1. Januar 2000 Dieter Bott

Dialektik ist der lebendige Geist des Widerspruchs

1 Die Frankfurter Schule feiert und lässt sich feiern. Zum 75jährigen Bestehen des »Instituts für Sozialforschung« wird eine internationale Konferenz abgehalten – »Kritik der Gesellschaft«. Mit prominenter Beteiligung: von Jürgen Habermas bis Alfred Schmidt, von Zygmunt Bauman bis Richard Sennett, von Jürgen Seifert bis Michael Walzer. Alles edle Federn und kritische Geister.
Ein junger Mann kommt extra aus der Schweiz zum ersten Mal nach Frankfurt. In einer Pause zwischen »Krise und Kritik«, »Kulturindustrie« und »globaler Kapitalismus« frage ich ihn nach seinem Eindruck. Er hat über Walter Benjamin promoviert und ist enttäuscht: »Unter Frankfurter Schule habe ich mir was anderes vorgestellt.«
»Was haben Sie erwartet?«, frage ich und zitiere Alfred Schmidt, der uns »den Begriff der Natur in der Lehre von Marx« beigebracht hat: »Von Ochsen kann man nichts anderes verlangen als Rindfleisch.« Und von Jürgen Habermas, der als der führende Vertreter der heutigen Frankfurter Schule gilt?

2 Als die von Habermas favorisierte rot-grüne Bundesregierung nach fünf Wochen Bomben auf Jugoslawien in eine »Legitimationskrise« gerät, hat er die Fragwürdigkeit dieser Politik beschönigt. Ach mögen doch die gottverfluchten Bomben quasi beflügelt vom hegelschen Weltgeist hinter dem Rücken der Akteure das historisch überholte Völkerrecht überwinden, um universell den Minderheitenschutz als Menschenrecht zu etablieren! Das war klassische Ideologie, Wunschdenken pur. So habe ich das jedenfalls von Adorno gelernt. – Aber war das »falsche Bewusstsein« von Habermas auch »notwendig« falsches Bewusstsein?
Notwendig gewesen wäre ideologiekritische Aufklärung über die materiellen und ideellen Interessen aller am Krieg beteiligten Parteien: eine Analyse ihrer jeweiligen »Feindbilder« und »falschen Propheten« (Leo Löwenthal). Der Stolz darauf, dass die eigenen Generationsgenossen endlich an der Regierung sind, vernebelt das kritische Bewusstsein. Identifiziert mit »den Unsrigen« (Fischer) und der eigenen National- und Regierungsmannschaft, werden die Verbrechen (Auschwitz und Völkermord) an den Außenfeind Milosevic delegiert, um die inneren Widersprüche im Bündnis zu kitten.
Die Militarisierung der deutschen Politik wird von den Intellektuellen als »Zivil«-Gesellschaft verklärt. Wie konnte das passieren? Wieviel Jahre liegt der Golf-Krieg eigentlich zurück und der Zorn der desinformierten Journalisten darüber, dass sie auf eine Fernsehinszenierung reingefallen waren? Hätten nicht sämtliche Warnlichter aufleuchten müssen, als Bomben und Krieg in friedensstiftende und friedenserzwingende Maßnahmen umbenannt wurden? Erinnern diese Begriffsverkehrungen nicht an »new speech« von George Orwell, 1984? Hat der gleichzeitige Verkaufserfolg von Victor Klemperers Tagebüchern und ihr Destillat, seine Kritik an der Sprache des 3. Reiches (»LTI«) die Erkenntnis nicht dafür geschärft, dass sich schnöde politische und materielle Interessen gewöhnlich mit den höchsten Idealen schmücken? Menschenrechte. Minderheitenschutz. Ein neues Auschwitz verhindern!
Kann mir einer das idealisierende Wunschdenken der meisten deutschen Schriftsteller und ehemaligen Linksintellektuellen erklären? Ihre Identifikation mit Regierungs-Politik? Ohne den Materialisten Karl Marx (»das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein«) oder den realistischen Otto Normalverbraucher zu zitieren: »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing«? Vielleicht der Friedensminister? »Ich kann gar nicht soviel kotzen wie ich lesen muss« (Oskar Lafontaine über die Kriegstagebücher von Scharping).
Franz Neumann, USA-Emigrant der Frankfurter Schule, gibt wenige Monate vor seinem tödlichen Unfall, 1954, in einem Brief eine mögliche Erklärung für die Anpassung der Intellektuellen: »Wir, die wir (in den 20er Jahren) in der Opposition zu der Reaktion standen, waren alle zu feige. Wir haben alle kompromittiert. Ich habe ja mit eigenen Augen gesehen, wie verlogen die SPD in den Monaten Juli 1932 bis Mai 1933 war – und nicht nur damals – und habe nichts gesagt. Wie feige die Gewerkschaftsbosse waren – und ich habe ihnen weiter gedient (als Rechtsanwalt). Wie verlogen die Intellektuellen waren – und ich habe geschwiegen. Natürlich kann ich das rational rechtfertigen mit der Einheitsfront gegen den Nationalsozialismus, aber im Grunde war Angst vor der Isolierung dabei. Dabei hatte ich große Beispiele: Karl Kraus, Kurt Tucholsky. Und ich habe immer in der Theorie den sokratischen Standpunkt für richtig gehalten, dass der wahre Intellektuelle immer und gegenüber jedem politischen System ein Metöke, ein Fremder sein muss.«

