1. Februar 2001 Redaktion Sozialismus

Die Koalition der Mitte und der Kulturkampf um ‘68

Die Regierung Schröder / Fischer hat die Neubesetzung zweier Ministerien zu einer Umorganisation des Regierungsapparates und damit als Chance zur politischen Profilierung genutzt. Die Neuformierung eines Ministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft soll aus der Sackgasse in der Agrarpolitik herausführen. Gleichzeitig will Rot-Grün mit der zügigen Verabschiedung der Rentenreform und der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes das in den letzten Monaten eher gespannte Verhältnis zu Teilen der Gewerkschaften harmonisieren.

Allerdings bleibt mit der stockenden »Gesundheitsreform« ein großes Spannungsfeld zurück. Die Senkung der Lohnnebenkosten – Hauptaufgabe der »Koalition der Mitte« – hängt entscheidend daran, dass Beitragsstabilität bei den Krankenkassen ohne gravierende Verschlechterung der Gesundheitsversorgung erreicht wird. Noch in diesem Jahr muss ein Finanzausgleich unter den Krankenkassen (Risikostrukturausgleich) organisiert und bei den Honoraren der Ärzte und den Kosten für Arzneimitteln eine Neuregelung gefunden werden. Die geschasste grüne Gesundheitsministerin beklagte sich seit längerem darüber, dass sie in den Auseinandersetzungen mit Ärzten, Krankenkassen, Pharmaindustrie und Krankenhäusern nicht genügend Unterstützung erhielt. Jetzt kommt dieser Bereich, der immer zur Kernkompetenz der Sozialdemokratie gehörte, in ihre politische Verantwortung zurück. Auch wenn die »große Reform« in die nächste Legislaturperiode geschoben wurde, muss Schröder für das Wählerklientel seiner Partei zumindest grob angeben, wohin die Reise gehen wird. Klar ist: Der Umbau des Gesundheitssystems ist ein ebenso weitreichender Einschnitt in die soziale Verfassung der Berliner Republik wie die Deformation des Rentensystems.

Renate Künast steht vor der Aufgabe, ein modernisiertes ökologisches Profil für die Grünen deutlich zu machen. Das könnte wahlentscheidend für eine Partei sein, die mit großen Teilen ihrer sozialen Basis und programmatisch-ideologischen Verortung gebrochen hatte: zum einen durch das Arrangement mit den Energieunternehmen zur Nutzung der Kernenergie, zum zweiten mit der aktiven Unterstützung des NATO-Krieges in Jugoslawien. Mit der ministeriellen Zuständigkeit für den Verbraucherschutz könnte Künast einen wichtigen Beitrag zur Wiederherstellung des Vertrauens der grünen Wählerbasis leisten. Bundeskanzler Schröder hat ausdrücklich auf dieses Kalkül hingewiesen.

Die Neuausrichtung der Agrarpolitik vom Stall auf den Verkaufstresen ist durch symbolische Politik nicht zu erreichen. Dazu sind die Verbraucher viel zu sehr verunsichert. Und vor allem: Die interessenpolitischen Widerstände sind gewaltig, wenn man sich die Mächtigkeit der Agrarlobby in Deutschland und in der EU vergegenwärtigt. Einen Ansatzpunkt für ein Umsteuern in der Agrarpolitik stellt die Tatsache dar, dass im Agrarsektor die Subventionen und Steuererleichterungen besonders hoch sind. Diese könnten nach veränderten Prioritäten neu vergeben werden, um den ökologischen Landbau zu fördern und die Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten.

Schröder hat sich zunächst einmal auf eine Fortsetzung einer rot-grünen Koalition nach den Bundestagswahlen 2002 festgelegt. Der Ball liegt damit bei den Grünen, sich nicht nur als anpassungsfähiger, sondern auch als Wähler mobilisierender Faktor zu erweisen. Schröders Option wird die Freidemokraten freilich nicht davon abhalten, mit einem Möllemann/Westerwelle-Effekt eine sozialliberale Koalitionsoption immer wieder ins Spiel zu bringen. Der Sozialdemokratie kann es recht sein. Die Perspektiven der Grünen sind aufs Engste mit der Zukunft ihres Zugpferdes verkoppelt. In der Vergangenheit war das von Vorteil: Joschka Fischer gilt seit Monaten als einer der populärsten Politiker Deutschlands. Dieses Faktum ist insofern bemerkenswert, weil er als ausgesprochen autoritärer Charakter bekannt ist. Es war der heimliche Parteichef, der die jüngste Regierungskrise heranreifen sah und schließlich das Ende mit Schrecken herbeiführte. Er gab den Ausschlag dafür, dass die fachlich ausgewiesene NRW-Ministerin Bärbel Höhn nicht zum Zuge kam, die dem Außenminister wegen ihrer kritischen Position in der Auseinandersetzung über den NATO-Krieg im Kosovo noch unangenehm in Erinnerung war. Der grünen Bundestagsfraktion war diese Machtstruktur im Nachhinein eine längere Aussprache wert. Ist Fischer also populär, weil er ein autoritärer Polit-Macho ist und ein Bedürfnis nach Führungspersönlichkeiten befriedigt?

