1. Januar 2005 Redaktion Sozialismus

Deutsche Zustände

Unter diesem Titel erscheint jedes Jahr ein Bericht[1] über das gesellschaftliche Kernproblem: Den BürgerInnen werden Veränderungen des Arbeitsmarktes, der Sozialsysteme, aber auch der Bildungs- und Kulturinstitutionen zugemutet, weil vermeintlich die globalisierte Ökonomie und andere Strukturveränderungen keine Alternative zuließen. Die allseits bekannte Reaktion der mehr oder minder Betroffenen sind Unsicherheit und Zukunftsängste. "Die Frage ist, wie sich die subjektiven Einschätzungen in der Bevölkerung in bezug auf soziale, politische und ökonomische Entwicklungen auf dem Hintergrund dieser Ungewissheit entwickeln."

Dass die verschärfte soziale Spaltung auch mit einer verstärkten Ausbreitung von Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit einhergeht, gehört mittlerweile fast schon zu den Binsenweisheiten, wenngleich diese in der Regel von den Politikern verdrängt werden. Die rechtsradikalen Gruppierungen und Parteien treten in den Städten dieses Landes immer dreister in Aktion. Staunend registrieren die politisch Interessierten, dass die NPD wenige Monate nach dem gescheiterten Verbotsantrag vor dem Bundesverfassungsgericht im Bündnis mit ihren parteipolitischen Konkurrenten am rechten Rand einen "Modernisierungsprozess" einleitet, der in anderen Teilen Europas seit längerer Zeit besichtigt werden kann.

In einer Mischung aus repräsentativen Untersuchungen und exemplarischen Fallgeschichten wird in dem Langzeitprojekt jährlich ein Report über die "Deutschen Zustände" vorgelegt. Wie stellen sich diese Zustände im abgelaufenen Jahr 2004 dar?

Drei Befunde seien herausgegriffen:
1. Die Zukunftsangst steigt an: "Von 2002 zu 2004 ist die Erwartung, dass sich die eigene finanzielle und wirtschaftliche Situation verschlechtern wird, von fast 24% auf über 40% gestiegen. Ähnliche Entwicklungen zeigen sich in der weiter gestiegenen Angst vor Arbeitslosigkeit bzw. in der Erwartung eigener Arbeitslosigkeit."
2. Die Fremdenfeindlichkeit steigt deutlich an. 60% der BürgerInnen der Berliner Republik sind mittlerweile der Auffassung, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben. "Aus dem Blickwinkel der politischen Orientierung zeigt sich, dass der Gesamtanstieg der Fremdenfeindlichkeit insbesondere auf Personen zurückzuführen ist, die sich der politischen Mitte zuordnen."
3. "Eine gefährliche politische Bündelung kann im rechtspopulistischen Potential bestehen. Von 2002 auf 2003 stieg dieses Potential von knapp 20% auf 25% ... 2004 blieben die ermittelten Werte auf hohem Niveau."

Im rechten Lager bemühen sich vor allem NPD und DVU um Vereinheitlichung und "Modernisierung". Sie kaschieren ihre programmatische Nähe zu früheren faschistischen Versuchen, den zivilisatorischen Fortschritt zurückzuwerfen und bemühen sich um den Anschluss an das gewachsene Potential von Zukunftsängsten, Vertrauensverlust und Parteienfeindlichkeit.

Die bürgerliche Mitte sieht sich von diesen Mentalitäten und politischen Formationen am rechten Rand unter Druck gesetzt. An den Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei trat die ganze Ambivalenz in Erscheinung. Aber auch die Diskussionen über Islamismus, Terrorismus, Kriegseinsätze und Folter zeigen den fortschreitenden Verfall der rechtsstaatlichen Werte und Normen:

  CDU und CSU, die Mehrheitsparteien des bürgerlichen Lagers, sind überwiegend strikt gegen eine Mitgliedschaft der Türkei. Sie fordern mit Blick auf die "christliche Tradition des Abendlandes" und die fragile Konstruktion der gerade massiv erweiterten EU eine Begrenzung und Konzentration auf die innereuropäische Entwicklung. Selbstverständlich wollen sich auch die Christdemokraten nicht dem Willen der Hegemonialmacht USA verschließen, die seit langem für eine volle Integration des NATO-Mitglieds Türkei in die EU eintritt. Die Union bietet der Türkei eine privilegierte Partnerschaft an, d.h. ähnlich wie die Schweiz oder das NATO-Mitglied Norwegen soll das Land in die ökonomische und militärische Integration eingebunden werden. Wegen seiner Traditionen und angeblichen "Multikulti-Gefahren" für hierzulande soll das Land allerdings keinen Mitgliedstatus erlangen. Die von der Union mehrheitlich vertretene These, Schröder und Fischer zielten bei ihrem Engagement in der Türkeifrage auf die Wählerstimmen aus dem Bereich der in Deutschland ansässigen drei Millionen BürgerInnen türkischer Herkunft, ist absurd. Wenn wahlpolitische Optionen einen Rolle spielen, dann im Unionslager. Fremdenfeindlichkeit ist bis weit in der Mitte der Gesellschaft vorgedrungen; Historiker, Juristen und hochrangige Kirchenfunktionäre sind zu Zugeständnissen gegenüber Fremdenfeindlichkeit bereit. Die Forderung nach Einführung von plebiszitären Elementen in die politische Kultur wird locker mit der Türkei begründet und im gleichen Atemzug eine Volksabstimmung über die zur Ratifizierung anstehenden EU-Verfassung abgelehnt.