3 Am Donnerstag Nachmittag in der U-Bahn auf dem Weg zur Bockenheimer Warte und zum Festakt, der die dreitägige Konferenz mit Reden der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth und der neuen hessischen Kultusministerin von der FDP eröffnet, treffe ich KD Wolff, den Verleger (Stroemfeld/Roter Stern/neue kritik) und ehemaligen Bundesvorsitzenden des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund). Sein Bruder Frank Wolff wird mit dem Cello und eigens für diese Veranstaltung komponierten »Noten zum Fest« die Grußworte und Eröffnungsansprachen kontrapunktieren.
Heute spielt Frank wieder die Nationalhymne, behaupte ich. Aber nicht zerrissen & ratlos – wie gewöhnlich – oder aggressiv, wie Jimmy Hendrix die US-Hymne exekutiert, sondern ausgewogen und moderat, in ihrer korrekten Fassung. Ob die erlauchten Anwesenden aufstehen werden und vielleicht sogar mitsingen?
Ich weiß nicht, ob die Oberbürgermeisterin, die im Sportausschuss für die CDU einst ihre Karriere begann, sich eine Frankfurter Schule auch ohne Bolzplatz und Turnhalle vorstellen kann. Jedenfalls trägt sie fehlerlos vor, was ihre Schreibkraft zu Ehren des Instituts für Sozialforschung notiert hat, erste Sahne, wie der Text der Kultusministerin. Das rechte Wort – an jedem Ort.
Erst kürzlich zum Geburtstag des Frankfurter Jazz-Idols Albert Mangelsdorf war ihr die Peinlichkeit passiert, dem weltberühmten Posaunisten das falsche Instrument zu attestieren und ihn für sein hervorragendes Trompetenspiel zu würdigen. Da lacht die Frankfurter Rundschau! Jetzt aber freut sich erstmal Petra Roth. Ohne Textvorlage, zum Cellisten Frank Wolff gewandt, nachdem dieser seinen ersten Einsatz heruntergekratzt hat, sagt sie spöttisch: »Das war aber fast schon affirmativ, wie Sie da eben gespielt haben, Herr Wolff!« - Frank, hörst du die Signale? Wach auf! Als Adorno-Schüler und ehemaliger SDS-Aktivist machst du ihnen den Affen, weil du von ihnen Zucker bekommst. Aber kannst du auf dir sitzen lassen, dass dich eine CDU-OB links überholt, um dein nicht-identisches Spiel »fast schon affirmativ« zu nennen? Oder hat sie »fast schon« recht? »Kultur ist Müll«, sagt Adorno. Kipp ihn ihr vor die Haustür! Oder besser noch vors Amt oder in die alte Oper. Hat sie nicht »fast schon« darum gebeten und dich förmlich dazu aufgefordert?