Bekannt war seit jeher Fischers bewegte Vergangenheit. Seit einiger Zeit versucht die Journalistin Bettina Röhl, eine Tochter von Ulrike Meinhof, den Frankfurter Ex-Sponti abzuservieren. Kurz vor Fischers Zeugenaussage im Prozess gegen den Ex-RAF-Kämpfer Klein und rechtzeitig vor der Publikation einer Schmähschrift gegen ihn spielte sie den Medien Bilder zu, die den heutigen Außenminister als Steinewerfer und jemanden ablichten, der »hinzulangen« versteht. Der Ex-Sponti räumt ein: »Ja, ich war militant«, und fügt hinzu: »Ich stehe zu meiner Biographie, aber ich habe aus ihr gelernt« – im Unterschied zu anderen, die immer noch Utopien nachhängen, sei es nun einer Welt ohne Kriege oder einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft.

Fischer surfte immer gekonnt auf der Welle des Zeitgeistes. 1968 als revolutionärer Betriebskader bei Opel-Rüsselsheim, später als militanter Aktivist im Frankfurter Häuserkampf, der das liberale Räsonnement durch die Tat zu blamieren suchte. Als Aktivist der neuen sozialen Bewegungen machte er parlamentarische Turnschuhe hoffähig. Als hessischer Umweltminister war noch Konflikt mit der Plutoniumwirtschaft angesagt. Jetzt steht Fischer für die definitive »Westorientierung« der deutschen Republik im Bündnis mit den USA. Vom street fighting man zum Außenminister in den Fußstapfen seines großen Vorbildes Stresemann: Was die rechtskonservative Opposition als biographische Brüche attackiert, gilt vielen seiner Weggefährten als Kontinuität. In beiden Fällen bleibt ’68 auf der Strecke: Generationenkonflikt, Gewaltfrage – war da eigentlich noch mehr? Dass 1968 auch ein Protest gegen das Verdrängen und Verschweigen der faschistischen Vergangenheit war, ein Protest gegen das Wiederaufleben von Rechtsradikalismus und Antisemitismus, Protest gegen die Mittäterschaft von Unternehmen und staatlichen Instanzen, Protest gegen den amerikanischen Imperialismus – alles das spielt bestenfalls noch am Rande eine Rolle.

Fischer steht zu seiner Biographie, auch weil er stets rechtzeitig die Pferde gewechselt hat. Eine solche Patchwork-Biographie gilt als modern. So sieht es auch die ›Süddeutsche Zeitung‹: Die bundesdeutsche Gesellschaft darf stolz auf ihre Integrationsleistung sein. Fischer verkörpert den erfolgreichen Aufsteiger. Gemessen an anderen 68ern, die in ihrem Anpassungsdrang schon weit über die Mitte hinausgeschossen sind wie Horst Mahler, Bernd Rabehl etc., personifiziert der Polit-Liebling das neudeutsche Mittelmaß.

