1. Oktober 2007 Redaktion Sozialismus

"Der Zeitgeist ist sozialdemokratisch"

In der Entstehungsperiode des europäischen Kapitalismus fragten sich die damaligen sozialistischen Kritiker: "Kann Deutschland zu einer Praxis à la hauteur des principes gelangen, d.h. zu einer Revolution, die es nicht nur auf das offizielle Niveau der modernen Völker erhebt, sondern auf die menschliche Höhe, welche die nächste Zukunft dieser Völker sein wird?"[1]

Der Hintergrund für diese Frage: Der Kopf ist nicht immer voraus; er ist das mobilste und schwerfälligste Ding zugleich. Im Kopf entspringt das Neue, aber im Kopf haftet am längsten auch das Alte. Eine wichtige Antwort war: Die deutschen Zustände stehen weit unter dem Niveau der Geschichte, mehr noch, aus dieser Rückständigkeit ergibt sich eine spezifische Erbärmlichkeit: Die Deutschen haben die Restaurationen der modernen Völker, aber nicht ihre Revolutionen geteilt. Wir wurden restauriert, "das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten." Was also tun, um die gesellschaftliche Veränderung zu befördern? Man darf den Deutschen keinen Augenblick der Selbsttäuschung und Resignation gönnen. "Man muss den wirklichen Druck noch drängender machen, indem man ihm das Bewusstsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert."

Über ein Jahrhundert weiter, im globalisierten Spätkapitalismus, sind wir aus dieser Schmach heraus. Mindestens unsere große Volkspartei, die SPD, verkündet: Deutschland und die Sozialdemokratie sind auf der Höhe der Zeit. Die als stellvertretende Parteichefs vorgeschlagenen Genossen Peer Steinbrück (Finanzminister) und Frank-Walter Steinmeier (Außenminister) haben sich zusammen mit dem früheren Parteivorsitzenden Matthias Platzeck in der von ihnen herausgegebenen Publikation "Auf der Höhe der Zeit" für eine Fortführung der Agenda 2010-Politik stark gemacht. Steinbrück: "Der Beitrag von Gerhard Schröder ist ein entscheidender Beitrag gewesen, um die SPD im ersten Teil dieses Jahrzehnts auf die Höhe der Zeit zu bringen." Logischerweise ist auch der frühere Kanzleramtsminister Steinmeier mit dieser Richtung einverstanden, gilt er doch als der eigentliche Architekt der einschneidenden Projekte der rot-grünen Regierungskoalition.

Der Generalsekretär der SPD Hubertus Heil spitzt zu: "Tatsache bleibt: Die SPD ist die prägende Kraft in der großen Koalition. Der Zeitgeist in unserer Republik ist sozialdemokratisch."

Den Charme dieser Selbsteinschätzung weiß nur zu würdigen, wer einen Blick auf die letzten Wahlergebnisse und Meinungsumfragen wirft. Die Umfragewerte der Sozialdemokraten sind zwei Jahre vor den nächsten Bundestagswahlen deutlich unter die 30 Prozentmarke gefallen. Die Sympathiewerte für den SPD-Vorsitzenden sind so schlecht wie noch nie.

Zum Zeitgeist gehört offenkundig auch die Veranstaltung von so genannten Polterstunden: Der SPD-Vorsitzenden Kurt Beck protestiert im SPD-Parteirat lautstark gegen innerparteiliches Flügelschlagen: "So einen Scheiß lasse ich mir nicht bieten!". Laut einer Emnid-Umfrage bezweifeln 58% der Bevölkerung, unter den SPD-Anhängern 55%, dass Beck die SPD mit Machtworten disziplinieren kann.

Und Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, ebenfalls SPD, attestiert seiner Partei, dass sie endlich selbst bei dem Massenphänomen des Shareholder value-Kapitalismus angekommen sei und intern eine "stabile Mobbingkultur" ausgebildet habe. "Die Parteispitze könnte mal ein 14-tägiges Ruderseminar gebrauchen. Beim Rudern merkt man ganz brutal, wenn einer die anderen hängen lässt und man den Riemen ins Kreuz bekommt. Das kann recht lehrreich sein."

