1. Februar 2010 Redaktion Sozialismus

DIE LINKE: Deutungsfähigkeit muss unterhalb der Zentrale entstehen

Kategorie: Linksparteien

DIE LINKE wählt Ende Mai eine neue Parteiführung. Oskar Lafontaine ist dann nicht mehr dabei. Bereits im Oktober 2009 hatte er sich aus der Führung der Bundestagsfraktion zurückgezogen. Nun hat er auch das Bundestagsmandat niedergelegt. Mit Lafontaines Abtritt von der bundespolitischen Bühne endet die Gründungsphase der Partei DIE LINKE.

Oskar Lafontaine hat viele politische Rollen wahrgenommen – und Politrentner wird er als Fraktionsvorsitzender im Saarland auch künftig nicht sein. Bis 1999 war er an herausragender Stelle – zuletzt als Vorsitzender und Bundesminister der Finanzen – in der Sozialdemokratie aktiv (innerhalb der linken SPD nicht unumstritten, erinnert sei an die Debatte über Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich und sein "Lied vom Teilen"). Er trat von allen Ämtern zurück, weil er mit der Konzeption und der Politikgestaltung der Regierung Schröder nicht mehr einverstanden war. 2005 gab er nach fast 40 Jahren sein Parteibuch zurück, weil die SPD einschneidende Veränderungen in der Arbeitslosen- und Sozialversicherung auf den Weg gebracht hatte und die Durchsetzung dieses Umbaus der sozialen Sicherung mit einer restriktiven Einengung der innerparteilichen Demokratie verbunden war. Nach dem Bruch mit der Sozialdemokratie wurde er zum Protagonisten der Neuformierung der Linken. Die politischen Verhältnisse in Deutschland, jahrzehntelang durch das Fehlen einer relevanten sozialistisch-kommunistischen Linken geprägt, begannen sich mit der Verschmelzung von WASG und PDS zur LINKEN zu einem Zeitpunkt zu "normalisieren", als die europäische Linke von Niederlage zu Niederlage taumelte. Die Sozialdemokratie, die 2000 die politische Mehrheit in Westeuropa repräsentierte, stellt heute gerade noch in Spanien, Portugal, Griechenland, Island und Norwegen den Regierungschef – in Großbritannien demnächst auch nicht mehr. Gleichzeitig wurde die "linke Linke" in Wahlen marginalisiert: Rifon­dazione Communista in Italien, die KP in Frankreich, Izquierda Unida in Spanien usw.

Was Lafontaine auszeichnete, war die Diagnose eines folgenreichen Wandels des Kapitalismus. "Wer einen modernen linken Politikentwurf präsentieren will, muss sich mit dem Kapitalismus im neuen Gewande, dem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, auseinandersetzen", lautete seine Botschaft im Mai 2008, als die politische Klasse in Deutschland eine neue Weltwirtschaftskrise noch für ein Strohfeuer auf US-amerikanischen Immobilienmärkten hielt. Die "dramatische Verschiebung der Macht- und Kräfteverhältnisse in Politik und Gesellschaft" hatte Lafontaine 1998/99 in den wenigen Monaten als Finanzminister erfahren, als Joschka Fischer ihm nachrief: "Ihr glaubt doch nicht, ihr könntet Politik gegen die internationalen Finanzmärkte machen."

Zur Zeitdiagnose gehört nach Walter Benjamin ein Verständnis dafür, den "Wind der Geschichte" zu nutzen, indem man die Kunst beherrscht, Segel richtig zu setzen. Segel sind, so Benjamin, die Begriffe, die Sprache. Die Begriffe sind: Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan, weg mit Hartz IV, keine Rente mit 67, existenzsichernder gesetzlicher Mindestlohn. Mit dieser Arbeit der Zuspitzung gelang, woran die PDS eineinhalb Jahrzehnte lang gescheitert war: die Gründung einer gesamtdeutschen Linken.

Der krankheitsbedingte Rückzug Lafontaines lässt in Teilen der politischen Klasse die Hoffnung keimen, man könne das politische Feld künftig wieder unter den etablierten Parteien aufteilen. Wie die Entwicklung der Linken in Euro­pa zeigt, gibt es keine Bestandsgarantien. Aber es ist eine Illusion zu glauben, ein Status quo ante der Repräsentanz großer Volksparteien mit kleinen Funktionsparteien als Mehrheitsbeschaffern könnte zurückgeträumt werden. Wie stabil oder instabil sie auch immer sein mag: DIE LINKE steht für eine weitreichende Veränderung des Parteiensystems. Und sie steht für eine qualitative Veränderung des Teilfelds der gesellschaftlichen und politischen Linken. Der SPD-Vorsitzende Siegmar Gabriel hat so Unrecht nicht, wenn er sagt, dass der Wechsel an der Spitze der LINKEN für seine Partei wenig ändere. Nicht Lafontaine war das Problem. Die Neuerfindung der Sozialdemokratie ist viel komplizierter und wird länger brauchen als die wenigen Jahre einer Legislaturperiode.

Neue Chancen für Rot-Rot-Grün machen sich nicht an Einzelpersonen fest. Ein Prozess der "Osloisierung" der Gesamtlinken hat viele Facetten. Dazu gehört eine neue Politik mit neuen zukunftsweisenden Projekten – Rot-Rot in Norwegen zeigt, wie schwer das ist. Dazu gehört auch ein Cross-Over-Prozess, der nicht auf Parteien beschränkt bleibt, sondern die progressiven Kräfte der Zivilgesellschaft einbeziehen muss. In Norwegen waren und sind das mit einem politischen Mandat agierende Gewerkschaften und eine breite Bewegung, die sich gegen die Demontage des Sozialstaats formiert hatte. Das Schmieden von Parteienbündnissen ist ein zu enger Ansatzpunkt, wo es um die Veränderung der finanzmarktkapitalistischen Inbesitznahme der Gesellschaft geht.