Die Karriere solcher Glücksritter, die ohne Vermögen, aber mit Energie, Biegsamkeit und Zähigkeit sich an die Spitze der Republik hocharbeiten, sagt viel über den Zustand der Gesellschaft, »ganz wie der Umstand, dass die katholische Kirche im Mittelalter ihre Hierarchie ohne Ansehen von Stand, Geburt, Vermögen aus den besten Köpfen im Volke bildet, ein Hauptbefestigungsmittel der Pfaffenherrschaft und der Unterdrückung der Laien war. Je mehr eine herrschende Klasse fähig ist, die bedeutendsten Männer der beherrschten Klasse in sich aufzunehmen, desto solider und gefährlicher ihre Herrschaft.« (Karl Marx) Ein nicht unwichtiger Aspekt jeder Hegemonialpolitik ist die Befestigung einer zeitgeschichtlichen Interpretation. Offensiv gewendet steht hinter der Auseinandersetzung um die Biographie des Außenministers der Versuch des Ausbaus der geistigen Führung des politisch-sozialen Blocks der »neuen Mitte«. Es geht dabei nicht zuletzt um die Rolle der Intellektuellen in der Nachkriegsgesellschaft und in der Berliner Republik. Was realgeschichtlich ein Treppenwitz ist, stellt politisch einen überhaupt nicht gering zu schätzenden Faktor dar: Joschka Fischer und Co. werden nachträglich zur hegemonialen Strömung der 68er-Konflikte und damit zu Leitfiguren einer ganzen Generation erhoben.

Bei soviel Geschichtsklitterung und Weißwäscherei sei an folgende Sachverhalte in Stichworten erinnert:

1. Die Protestbewegung hatte zwar als Kern in Bewegung geratene Studenten, Lehrlinge und Schüler, aber sie muss – in Frankreich, in Italien und auch in Deutschland – vor dem Hintergrund breiterer gesellschaftlicher Bewegungen und tieferer sozio-ökonomischer Umbrüche (Stichwort: Spätfordismus) interpretiert werden. Deshalb verbietet sich ihre Zurückschneidung auf einen Generationenkonflikt, der durch die faschistische Vätergeneration nur eine spezifische Politisierung erfahren hatte.
2. Schon ein oberflächlicher Blick in eine Flugblattsammlung oder Publikationen aus dieser Zeit belegt, dass es um verschiedene »Themen« ging: den Vietnam-Krieg und überhaupt den »Imperialismus«; den unaufgearbeiteten Faschismus; den »Sozialstaat« und eine Parlamentarismus-Debatte; Bürokratie-Kritik und die Perspektiven eines autoritären Staatssozialismus. ‘68 zielte auf eine Emanzipationsbewegung, d.h. auf grundlegende gesellschaftliche Strukturveränderungen – die Formel von der »Demokratie«-Bewegung, die der Fischer-Berater Joscha Schmierer als Interpretationsraster bemüht, greift viel zu kurz und wird lächerlich, wenn sie auch noch für den Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW) zutreffen soll.
3. Schon in der Bezeichnung »Sponti« wird der fraktionelle Charakter der damaligen Bewegung deutlich. Der von einigen 68er Strömungen beschworene spontane Emanzipationskampf schlug um in Putschismus und Theoriefeindlichkeit, während andere sich an Organisationsfetischismus und endlosen Strategiedebatten ergötzten. Daraus, dass sich heute der erklärte Anarchist Cohn-Bendit, der Ex-Vorsitzende der maoistischen KPD, Christian Semler, und der damalige Vorsitzende des KBW, Joscha Schmierer, in der Verteidigung des politischen Opportunismus vereinen, kann nicht auf früheres einheitliches Agieren geschlossen werden.
4. Wer wollte, konnte sich schon damals an einer Debatte über Kapitalismus, Chancen und Risiken parlamentarischer Reformstrategien und die Bedrohung durch antimodernistische, rassistische Bewegungen beteiligen und musste nicht der Propaganda der Tat von »Putzgruppen« oder maoistischen Sekten folgen. Die damaligen Protagonisten des Spontaneismus geben heute klare Antworten: »Der Kapitalismus hat gewonnen... Aber der Imperialismus ist heute anders zu beschreiben... Wenn man an der Regierung ist, dann ist man auch Teil des Systems. Das zu leugnen wäre absurd ... auch in dieser Situation kann man den Kapitalismus reformieren ... Heute ist eine Reform des Kapitalismus nicht mehr einfach durch eine andere staatliche Politik möglich. Deshalb haben auch ökolibertäre Ansätze ihre Berechtigung.« Doch selbst Daniel Cohn-Bendit, dem wir diese Erkenntnisse verdanken, hat Probleme, Fischers Reformansprüche zu identifizieren: »... der Anspruch wird nicht mehr sichtbar, diesen entfesselten Kapitalismus auch im Weltmaßstab reformieren zu müssen.... Diese Kritik übe ich auch an Joschka Fischer.« (TAZ, 18.1.01)

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