Oberhalb von "Basta" und "Mobbing" diskutieren die führenden Sozialdemokraten stolz über ihr neues Grundsatzprogramm. Der stellvertretende Parteivorsitzende Steinbrück rückt die Perspektiven zurecht: "Der Programmentwurf verdeutlicht, dass die SPD unser Land nicht als Opfer der Globalisierung sieht. Vielmehr folgt die SPD einem Gestaltungsanspruch, um auch unter den Bedingungen der Globalisierung Wohlstand und Wohlfahrt für unser Land zu sichern. Damit bewegt sich die SPD auf der Höhe der Zeit... Mit dem gelungenen Entwurf für das Grundsatzprogramm verdeutlicht die SPD, wie sie wirtschaftlichen und technischen Fortschritt mit sozialer Gerechtigkeit auch im 21. Jahrhundert verbinden will... Dabei spielt der vorsorgende Sozialstaat eine wichtige Rolle, mit dem mehr Aufstiegsgerechtigkeit erreicht werden soll. Niemand soll zurückgelassen werden, jeder und jede ist wichtig."

Grundsatzprogramm

Gerade die Einschätzung des vorsorgendes Sozialstaates war in den zurückliegenden Monaten strittig. Die zentrale These der "Zeitgeistler" lautet: "Der überkommene Sozialstaat, der allzu oft ›reparierend‹ erst dann eingreift, wenn soziale Schadensfälle schon eingetreten sind, ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit... Effizienter und zugleich sozial gerechter ist der vorsorgende Sozialstaat." Die sozialdemokratische Linke kritisiert diese Festlegung, weil damit die Einbindung der SPD in ein neoliberales Gesellschaftsverständnis festgeschrieben wäre.

Im sozial regulierten Kapitalismus hatte sich die große Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien darauf verständigt, dass die durch die kapitalistische Produktion und Akkumulation erzeugten Deformationen sozialer Teilhabe und Gerechtigkeit ausgeglichen werden müssten. Weil die gewerkschaftlich organisierten Lohnarbeiter, mehr aber noch der Großteil der Frauen – gleich ob in die gesellschaftliche produktion einbezogen oder nicht – gegenüber dem Kapital strukturell benachteiligt sind, muss durch ausgleichende Maßnahmen – Arbeitsmarktpolitik, Arbeitslosenversicherung, allgemeine Gesundheitsversorgung, Alterssicherung – ein gesellschaftlich akzeptabler Leistungs- und Verteilungskompromiss geschaffen werden. Zugleich ging es bei diesem Sozialstaatsverständnis auch um eine offensive Bildungspolitik, um die sozialen Schranken zurückzudrängen und auch den Lohnabhängigen und anderen subalternen sozialen Schichten einen Zugang zu Bildung und Kultur zu erschließen. Die Konzeption eines kompensatorisch agierenden Sozialstaates gewann starke Überzeugungskraft, weil durch diese Maßnahmen auch eine Stabilisierung und Steuerung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses möglich schien.

Im Zeitalter der Vorherrschaft des Shareholder value und des Übergangs in den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus wurde dieser Leistungs- und Teilhabekompromiss aufgekündigt. Auch die Sozialdemokratie hat sich mit der Logik arrangiert, dass die BürgerInnen allein vom Arbeitseinkommen nicht mehr existieren können. Daher die Rhetorik vom "vorsorgenden Sozialstaat": Die BürgerInnen sollen für die finanzmarktgetriebene Kapitalakkumulation fit gemacht werden. Durch Kapitalfonds sollen sie ihre Gesundheitsaufwendungen oder ihre Existenzsicherung im Alter mitorganisieren. Wenn das Einkommen nicht reicht, soll durch staatliche Zuschüsse (Riester-Rente) die Eigenvorsorge ermöglicht werden. Angesichts der restriktiveren Bildungsschranken, dem stärker gewordenen Machtungleichgewicht zwischen Lohnarbeit und Kapital und der großen Zahl vom Arbeitsmarkt verdrängter oder in prekäre Verhältnisse abgedrängter BürgerInnen wird mit der Konzeption des "vorsorgenden Sozialstaates" die Verschärfung der sozialen Spaltung billigend in Kauf genommen. Diese so genannte Modernisierung der Sozialdemokratie schreibt faktisch den dramatischen Niedergang der Partei fort.

