspartei ergeben. Aus der Sicht des rechten Seeheimer Kreises kann die SPD dem Weg der Grünen nicht folgen: »Die SPD darf nicht Latte Macchiato-Trinker gegen ›kleine Leute‹ ausspielen«. Vielmehr gelte es, den Kampf um die arbeitsgesellschaftliche »Mitte« fortzusetzen, wobei sich die Kritik an Fehlsteuerungen auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialstaat nicht groß von jener der Schröder-Ära unterscheidet. Für diesen Teil der Sozialdemokratie findet die zentrale Auseinandersetzung im bürgerlichen Lager mit seinen politischen Repräsentanten statt: »Die SPD hat bei ihrem Machtverlust 2009 mehr Wähler an Union und FDP als an die Linkspartei verloren – es war der Zugang zur Mittelschicht, zur ›bürgerlichen‹ Welt, der die Partei regierungsfähig gemacht hatte. Als sie den Zugang wieder einbüßte, geriet sie in die Opposition.« (Positionspapier: Mut zur Sozialdemokratie, November 2010).

Auch bei den Grünen ist der weitere Weg strittig. Während etwa Jürgen Trittin darauf beharrt, dass die Grünen mit »linken Inhalten in der Mitte mehrheitsfähig« sind, sieht der Realo-Flügel um Cem Özdemir und den Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, den grünen Höhenflug eher durch bürgerliche WählerInnen begründet. Die »Realos« sind offen für schwarz-grüne Bündnisse, für die die CDU mit ihrer Energiepolitik und der harten Haltung gegenüber den Bürgerprotestbewegungen jedoch eine hohe Hürde errichtet hat.

Zudem bleibt die Finanzierung, damit der Umfang des Eingriffs in die Verteilungsstrukturen, umstritten. Deutlich wurde dies in der Diskussion um die Bürgerversicherung auf dem Bundesparteitag in Freiburg, bei der heftig um die Höhe der Beitragsbemessungsgrenze (eine knappe Mehrheit votierte für 5.500 Euro) gestritten wurde. Wie verhindern, dass »wütende Beamtinnen und Architektinnen«, also Teile der eigenen gut betuchten Wählerschaft, einem auf die Pelle rücken? Um den Streit in Grenzen zu halten, wurde ein Antrag zur Rücknahme der Rente mit 67 erst gar nicht zur Diskussion zugelassen. Alle grünen Vorhaben stehen unter »Finanzierungsvorbehalt«. »Linke Regierungspolitik muss … auch finanziell solide sein. Schwarz-Gelb wird bis 2013 höchstens die Hälfte des Konsolidierungsbedarfs des Bundes erreicht haben, den Rest wird die neue Regierung umsetzen müssen. Der Konsolidierungsbedarf unter den Bedingungen der Schuldenbremse liegt 2013 deutlich über 10 Milliarden Euro… Eine neue Bundesregierung wird schmerzhafte Prioritätenentscheidungen treffen müssen« (Trittin).

Diese »Prioritätenentscheidungen« werden zumindest nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge nicht im Rahmen einer schwarz-grünen Koalition stattfinden. Die CDU hat auf ihrem Parteitag in Karlsruhe einen klaren Trennungsstrich gezogen.

Für die CDU war das Jahr nach der gewonnenen Bundestagswahl im September 2009 wenig erfreulich. Die Partei konnte vom Absturz der FDP in der Wählergunst nicht profitieren und pendelt seither um die 30%-Marke. Die verbalen Keilereien im schwarz-gelben Bündnis trugen wesentlich zum Verlust der Landtagswahlen in NRW bei. Und schließlich hat der Aderlass beim Führungspersonal (Roland Koch, Jürgen Rüttgers, Christian Wulf) in der CDU die Debatte über die inhaltlich-strategische Ausrichtung der Union verstärkt.

Zum Verdruss beigetragen hat vor allem, dass die wirtschaftliche Erholung in Deutschland mit einem Zuwachs der Wirtschaftsleistung von 3-4% in diesem Jahr von den BürgerInnen nicht dem schwarz-gelben Konto gutgeschrieben wird. Hinzu kommt, dass auch Teile des bürgerlichen Wählerklientels in außerparlamentarische Bewegung geraten sind. Die CDU-Vorsitzende, die schon sehr früh die Landtagswahlen in Baden-Württemberg im Frühjahr 2011 zur »Schicksalswahl« erklärt hat, offenbart in ihrer Frontstellung gegen die Bahnhofs- und Atomkraftgegner vor allem Unverständnis und Ratlosigkeit über soviel staatsbürgerliche Renitenz: »Wenn zum Beispiel in Stuttgart durch den Bau von Stuttgart 21 bis zu 17.000 neue Arbeitsplätze entstehen, dann stärkt das Baden-Württemberg, dann stärkt das Deutschland… Da kann es – bei aller Schutzwürdigkeit – nicht richtig sein, dass Juchtenkäfer und Kammmolche herhalten müssen, um solche Projekte zu verhindern.«