  Auch am Urteil bezüglich der Androhung von Folter durch hohe Polizeibeamte wird die Auflösung rechtsstaatlicher Prinzipien deutlich. Zum ersten Mal hat ein hoher Beamter die Anweisung erteilt, Gewalt als Mittel der Aussageerpressung einzusetzen. Das Gericht hat mit der Missbilligung dieser Tat ohne Strafe eine der schärfsten Verletzungen der Menschenrechte in den Rang einer bloßen Opportunitätsentscheidung gerückt.

  Schließlich müssen wir vor diesem Hintergrund uns verwundert die Augen reiben, dass in Großbritannien die Einkerkerung von Menschen, die des Terrorismus verdächtigt werden, ohne Gerichtsurteil möglich werden sollte (was es realiter bereits ist, allerdings illegal, wenn auch von der Regierung gedeckt). Oder dass in der US-Armee systematische Folterungen nachgewiesen und bei der Inhaftierung von vermeintlichen Al Kaida-Terroristen sämtliche rechstaatliche Normen außer Kraft gesetzt wurden.

Aber auch auf der Alltagsebene wird die Würde des Menschen eklatant verletzt. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband hat den Nachweis erbracht, dass die sozialdemokratisch-grüne Regierungskoalition bei der Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe auch das Ziel verfolgt hat, die Ansprüche der Armen kleinzurechnen.

Die Regelsätze für das Arbeitslosengeld II und alle daraus abgeleiteten anderen Regelsätze liegen knapp 20% unter dem Existenzminimum. Die Forderung: Über die Höhe dieses Existenzminimums dürfe nicht in Parlamentsausschüssen und Beamtenbüros entschieden werden. Ausgerechnet die Arbeiterwohlfahrt erklärt aber diese Kürzung des ALG II und des Sozialgeldes unter das von der Verfassung gebotene Existenzminimums für alternativlos. Die notwendige Anhebung der Ausgaben um 4,4 Mrd. Euro sei wegen der engen Spielräume in den öffentlichen Kassen nicht finanzierbar.

Hartz IV erhöht die soziale Fallhöhe, weitet den Kreis der potentiell von Armut betroffenen BürgerInnen erheblich aus und beschädigt die bisher in der Regel respektierten Rechts- und Kulturnormen. Die Ausführungsbestimmungen für das ALG II passierten den Bundesrat ohne Wortmeldung. Gleichzeitig inszeniert die rot-grüne Regierungskoalition eine aufwendige Kampagne, um dem Wahlvolk die "Vorzüge" der neuen Regelung deutlich zu machen.

Wenige Beispiele der in dem Regelsatz eingeschlossenen Verarmung und Verrohung seien angeführt: Für die monatliche Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln werden den Betroffenen 18,11 Euro pro Monat zugebilligt. Das für Berlin geplante Sozialticket soll ab Jahresbeginn 2005 32 Euro kosten. Für den monatlichen Bücherkonsum stehen im pauschalisierten Regelsatz 5,98 Euro zur Verfügung, für Kommunikation mit Telefon und Internet 17,85 Euro. Damit wird in einer mobilen Gesellschaft Beweglichkeit und Kommunikation massiv be- und verhindert.

All dies kommt mit dem Pathos der Unausweichlichkeit und Alternativlosigkeit daher. Wenn es nicht gelingt, die Haltung aufzubrechen, sich in das vermeintlich Alternativlose zu fügen, sind die zukünftigen deutschen Zustände prognostizierbar.

Letztlich wird der in der kapitalistischen Gesellschaft so gerühmte Rationalisierungsdiskurs erneut in einen Selektionsdiskurs umschlagen. Die politisch erzeugte und systematisch verschärfte Finanzkrise führt dazu, dass schrittweise und schleichend aus der rationalen Erzeugung und Verteilung von Zuwächsen des gesellschaftlichen Wohlstandes ein Zwang zur interessengeleiteten Verteilung der immer geringer werdenden Mittel hervorwächst.

Wie der Historiker Peukert nachwies: "Der Umschlag vom Rationalisierungsdiskurs in den Selektionsdiskurs radikalisierte sich im Verlauf der Krise in vielen Ländern. Die deutsche Besonderheit lag darin, dass mit den Nationalsozialisten der Selektionsdiskurs im Rassismus seine theoretische Legitimation und in der Diktatur sein radikales Instrument erhielt."[2]

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