Zusammenfassend konstatiert der Parteienforscher Franz Walter: "Nun spricht natürlich nichts gegen die Philosophie der ›Vorsorge‹. Vorsorge für etwas zu treffen – seit ewigen Zeiten pflegen Menschen auf diese Weise zu handeln. Und auch der Sozialstaat des 19./20. Jahrhunderts hat keineswegs nur nachgesorgt, wenngleich die Menschen vom Staat durchaus als allererstes Schutz und Sicherheit in Zeiten der Not und Bedrängnis erwarten. Geradezu als Musterbeispiel für Vorsorgewohlfahrtsstaatlichkeit kann die große Rentenreform von 1957 gelten, mit der in der Tat ein uraltes Problem der Menschen – die chronische Unsicherheit und Armut im Alter – gelöst wurde. Kaum eine Reform des modernen Sozialstaats dürfte jemals populärer gewesen sein als die Garantie auf einen materiell gesicherten Ruhestand. Doch gerade diese Vorsorgereform der Alterssicherung durch das Solidarprinzip ist den modernen Sozialdemokraten eher zuwider, weshalb sie diese auch schon seit Jahren systematisch aushöhlen. Die unproduktiven Rentner kosten zu viel."

Aus Neu mach Alt?

Rechtzeitig vor dem Parteitag wird ein innerer Friede demonstriert. Die Sozialdemokraten wollen programmatisch wieder nach links rücken. Im überarbeiteten Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm werden traditionelle Werte der Sozialdemokratie deutlich stärker betont. Anders als in der ursprünglichen Fassung wird jetzt der überlieferte Sozialstaat verteidigt und der umstrittene Begriff des "demokratischen Sozialismus" als SPD-Ziel mehrfach offensiv vertreten.

Mehrere führende Sozialdemokraten hatten für die Streichung des Begriffs aus dem Programm plädiert. Im neuen Entwurf wird klargestellt, dass die SPD in der "stolzen Tradition des demokratischen Sozialismus" stehe. "Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns dauernde Aufgabe ist." In der Ursprungsfassung war der Begriff nur am Rande erwähnt. Nun bekennen sich die AutorInnen zudem zur "marxistischen Gesellschaftsanalyse" als einer der Wurzeln der SPD – neben Humanismus, Aufklärung, christlicher Ethik und den Erfahrungen der Arbeiterbewegung. Und gleichsam als Einlösung wird auch eine pointierte Kapitalismus-Kritik aufgenommen: Der globale Kapitalismus verschärfe alte und schaffe neue Ungerechtigkeiten. Deshalb müsse die SPD eine "soziale Antwort" darauf suchen.

Die Forderung in der alten Fassung, den vorsorgenden Sozialstaat zum eigentlichen Leitbild für die SPD in der Sozialpolitik zu machen, wird im neuen Text zusammen mit einem Festhalten an den Fundamenten des herkömmlichen Wohlfahrtsstaats mit verbürgten Sozialleistungen und einklagbaren Rechtsansprüchen in Formelkompromisse verpackt.

