1. September 2002 Redaktion Sozialismus

Die Flutwelle, eine schwächelnde Ökonomie
und der "deutsche Weg"

Die von den Wahlkampf- und Parteizentralen der bundesdeutschen Parteien entwickelten Regiebücher für den Wahlkampf 2002 sind samt und sonders durch Sonderentwicklungen zu Makulatur gemacht worden. Bis in den Spätsommer hinein machte sich der Konjunkturaufschwung rar, so dass die chronischen Probleme Arbeitslosigkeit, Defizite in den Sozialkassen und öffentlichen Haushalten etc. schlagartig sichtbar wurden.

Die christ- wie freidemokratische Opposition musste sich nun aber von der erfolgreichen Wahlkampfmelodie – Deutschland trägt die rote Laterne – verabschieden, weil beispielsweise die statistischen Korrekturen für die Sozialproduktsrechnung der USA die Schärfe der weltweiten wirtschaftlichen Rezession sichtbar machten.

Die Symptome von Wirtschaftskriminalität bescherten nicht nur den Wertpapierbörsen negative Impulse, sondern die Auswechselung und auch Verhaftung von Vorzeige-Managern warfen ein weiteres bezeichnendes Licht auf die Kurssprünge und den "irrationalen Überschwang" der neunziger Jahre. Das vorzeitig ausgerufene Zeitalter der "New Economy" wurde endgültig beerdigt. Das gefeierte Produktivitätswachstum in den USA musste deutlich nach unten korrigiert werden; auch die These von den durch die "New Economy" erhöhten Unternehmensgewinnen wurde als moderner Mythos entlarvt; die massiven Liquditäts- und Bonitätsprobleme der großen Versicherungsunternehmen erwiesen sich schließlich als bitterer Kommentar zum Einstieg in die kapitalgedeckten Altersrenten, dem der einstige IGM-Kollege Riester seinen Namen gab.

Nach dem diversen Schwarzgeldaffären der Konservativen wurde ein umfassendes Netz der Korruption bei sozialdemokratischen Kommunalpolitiker sichtbar. Und etliche Bundesparteien verloren führende Politiker, weil sie ihre wirtschaftlichen Verhältnisse nicht im Griff hatten oder in Folge der ansteckenden Gier aus den höheren Etagen des Kapitals selbst bei einfachen Rabattoperationen wie "miles and more" vor einem mehr oder minder kleinen Beschiss nicht zurückschreckten. Die bürgerliche Gesellschaft enthüllte sich von ihrer schönsten Seite.

Schließlich sorgten Unwetter und die nachfolgende Flutkatastrophe für eine schonungslose Demaskierung des "Geredes" von den allgemeinen Interessen und dem vermeintlich hohen Gut eines parteiübergreifenden Konsensus. Nach einigem parteilichen Hick-hack hat sich die politische Klasse zu einer Soforthilfe und einem Aufbauprogramm für die Flutopfer in der Größenordnung von knapp 10 Mrd. Euro durchgerungen. Die tatsächliche Schadenssumme dürfte – von den Personenopfern abgesehen – freilich über 20 Mrd. Euro zu liegen kommen, so dass in jedem Fall bei einem Teil der Geschädigten erhebliche Belastungen hängen bleiben. Wie freilich die Mittel für diesen Sonderfonds aufgebracht werden, wird sich erst im Ausgang der Bundestagswahlen definitiv sagen lassen.

Bemerkenswert an diesem Wettbewerb um die Stimmen der BürgerInnen ist die Transformation der Sozialdemokratie zu ihren alten Werten, die Schröder ganz im Sinne seines britischen Vorbildes Tony Blair komplett entsorgen und durch moralische Zielvorgaben der "neuen Mitte" ersetzen wollte.

Schröder wirbt aggressiv für eine Fortsetzung des Regierungsmandats mit der Aussage: "Wir sind auf deutschem Weg!" Er versucht mit dieser Zuspitzung eine doppelte Richtungskorrektur der bisherigen Regierungslinie populär zu machen: Einerseits soll die politische Linke mit einer klaren Abgrenzung vom anglo-sächsischen Kapitalismus für die Sozialdemokratie zurück gewonnen werden. Andererseits richtet sich die Parole von den "deutschen Interessen" an die national-konservativen, rechtspopulistischen Stimmungen, die zweifellos auch in der Berliner Republik reichlich ausgebildet sind.