4 »Du Kriegstreiber!«, herrscht KD Wolff den FAZ-Schöngeist Herrn Jäger an, der uns über den Weg läuft und sich erschrocken verkrümelt. Du Kriegstreiber? – »Ich wechsle den Bürgersteig, wenn ich ihn in der Stadt sehe«, behauptet KD, »und sag’s ihm ins Gesicht: Du Kriegstreiber!« - Das hätte ich nicht gedacht.
Bei aller selbstverschuldeten Entmündigung der ehemaligen Studentenrebellen bleibt doch ein unversöhnter Rest? Während des Vietnam-Kriegs hat KD Wolff Deserteuren der US-Army geholfen, ins sichere Asylland Schweden zu entkommen. Nicht von ungefähr ist das von der 68er-Generation massenhaft durchgesetzte Recht auf Verweigerung jeder Uniform und Uniformierung virulent geblieben. Make love not war! – Vögeln statt Turnen – bis hin zu Oskar Lafontaine, einem der ersten Modernisierer und letzten hedonistischen Sozialdemokraten in der SPD.

5 »Weißt du noch, wie damals der Schütte (hessischer Kultusminister) unter der Barrikade durchkriechen musste?« Ein Leuchten steht im Gesicht der beiden Staatsbeamten als wäre damals – 68 – auch ihre beste Zeit gewesen. Wenn auch auf der anderen Seite der Barrikade und unter Polizeischutz, den sie gerufen haben, um die Besetzung der Universität zu beenden. Ein Drittel der Ressourcen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung hatten die revoltierenden Studenten gefordert, um damit eigenes Personal und die Forschungsrichtung selbstverantwortlich zu bestimmen. Ein Drittel, das war nicht unbillig, angesichts der intellektuellen Kapazität, die der SDS hätte einbringen können.
Stellen wir uns für einen Augenblick vor, die intellektuellen Studentenführer Reimut Reiche (»Sexualität und Klassenkampf«) und Adornos Doktorand Hansjürgen Krahl, der gemeinsam mit Rudi Dutschke das berühmte Organisationsreferat verfasst hat, wären ins Direktorium des Instituts aufgestiegen. Welche Bilanz hätte man jetzt auf dieser Konferenz ziehen können, wenn Habermas und Ludwig von Friedeburg nicht darauf gedrängt hätten, die Polizei zu holen? Ludwig von Friedeburg (»Ich bin nie ein Marxist gewesen«) hat als autoritätsgebundener Sozialdemokrat und späterer hessischer Kultusminister die Rechte des konservativen Landeselternbeirats gestärkt. Gegen den pädagogisch-reformerischen Elan der Studentenrevolte. Statt kleine Klassen gab es Berufsverbote, veranlasst von der Troika Brandt/Wehner/Schmidt, und arbeitslose Lehrer. Diese einmalige Chance wird von der Sozialdemokratie vergeigt. Oder sollte ich besser schreiben: Wieder einmal erfüllte die SPD ihren verhängnisvollen Verwaltungsauftrag im Interesse der Herrschaftssicherung gegen die mögliche Alternative. Jetzt steht der nun 75jährige Direktor des Instituts am Rednerpult und fesselt die gebannt lauschenden Zuhörer mit der Entstehungsgeschichte der Frankfurter Schule.