Eine Minderheit innerhalb der Sozialdemokratie bestreitet vehement die Einschätzung, dass die Partei in Sachen Globalisierungsbewertung, Sozialstaatskritik und Interessenvertretung der eigentumslosen Schichten auf der Höhe der Zeit ist. So ist es für den SPD-Linken Ottmar Schreiner schlichtweg abenteuerlich, den aktuellen Konjunkturaufschwung dem "Zaubertrank" der Agenda 2010 zuzuschreiben. In bisher einmaliger Schärfe fordert der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD: "Die Entsozialdemokratisierung und Entwurzelung der SPD muss programmatisch und personell gestoppt werden."[2]

Entsozialdemokratisierung

Ganz im Gegensatz zur designierten zweiten Vorsitzenden der SPD, Andrea Nahles, hält Schreiner die These, jetzt könnten sozialökonomischen Früchte der "Reformen" der Regierung Schröder geerntet werden, für völlig unhaltbar:

Die Agenda-Politik hat die Ungleichheit im Lande verschärft.

Die Unsicherheit der Lebensverhältnisse reicht bis in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft.

Die Arbeitsmarktreformen haben die deutschen Gewerkschaften empfindlich geschwächt. Dass die Tariflandschaft heute löchrig ist wie ein Schweizerkäse, ist auch das Ergebnis sozialdemokratischer Politik.

Die Folgen für die SPD sind selbstzerstörerisch:

Sie hat infolge der Agenda 2010-Politik deutlich an Wählerzustimmung verloren und wird gegenwärtig bei 27% taxiert.

Über 200.000 Mitglieder haben die Partei verlassen. "Die Basis löst sich vereinzelt auf, die Funktionäre sorgen sich um ihre Positionen, der Partei droht die Implosion – wenn wir jetzt nicht umsteuern."

Der Versuch der SPD-Führung, einerseits an der Politik von Schröder festzuhalten und andererseits die verlorenen Stammwähler anzusprechen, ist gänzlich gescheitert.

Mehr als Zweidrittel der verbliebenen Parteimitglieder lehnen zentrale Projekte der aktuellen Regierungspolitik ab – Rente mit 67, den Gesundheitsfonds, die Unternehmenssteuersenkung, die Privatisierung der Bahn und den Bundeswehreinsatz in Afghanistan.

Der Niedergang könne mit Durchhalteparolen nicht gestoppt werden.

Schreiner fordert einen konsequenten Bruch mit der gescheiterten Politik der Entsolidarisierung, der Prekarisierung und Verarmung und der "gesellschaftlichen Spaltung". Die Alternativen: Einführung von Mindestlöhnen, Stopp aller Formen von geringfügiger Beschäftigung, Etablierung einer gesetzlichen Mindestrente, Ausbau hochwertiger sozial-kultureller Dienstleistungen u.a.m.

Zwei Punkte in der Argumentation von Schreiner dürften strittig bleiben:

Grenzen des Reformismus

Schreiner sieht den Übergang zur Agenda-Politik als politische Usurpation. "Eine kleine Clique an der Spitze der Partei wollte die reformistische Tradition der SPD als linker Volkspartei entsorgen." Aber die Einschnitte in das soziale Netz und die Umverteilungspolitik zugunsten der Unternehmen und Reichen haben nicht mit der Agenda 2010 begonnen, obgleich sie damit eine neue Qualität erreicht hat. Die Verabschiedung von einer Politik der Regulation und Steuerung der kapitalistischen Gesellschaften hatte Jahrzehnte vorher eingesetzt, war zudem nicht nur auf Deutschland beschränkt und folglich hat auch der politische Niedergang der europäischen Sozialdemokratie eine längere Leidensgeschichte.

Der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat ist die größte kulturelle Leistung des 20. Jahrhunderts. Und Schreiner hat Recht mit der These: "Das ist bis heute das Wesen des sozialdemokratischen Reformismus." Aber die Fakten über die Zerstörung dieser Reformkonstellation sind eindeutig: In allen kapitalistischen Hauptländern sinkt der Anteil der Löhne am Volkseinkommen und der Anteil für Kapitaleinkommen und Vermögen steigt. Weil aber die soziale Sicherung und mehr noch der Sozialstaat im Wesentlichen auf Abzügen vom Arbeitseinkommen basieren, gerät mit dieser Polarisierung der Verteilungsverhältnisse die kulturelle Errungenschaft des 20. Jahrhunderts in die Krise.