Das Problem der Unionsparteien ist die Aufkündigung von Loyalität in den lohnabhängigen Mittelklassen. Die­se »Leistungsträger« haben die praktische Erfahrung gemacht, dass zentrale Versprechen bürgerlicher Politik nicht mehr gelten. Verunsicherung geht einher mit der politischen Versicherung, gesellschaftlichen Wandel als Sachzwang kaum noch beeinflussen zu können. Schließlich ist auch das Versprechen an besserverdienende Schichten, Zukunftsvorsorge durch private Absicherung kompensieren zu können, seit Ausbruch der Großen Krise in Frage gestellt. Der »Herbst der Entscheidungen«, den Merkel und Co. ausgerufen haben, wird mit dem

  • schonungsvollen Umgang mit Banken und Vermögensbesitzern,
  • der einseitigen Belastung der unteren sozialen Schichten,
  • einer Gesundheitsreform, die die Unternehmen schont und die BürgerInnen mit höhere Beiträgen und einer Gesundheitsprämie belastet, und
  • dem Festhalten an der Rente mit 67

die soziale Polarisierung weiter forcieren und einen Eigenbeitrag zur Unterlaufung der eh fragilen wirtschaftlichen Erholung leisten. Die Große Krise ist nicht ausgestanden und die von der CDU genährte Hoffnung, ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum würde alle Wunden heilen, steht auf sehr tönernen Füßen. Ein bürgerliches Projekt, das die Vorherrschaft der Vermögensbesitzer beendet und die soziale Spaltung eindämmt, ist nicht in Sicht.

Die Grünen profitieren von dieser Stimmungslage, obwohl es auch unter ihren Anhängern erhebliche Zweifel an der Zukunftstauglichkeit des grünen Konzepts gibt.

So sagt eine deutliche relative Mehrheit von 49% der angewachsenen Grünen-AnhängerInnen laut Allensbach: »Ich wähle die Grünen vor allem deshalb, weil ich von den anderen Parteien enttäuscht bin. Zurzeit bleibt mir nichts anderes übrig, als die Grünen zu wählen, auch wenn ich in der Vergangenheit eher andere Parteien gewählt habe.«

Sollten allerdings die Grünen ihre WählerInnen enttäuschen, wächst die Gefahr, dass viele bürgerliche WählerInnen in rechtspopulistischen Konzeptionen einen Ausweg suchen – worauf auch Jürgen Trittin hinweist. Es gelte »der rechten Strategie der Gegenmobilisierung durch Xenophobie und Ressentiment mit aller Macht entgegenzutreten. Denn am Ende von Schwarz-Gelb kann auch ein neuer rechter Populismus oder eine neue große Koalition stehen.«

In dieser politischen Gemengelage, in der Teile der Grünen zentrale Themen der Oppositionspolitik zur Sprache bringen und nicht nur »links blinken«, sondern auch die Ausarbeitung von Konzepten auf den Weg bringen, und in der die SPD bemüht ist, zumindest in Ansätzen zu einer sozial orientierten Politik zurückzufinden, ist es für die LINKE objektiv schwierig, ihre eigenen politischen und programmatischen Positionen zu Gehör zu bringen. Die Frage, warum sich die Verschiebungen in der politischen Tektonik nicht in einem stärkeren Gewicht der LINKEN niederschlagen, wurde auf dem Anfang November in Hannover durchgeführten »Programmkonvent« allerdings kaum thematisiert. Und die vom ehemaligen Vorsitzenden Oskar Lafontaine angemahnte intensivere Auseinandersetzung mit Politik und Programmatik von SPD und Grünen fand während des Programmkonvents nicht wirklich statt.

Wenn die LINKE »Motor« der gesellschaftlichen Veränderungen sein will, darf sie sich zwar sicherlich nicht wechselseitig »mit Theoriegebäuden erschlagen« (Gesine Lötzsch), aber ein wenig mehr Analyse zur Beantwortung der Fragen, wo wir stehen und wie die weitere Entwicklung einzuschätzen ist, muss schon sein. Sind die Verhältnisse nach der Großen Krise dieselben wie vor der Krise? Müssen zu deren endgültiger Überwindung nur noch einige ordnungspolitische »Aufräumarbeiten« erfolgen oder haben wir es mit weiterreichenden gesellschaftlichen Verwerfungen zu tun, die neue Antworten erfordern? Hier gibt es erheblichen Diskussionsbedarf.

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