6 »Als erster ist Felix Weil zu nennen, der aus Argentinien kommend, wo seine Eltern im Getreidehandel reich geworden waren, in Frankfurt das Gymnasium besuchte und mit dem Studium begann. (...)
Hier lernte er Horkheimer und Pollock näher kennen, die zum Abschluss ihres Studiums, das sie gemeinsam in München und Freiburg begonnen hatten, ebenfalls nach Frankfurt gekommen waren. (...)
In diesem Kreis entstand die Idee des Instituts. Weil hatte zunächst gedacht, seine beträchtlichen Mittel für Bildungsprojekte einzusetzen wie die erste Marxistische Arbeitswoche, die er im Mai 1923, angeregt von Karl Korsch in Thüringen mitfinanzierte. Aber in den Gesprächen mit Pollock und Horkheimer wuchs die Vorstellung von einer festen Forschungsinstitution, die an der Frankfurter Universität einzurichten möglich erschien. (...)
Von Anfang an meinte Sozialforschung als Aufgabe des Instituts mehr als der Begriff heute deutlich macht. Es ging in wissenschaftlicher wie in praktischer Absicht um die ›Kenntnis und Erkenntnis des sozialen Lebens in seinem ganzen Umfang‹, um das Geflecht von ›Wechselwirkungen zwischen der wirtschaftlichen Grundlage, den politisch-juristischen Faktoren bis zu den letzten Verästelungen des geistigen Lebens in Gemeinschaft und Gesellschaft‹, wie es im Gründungsmemorandum hieß.« (FR, 24.9.99)

7 Seit Professor Günter Rohrmoser, den heute niemand mehr kennt, ist »Das Elend der kritischen Theorie« bekannt: bürgerlich und elitär, negativ und pessimistisch oder voluntaristisch und gewaltstiftend, was genauso verhängnisvoll ist. Mit einem Satz: Seit 20 Jahren ist die kritische Theorie zu nichts mehr nütze: weder für eine politische Karriere noch für eine wissenschaftliche.
Doch immer wieder aufs neue fragen ihn junge Studenten nach der »Dialektik der Aufklärung«, berichtet Axel Honneth verwundert. Wie kommt das nur? – Auch Albrecht Wellmer (Berlin) hat sich dem »Verblendungszusammenhang« der kritischen Theorie, ihrer »totalitären Logik« und »nihilistischen Konsequenz« entzogen. Unerschrocken wie sein Philosophie-Kollege Herbert Schnädelbach, der sich selber »sozialdemokratische Hemdsärmeligkeit« bescheinigt, hat er gegen die ästhetisierenden Versuchungen im Café Laumer Widerstand geleistet.

8 Wird die nutzlose und veraltete kritische Theorie die revisionistischen Attacken von Gertrud Koch, Schnädelbach und Wellmer überleben? Nachdem schon Habermas sie bis zur Diskurs-Fähigkeit verdünnt und revidiert hat? Und auch Axel Honneth sie nicht mehr in allen Punkten anerkennt? Sloterdijk hat der kritischen Theorie den Totenschein ausgestellt. Michael Walzer hat sie seiner eigenen Größe angepasst und plädiert für »A good eye« – Augenmaß – statt für Adornos bösen Blick.
Die kritische Theorie überlebt, wo sie sich »das Leid der Kreatur« (Horkheimer) nicht ausreden lässt und am Menschheitstraum »vom ewigen Frieden« (Kant) festhält: ohne den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, ohne Stress und Plage, ohne Schumi und Waldi. Wenn sie die bestehenden Verhältnisse »rücksichtslos und radikal kritisiert« (Marx), was keiner der Festredner dieser Konferenz je getan hat.
Ihre Analysen – die der Kulturindustrie zum Beispiel – bewahrheiten sich, gerade auch empirisch, – ebenso wie die aus dem »Kommunistischen Manifest«. Zentralisation und Konzentration des Kapitals (Fusion und Verschlankung = Entlassungen) verweisen auf die Unfähigkeit des Profitmaximierungsprinzips, die Möglichkeiten der technischen Rationalisierung human und global zu organisieren. Historisch überfällige und gesellschaftlich nicht mehr notwendige Herrschaft und Ausbeutung werden vermittelt über das fit for fun der Kulturindustrie. Körper und Geist werden durch ihre Sportifizierung modelliert und auf die gesellschaftlich dominierenden Interessen hin ausgerichtet. Dazu gibt es keine Alternative? – Warum muss diese frohe Botschaft dann so unermüdlich wiederholt und pausenlos beschworen werden?