Wie kommt es dazu? Die Aufteilung des gesamtwirtschaftlichen Kuchens wird in letzter Konsequenz durch das gesellschaftliche Kräfte- oder Machtverhältnis entschieden. Verliert die organisierte gesellschaftliche Arbeit an Einfluss, befinden sich die Gewerkschaften in einer strategischen Defensive, dann verschieben sich die Verteilungsverhältnisse zugunsten von Kapital und Vermögenstiteln. Mehr noch: Durch die um sich greifende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen beschleunigt sich die Zerstörung der Tariflandschaft und der in langen Jahren erkämpften sozialen Sicherheit.

In der europäischen Sozialdemokratie ist dieser Transformationsprozess lange Zeit ignoriert und unterschätzt worden. Heute konstatieren sozialdemokratische Politiker überrascht, dass sich in den hochentwickelten kapitalistischen Hauptländern unter dem Stichwort "Shareholder value" eine Revolution durchgesetzt hat. Fonds und Private-Equity-Gesellschaften handeln Unternehmen wie x-beliebige Waren, gruppieren Wertschöpfungsprozesse unter dem Gesichtspunkt von Maximalrenditen um, haben einen Paradigmenwechsel in den Unternehmenskulturen und den Verteilungsverhältnissen durchgesetzt und bestehen letztlich auf einer steuerlichen und ordnungspolitischen Vorzugsbehandlung.

Es war sicherlich so, dass die große Mehrheit der Wahlbevölkerung und auch der sozialdemokratischen Parteimitglieder der Illusion aufgesessen sind, dass die Herrschaft des Finanzkapitals in Form von Fonds und Beteiligungsgesellschaften eine neue Stufe des gesellschaftlichen Wohlstandes eröffnen würde. Sie haben in Kauf genommen, dass die neue Logik einer finanzgetriebenen Kapitalakkumulation mit einer dramatischen Zunahme sozialer Ungleichheit verbunden ist und dass ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung unvorstellbare Reichtümer und ökonomisch-gesellschaftliche Macht aufgehäuft hat.

Mit der Politik der Agenda 2010 hat die SPD unter Schröder versucht, den kapitalistischen Tiger zu reiten. Mit dem Abgang Lafontaines als SPD-Parteivorsitzender und Finanzminister im ersten Kabinett Schröder ist der beschleunigte Niedergang der Sozialdemokratie sichtbar geworden. Insofern ist der Schlussfolgerung von Schreiner zuzustimmen: "Die Politik der sozialen Demontage führt zur politischen Demontage der ältesten Partei Deutschlands."

Abwicklung der Partei

Selbstverständlich sollten sich die linken Sozialdemokraten den Totengräbern des Reformismus entgegenstemmen. Aber die politische Linke im weiteren Sinne wird diesem Versuch einer Revitalisierung des sozialdemokratischen Reformismus mit großer Skepsis gegenüberstehen. Die Demontage ist zu weit fortgeschritten und viele PolitikerInnen in der SPD halten – obwohl es kurz vor zwölf ist – an einer schlechten Kompromissbildung fest. Beispiel Wolfgang Jüttner, SPD-Spitzenkandidat in Niedersachen: Es gehe nicht darum, die Reformpolitik als solche in Frage zu stellen, doch sei es unsinnig, Gesetze für alle Zeiten als sakrosankt zu erklären. "Wir haben Aufschwung und wir haben keine Aufschwunggerechtigkeit." Dies ist der von Schreiner beklagte Versuch, ohne Selbstkritik einen Wechsel durchsetzen zu wollen. Als "völlig abwegig" weist Jüttner den Vorwurf der "Entsozialdemokratisierung der SPD" zurück. Da deutliche Mehrheiten auf SPD-Parteitagen die Politik der Regierung Schröder goutiert hätten, bedeute Schreiners Kritik in "letzter Konsequenz..., die SPD hat sich selbst abgewickelt."