Schon in den zurückliegenden Wochen hatte die Sozialdemokratie eingeräumt, dass die Regierungsbilanz deutliche Schattenseiten für die "kleinen Leute" und die Gewerkschaften aufweist. Die selbstkritische Aussage lautet: "In den vergangenen vier Jahren ist viel geschafft, aber nicht alles erreicht worden." Mit Blick auf die Verteilungsverhältnisse halten sich die erreichten Korrekturen allerdings in einem sehr bescheidenen Rahmen. Zu Beginn der Regierungsperiode hieß es mit Blick auf die neue Mitte: Es mache keinen Sinn auf unüberbrückbaren Gegensätzen zu bestehen, weil das Verhältnis von Arbeit und Kapital viel interessanter und produktiver geworden sei. "Historisch ist es ein enormer Fortschritt, dass Arbeiter in der Marktwirtschaft auch Kunden sind... Aus Mitarbeitern werden immer öfter Mitunternehmer... Alle sollen beteiligt sein am Haben und Sagen." Jetzt wird der "Shareholder-Value" attackiert und die Selbstbedienungsmentalität und Gier von Management und Aktionären gegeißelt. Es müsse ein Ende damit haben, dass sich die wirtschaftliche Elite mit millionenfachen Abfindungen bediene, während die Mitarbeiter auf die Straße geschickt werden. Mit dem erneuten Rückgang bei den Ausbildungsplätzen habe die Wirtschaft die Substanz des Bündnisses für Arbeit in Frage gestellt. Die Wirtschaftsverbände verhielten sich als fünfte Kolonne der Opposition. Resümee: Die Leitlinie des angelsächsischen Kapitalismus, das Ausplündern der kleinen Leute, sei nicht der "deutsche Weg" der Sozialdemokratie. Verblüfft reibt man sich die Augen: Die Missbrauchsattacken auf Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, der Einstieg in kapitalgedeckte Altersrenten, die massiven Steuersenkungen für die Kapitalunternehmen, der vollständige Verzicht auf eine anti-zyklische Wirtschafts- und Finanzpolitik – diese Grausamkeiten oder Dummheiten der neuen Mitte sollen schlagartig vergessen werden.

Noch deutlicher fällt der propagierte Kurswechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik aus. Mit Rückendeckung des SPD-Parteipräsidiums setzt sich Schröder von den us-amerikanischen Plänen einer Militäraktion gegen den Irak und die Auswechselung des terroristischen Regimes von Saddam Hussein ab. Die SPD und Schröder stehen für Abenteuer nicht – besser wohl: nicht mehr – zur Verfügung. Auch für den Fall eines UNO-Mandats gegen den Irak komme für die Sozialdemokratie eine deutsche Beteiligung nicht in Frage. Vergessen werden soll offenkundig die Auseinandersetzung in Sachen Militäreinsätze ohne entsprechendes UNO-Mandat, die mit der Vertrauensfrage verknüpft wurde. Und als Bonus für diesen Kurswechsel wird noch oben drauf gesetzt: Auch eine Scheckbuch-Diplomatie wie im Golfkrieg scheide aus. Zum sogenannten "deutschen Weg" gehört schließlich: Selbst in Europa, das mittlerweile mehrheitlich von rechtskonservativen und rechtspopulistischen Regierungskoalitionen dominiert wird, will man in Falle einer erneuerten sozialdemokratische Hegemonie stärker auf "deutsche Interessen" achten. Die programmatisch-strategische Allianz mit Tony Blair, der sich mehr und mehr als folgsamer Pudel der US-Adminstration unter Bush profiliert, ist aufgekündigt.

Dieser Linksschwenk kommt insofern nicht überraschend, als die Sozialdemokratie sich in den letzten Monaten stärker auf die Gewerkschaften zubewegt hat. Die angekündigte "Richtungsentscheidung" bei den Bundestagswahlen nimmt Konturen an. Innerhalb der Sozialdemokratie, samt derem derangierten linken Flügelchen, wird diese Abkehr von der Mitte und die Annäherung an die traditionellen Leitsätzen der Politik mit Freude aufgenommen. Die taktische Funktion dieser politischen Rhetorik wird eingelöst werden: Motivation der Mitgliedschaft und Funktionsträger, ohne die eine Verbesserung des sich gegenwärtig abzeichnenden Stimmanteils bei der Bundestagswahl nicht zu erreichen ist.

Die innerparteiliche Demokratie ist durch diese politischen Manöver vermutlich vollends auf der Strecke geblieben. Weder hat es eine Anstrengung gegeben mit den Mitgliedern der Sozialdemokratie den "dritten Weg zwischen alter Sozialdemokratie und Neoliberalismus" zu debattieren, noch werden wir einen politischen Diskurs erleben, in dem gerade das Scheitern des "Projekts der linken Mitte" zum Thema gemacht wird.

Wird das überraschend erneuerte Versprechen, die notwendige Modernisierung Deutschlands mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden, über die sozialdemokratische Mitgliedschaft hinaus Anklang finden? Mit Blick auf die Gewerkschaften und einen Großteil der Nichtregierungsorgansiationen muss diese Frage wohl bejaht werden. Forderungen nach öffentlicher Kontrolle für ein sozialdemokratisches Projekt der Arbeit sind kaum zu vernehmen. Die Sozialdemokratie verspricht erneut einen Politikwechsel – eine agile, wirksame gesellschaftliche Bewegung zur Einforderung einer solchen Regierungspolitik muss sie genauso wenig fürchten wie im Wahlkampf 1998. Ob dieses politische Kalkül eines erneuten großangelegten Wahlbetruges aufgeht, wird vermutlich durch die Wahlbeteiligung entschieden.

Ohne Zweifel wird die PDS durch diesen "Linksschwenk" der Sozialdemokratie wahlpolitisch unter Druck kommen. Solange sich die Regierungspartei in der politischen Mitte tummelte, brauchte die Partei des demokratischen Sozialismus keine Härtetest in Sachen Antimilitarismus und Alternativer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik fürchten. Dies wird sich in den verbleibenden Wochen ändern. Die PDS hat nicht nur ihren charismatischen Führer verloren, sie hat sich als Partei auf dies Konstellation auch unzureichend vorbereitet. Die Mischung aus politischer Überheblichkeit und Eitelkeit der PDS-Wahlkampfführung könnte sich unter den veränderten Umständen als fatal erweisen.

Zurück