9 Richard Sennett hat eine Botschaft an das Auditorium. In New York untersucht er mit seinen Studenten die flexiblen Billig-Jobs. Und er warnt davor: »Wollen Sie wirklich in einer solchen Gesellschaft leben?« Woher er wisse, fragt Michael Walzer, dass die Leute unglücklich sind bei den vielen Jobs und den damit verbundenen Möglichkeiten? Michael Walzer wird das niemals wissen. Weil er es nicht wissen will. Happy consciousness. – Glücklich ist, wer vergisst!
Was er von der Frankfurter Schule lesen soll, fragt Richard Sennett als Student Hannah Arendt, seine Professorin: mit welchem Buch beginnen? Trotz der persönlichen und theoretischen Differenzen zur Frankfurter Schule überrascht ihre rigorose Anwort: mit überhaupt keinem! »Nothing!« Sennett hat sich an diesen Ratschlag nicht gehalten und »Eros and civilisation« (»Triebstruktur und Gesellschaft«) gelesen, ein Buch, das er noch heute empfiehlt. Herbert Marcuse diskutiert Freud und bringt »die versteinerten Verhältnisse« (Marx) zum Tanzen; gegen das unhistorisch festgeschriebene Realitätsprinzip werden die von ihm gefesselten Möglichkeiten ins Spiel gebracht.
Es gibt immer eine Alternative – hier und heute – auch wenn die Realpolitik im eigenen Interesse Identität und Geschlossenheit als vorgebliche Sachzwänge behaupten muss und durchsetzen will.
Bedroht von Stalinismus und Faschismus hat Hannah Arendt keine andere Alternative gesehen, als die formale und repräsentative westliche Demokratie und den Spätkapitalismus gegen den totalitären Kommunismus legitimiert. Im Unterschied zur Frankfurter Schule, die auch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das ihnen Exil gewährte, wegen seiner kulturindustriell gestützten Eindimensionalität (Marcuse) einer »rücksichtslosen und radikalen Kritik« (Marx) unterzog. Im Interesse einer auch sozial befriedeten und befreiten Gesellschaft, die den hochentwickelten Stand der Produktivkräfte durch drastische Arbeitszeitverkürzung endlich einlöst und die notwendige Arbeit ebenso wie Freizeit und Muße selbstbestimmt und gerecht auf alle verteilt.

10 Nachzutragen bleibt noch Walzers Beispiel mit der Verkehrsampel, das auch den Berichterstatter der Frankfurter Rundschau beschäftigt: »Horkheimer verglich in einer Notiz die Art der Straßenüberquerung um 1900 mit unserer heutigen Praxis. Konnten die Passanten um 1900 noch selbst entscheiden, wie sie die Straße überqueren wollen, sehen sie sich heute, so Horkheimer [in den 50er Jahren], dem Zwang der Ampel oder des Verkehrspolizisten ausgesetzt. Zeichen einer unfreien Gesellschaft. Walzers vernichtendes Fazit: Hier ist die Sozialkritik auf den Hund gekommen. Was hindert die Passanten daran, an der Ampel eine Revolution zu planen?« (FR, 28.9.99).
Gemessen am revolutionären Ampel-Stürmer Walzer war Adorno ein echter Konterrevolutionär und pragmatischer Sozialreformist. Als endlich, ich meine 1993, vorm Institut eine Fußgängerampel installiert wurde, hat die Frankfurter Rundschau darauf hingewiesen, dass viel zu spät hier ein Wunschtraum von Adorno in Erfüllung ging, dem er sogar mit Eingaben ans Verkehrsamt Nachdruck verliehen hatte. Es war schon in den 60er Jahren die Hölle, wenn man als Fußgänger die doppelspurige Senckenberg-Anlage überqueren wollte, um vom Institutsgebäude auf der einen Seite zur gegenüberliegenden Mensa oder ins Café Bauer zu kommen.
Dass die Toleranz-Forderung einmal ein Kampfbegriff gegen die Hegemonie und Intoleranz der katholischen Kirche war, ehe »anything goes« auch Nazi-Propaganda und Nazi-Parteien toleriert – auf diesen »Zeitkern der Wahrheit«, Herr Schnädelbach (!) hat Herbert Marcuse in seinem berühmten Aufsatz hingewiesen. Die gleiche »Dialektik« gilt für die Ampeln, die einmal ein Fluch, ein andermal ein Segen sein können. Beinahe sicher bin ich, dass Adorno heute eine konservative Gewerkschaftsposition verteidigen würde – zumindest gegen die modernisierten Ampel-Flitzer wie den allzeit flexiblen Michael Walzer.