DIE LINKE ist gut beraten, wenn sie – um in Benjamins Bild zu bleiben – ihre Segel nicht streicht. Auch nicht bei Lockangeboten zur Regierungsbeteiligung, die Sozialabbau, Beschäftigungsabbau im öffentlichen Dienst oder weitere Privatisierungen öffentlicher Daseinsvorsorge vorsehen. Grundposition sollte bleiben, dass man sich aus der Krise nicht heraussparen kann, vielmehr über öffentliche Investitionen, Verbesserung der sozialen Leistungen und höhere Löhne die Wirtschaft stabilisieren und in Richtung einer Solidarischen Ökonomie umbauen muss. Dies geht zunächst nur schuldenfinanziert, dann durch massive Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse.

Zur Klärung ihrer Grundpositionen hat Die LINKE sich eine Programmdiskussion verordnet. Lafontaine hielt das für unnötig. Seines Erachtens sind die bei der Parteigründung beschlossenen programmatischen Eckpunkte eine "hervorragende Grundlage" für die politische Arbeit, die den Vergleich mit Programmen anderer Parteien nicht zu scheuen bräuchten. Aus zwei Gründen ist das zu kurz gesprungen. Zum einen gilt es die Lehren der "großen Krise" der Gegenwart zu verarbeiten, die eben nicht nur eine tiefe Konjunkturkrise ist, sondern eine des gesamten finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregimes, nicht nur eine ökonomische, sondern zugleich eine tiefe Gesellschaftskrise. Zum anderen, weil der Sinn der Programmdebatte gerade ist: Debatte. Selbstaufklärung und inhaltliche Profilierung der Partei, um politische Projekte und soziale Bündnisse identifizieren und betreiben zu können. Das muss sein, um Wege aus der längerfristig wirkenden Krise aufzeigen und beschreiten zu können.

Zu den Ursachen, die zur weltweiten Finanzkrise geführt haben, gehört nicht nur die Deregulierung der Finanzmärkte, sondern auch die zunehmende ungleiche Verteilung der Vermögen und Einkommen. Diese Ursache wird oft auch von denen übersehen, die – wie DIE LINKE – in der Deregulierung eine entscheidende Fehlentwicklung ausmachen. Der Satz Rosa Luxemburgs: "Ohne Sozialismus keine Demokratie und ohne Demokratie kein Sozialismus" sagt nichts anderes, als dass es ohne eine gerechte Vermögensverteilung kein Demokratie gibt. DIE LINKE fordert eine Gesellschafts- und Rechtsordnung, in der den Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums auch das Eigentum an den Resultaten der Wertschöpfung zugesprochen wird.

Der Rückzug von Lafontaine aus den Führungsgremien der Partei war verbunden mit einem seit längerem kaum offen ausgetragenen Konflikt um die zukünftige Ausrichtung der Partei. Personaldebatten, die statt inhaltlicher Debatten geführt werden, sind der falsche Weg.

Die Partei hat es bisher versäumt, eine Debatte über Kernfragen – z.B. über den Zusammenhang von Übergangsforderungen mit der Zielsetzung einer Solidarischen Ökonomie – voranzubringen. Es besteht die Gefahr, entweder im alltäglichen Verbesserungsanspruch stecken zu bleiben oder unkritisch auf überholte Sozialismusvorstellungen des 20. Jahrhunderts zurückzugreifen.

Es ist Ausdruck einer programmatisch-intellektuellen Schwäche, wenn viele der strategischen Impulse immer wieder nur von wenigen, oder personifiziert vom Parteivorsitzenden vorgetragen werden. Leider tut sich DIE LINKE schwer mit der Entwicklung einer breiten strategisch-programmatischen Debatte. Sie braucht aber eine kritische Aufarbeitung der jüngsten Entwicklung des Kapitalismus. Hierzu muss die in diesem Jahr beginnende Programmdebatte dringend genutzt werden.

Nur bürgerliche Parteien können sich darauf beschränken, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse lediglich abzubilden. DIE LINKE muss politische Projekte definieren, die über den Zustand immer wiederkehrender kapitalistischer Krisenverhältnisse hinausweisen. Sie steht in der Tradition, den Gegensatz von Reform und Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft aufzuheben. Die Zukunft dieser Partei kann – im Unterschied zur ausgezehrten deutschen Sozialdemokratie – nur darin bestehen, die in ihr vorhandenen unterschiedlichen Strömungen in konstruktive Richtungsauseinandersetzungen zu führen, bei Wahrung der Integrität der Personen, und dafür die Verständigungsplattformen zur Verfügung zu stellen. Nur wenn dies nicht gelingt, kann eine weitgehende personelle Erneuerung der Führungspositionen auch eine Gefährdung der politischen Kommunikation bedeuten. DIE LINKE ist darauf angewiesen, dass sie Deutungshoheit in allen ihren Verästelungen entwickelt und nicht "von oben" diktiert bekommt. Deutungshoheit und -fähigkeit müssen unterhalb der Zentrale entstehen. Die Sofortforderungen – gesetzlicher Mindestlohn, armutsfeste Altersrenten, Abschaffung des Hartz-IV-Systems, Beendigung der Auslandseinsätze der Bundeswehr – müssen in eine umfassende Strategie zu einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung eingebunden werden.

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