Dass der SPD-Linke Schreiner eine kleine Minderheit vertritt, machen auch andere Repräsentanten der sozialdemokratischen Linken deutlich. Für Andrea Nahles orientiert sich die LINKE an einer durch die Globalisierung faktisch vernichteten Arbeitswelt und dem entsprechenden Sozialstaat. Ihre These: "Die Flexibilisierung wird vielleicht sogar noch zunehmen. Deshalb müssen wir den Menschen die Möglichkeit geben, trotzdem selbstbestimmt zu leben... Es ist Aufgabe der SPD, einen Weg aufzuzeigen... Die SPD muss wieder stärker der Anwalt derjenigen sein, die glauben, in dieser Gesellschaft ausgegrenzt zu sein."[3] Wie im Zeitalter der Finanzmarktkapitalismus, der Ausbreitung prekärer Lohnarbeit und der Zerstörung sozialer Sicherheit eine sozialstaatliche Regulierung aussehen soll und durchzusetzen ist, bleibt bislang allerdings völlig offen.

Noch deutlicher wird die Zerrissenheit der sozialdemokratischen Linken in der Positionsbestimmung von Michael Müller. "Eine Klärung, was links ist und wie eine linke Politik aussieht, ist notwendig. Einfach ist sie nicht. Protest gegen das ökonomische Einheitsdenken ist leicht, aber keine Antwort... Lafontaine bleibt im Vergangenen, obwohl erneut ein Sturm aufzieht. Mit dem Klimawandel und den absehbaren Verteilungskonflikten um Rohstoffe baut sich eine noch größere Herausforderung auf als der Umbruch der neunziger Jahre. Die Linke muss jetzt eine große Geschichte erzählen, wie eine gute Zukunft möglich wird: weg von der Fixierung auf bloßes Wachstum hin zu einer nachhaltigen Entwicklung, die Ökonomie, soziale Gerechtigkeit und Ökologie miteinander verbindet. Das ist ihr Projekt, doch große Teile der traditionellen Linken sind im alten Wachstumsdenken stecken geblieben, in dem Kapitalismus und Kommunismus gleichsam feindliche Zwillinge waren. Neues Denken ist das nicht."[4]

Es wäre absurd zu bestreiten, dass die Linke – vor allem in den staatssozialistischen Ländern – lange die Herausforderung des sozialökologischen Umbaus und des Übergangs zu einem qualitativen Wirtschaftswachstum ignoriert und unterschätzt hat. Dennoch stellt sich heute die Frage, wie die tiefe soziale Spaltung zu überwinden und gleichwohl ein radikal geänderter Umgang mit den natürlichen Ressourcen zu etablieren ist. Die Kritik, dass die LINKE tief im mechanistischen Wachstumsdenken verwurzelt sei, geht ins Leere. Es geht eben nicht darum, eine Party auf Kosten der Natur, der Dritten Welt und der Zukunft zu beenden, sondern die bestehenden Macht- und Eigentumsverhältnisse so zu verändern, dass die Mehrheit der Bevölkerung die gesellschaftliche Kontrolle und Steuerung über den Reichtum zurückgewinnt.

[1] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1844), in: MEW Bd. 1, Berlin/DDR 1976, S. 385
[2] Ottmar Schreiner: Gegen die Entsozialdemokratisierung der SPD, in: FAZ vom 10.9.2007, S. 11.
[3] Andrea Nahles: Die zweite Rakete zünden, in: Vorwärts, September 2007.
[4] Michael Müller: Lafontaines Rachefeldzug gegen die SPD, in: Tagesspiegel vom 18.09.2007.

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