11 »Je älter er werde«, bekennt Helmut Dubiel, einer der Direktoren des Instituts für Sozialforschung, »um so weniger verstehe er noch, was das ist: Dialektik.« Diese Frage, daran erinnere ich mich lebhaft, hat Adorno auch im Seminar gestellt. Ein paar Leute melden sich zu Wort und auch ich werde drangenommen. Nein, knapp vorbei ist auch daneben. Wenn einer jemanden gleichzeitig liebt und hasst, hatte ich geraten. Ambivalenz könnte man das nennen. Adorno berichtet, dass nach einer Anekdote Goethe genau das von Hegel persönlich wissen wollte. Und dieser habe geantwortet: Dialektik ist der lebendige Geist des Widerspruchs.
Während der internationalen Konferenz mit dem schönen und vielversprechenden Titel »Kritik der Gesellschaft« unter all den Querdenkern und Tabubrechern der Streitkultur: War denn da niemand zum Streiten aufgelegt? Kein lebendiger Geist des Widerspruchs? Du musst noch was sagen, bestürme ich den »nonkonformistischen Intellektuellen« Alex Demirovic (»Die Entwicklung der kritischen Theorie zur Frankfurter Schule«, Suhrkamp Verlag, 983 Seiten, 39,80 DM). Sonst bin ich umsonst von Düsseldorf nach Frankfurt gefahren. Kurz bevor Ludwig von Friedeburg die etwa 500 Versammelten endgültig ins Wochenende verabschiedet und die Bitte einer Zuhörerin nach einem regelmäßigen jour fix, »wo man erfahren kann, was am Institut eigentlich so geforscht wird« mit dem Hinweis bescheidet, das habe man schon 1996 beschlossen, »aber irgendwie nie realisiert«, meldet Alex Demirovic »einen kleinen Dissens« an: Die Auftragsforschung für die Industrie zum Beispiel, die es auch in den 50er Jahren schon gab, berge wie jede Drittmittelanwerbung »die Gefahr der Komplicenschaft«, den Verlust der Unabhängigkeit.
»Rücksichten« heißt ein kleines Buch, das von vier Mitarbeitern des Frankfurter Instituts im Selbstverlag herausgegeben wird. Fast alle ehemaligen Mitarbeiter sind um einen Beitrag gebeten worden, die aus der Innenansicht des eigenen Mitwirkens die Kontroversen und Kompromisse der Forschungsarbeit hätten darstellen können. Kein Interesse. Bis auf die vier Autoren. Über Edwin Schudlich in Frankfurt kann man die rücksichtsvollen »Rücksichten« für 30 DM erwerben. Am Büchertisch vorm Hörsaal VI war das Buch nicht präsent. »Wer sich dafür interessiert, wird sich schon melden«.

Dieter Bott ist Dozent an der Universität / Gesamthochschule Duisburg.

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