1. Mai 2001 Redaktion Monthly Review

Die Nader-Kampagne

Die unerwartete Nachwahl-Auseinandersetzung zwischen Al Gore und George W. Bush, die schließlich zur Ernennung (am.: anointing = Salbung) von Bush als neuer Präsident durch eine Republikaner-Mehrheit im Obersten Gerichtshof der USA geführt hat, [1] hat alle anderen mit der Wahl verbundenen Entwicklungen weitestgehend in den Hintergrund gedrängt. Das sollte für uns alle aber kein Grund sein zu vergessen, dass die Präsidentschafts-Kampagne von Ralph Nader von der Green Party als das außergewöhnlichste Phänomen der linken Politik in den USA seit vielen Jahren diskutiert wird.

Am Wahltag zog er knapp drei Millionen oder ca. 3% der Wählerstimmen auf sich. Noch nicht einmal der frühere Vizepräsident Henry Wallace hat in seiner Bewerbung als Präsident im Jahre 1948 einen solchen Erfolg gehabt - das war die letzte fortschrittliche Kampagne für eine dritte Partei. Obwohl Umfragen vor den Wahllokalen (am.: exit polls) zeigen, dass Nader nur wenige Stimmen von ethnischen Minderheiten erhielt (eine wesentliche Schwäche seiner Kampagne), zog er gleichwohl die größte Unterstützung von WählerInnen ohne Hochschulbildung, mit Einkommen unter 30.000 $ pro Jahr und solchen ohne Vollzeitbeschäftigung an sich. Bis zu der intensiven Angstkampagne der Demokraten während der letzten zwei Wochen vor der Wahl hatte Nader bis zu 7% in einigen Umfragen erhalten.

Nader bewegte sich mit jedem angesprochenen Wahlthema weiter nach links; das war keine aufgewärmte Version einer mainstream-Politik der linken (am.: liberal) Demokraten. Die Green-Plattform war eine anti-neoliberale progressive Plattform, die jeder Sozialist offen unterstützen konnte. Zur gleichen Zeit hatte Nader riesige enthusiastische Zuhörerschaften in Wahlveranstaltungen, auf denen er ohne viel Vorarbeit oft zu 10 bis 15.000 zahlenden BesucherInnen sprach. Wenn es keine öffentlichen Umfragen gäbe, hätte man bei ausschließlicher Betrachtung der Massenwirksamkeit der Kandidaten in Wahlveranstaltungen zu der Auffassung gelangen können, Nader wäre der wahrscheinliche Gewinner oder zumindest ein starker Anwärter auf den Sieg. Hinzu kommt, dass die überwiegende Zahl der TeilnehmerInnen an den Wahlveranstaltungen junge Leute waren. Eine derartige Resonanz wäre vor ein oder zwei Jahrzehnten undenkbar gewesen.

Nader war der am besten geeignete und - wenn auch umstritten - der einzig mögliche Kandidat für eine fortschrittliche Drittpartei-Bewerbung im Jahr 2000. Er betrat die politische Bühne in den 60er Jahren, als fortschrittliche politische Figuren durchaus Möglichkeiten hatten, in den Medien bekannt zu werden; er ist seit langem ein Markenname im Alltagsleben. [2] Er wird auch deshalb stark respektiert, weil er eine erstaunlich große Anzahl von Erfolgen im öffentlichen Interesse erreicht hat. Nader hat sich an politischen Wahlen erst beteiligt, als klar wurde, dass durch das Ausmaß, in dem Demokraten und Republikaner durch die Privatwirtschaft dominiert sind, die Hoffnung auf einen Erfolg seiner Arbeit für öffentliche Interessen nahezu unmöglich gemacht wird. Nader ist kein Sozialist, aber er ist ein Demokrat mit Prinzipien und mit dem Mut, umfassende Reformen in der Ökonomie zu fordern, wenn deutlich wird, dass die demokratischen Verhältnisse durch die Dominanz von Unternehmerinteressen und klassenbedingte Ungerechtigkeiten untergraben werden. Nader sprach brilliant und in einfachen Worten zu amerikanischen DurchschnittsbürgerInnen mit ganz unterschiedlichen Ansichten über die Notwendigkeit umfassender Strukturreformen - eine Fähigkeit, die vielen Linken verloren gegangen ist.

Grundlage der Nader-Kampagne war seine Opposition gegenüber der WTO, der NAFTA und des globalen Handels-, Investitions- und Regulationssystems insgesamt. Naders Opposition war anders als die nationalistischer Oppositioneller wie Pat Buchanan - er opponiert auf demokratischer Grundlage: Diese Institutionen unterliegen keiner öffentlichen Kontrolle in den Vereinigten Staaten oder anderswo, ihnen fehlt daher die Legitimation. Darüber hinaus war und ist Nader wirklich der weltweit beste Experte in der Beurteilung, wie eben diese Institutionen des globalen Kapitalismus katastrophale Folgen in der ganzen Welt für ArbeiterInnen, KonsumentInnen und die Umwelt hervorbringen. Nader und die Greens haben außerdem tiefe Einschnitte in das Budget und den Apparat des US-Militärs befürwortet und gegen die materielle Unterstützung reaktionärer Regime und Politiker in aller Welt opponiert. Nader, der 19% aller Moslem-Stimmen erhalten hat (72% gingen an Bush), erklärte, »ohne Gerechtigkeit für die Palästinenser« werde es keinen Frieden im Nahen Osten geben. Insgesamt schlugen Nader und die Greens eine fortschrittliche, nicht imperialistische Außenpolitik vor, die sich entschieden außerhalb des »überparteilichen Konsenses« befand, der fast niemals in der US-Wahlarena debattiert wird.

Dieser Punkt verdient Beachtung, weil die Nader-Kampagne sogar unter den Linken fast vollständig unter dem Blickwinkel seiner Kritik des innenpolitischen Machtungleichgewichts geführt worden ist, wobei den internationalen Aspekten nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Vereinigten Staaten sind die dominante Weltmacht - das ist die zentrale unausgesprochene Wahrheit unserer Zeit. In der kapitalistischen Weltordnung haben sie eine Reihe von Verantwortlichkeiten: das System muss am Laufen gehalten werden, die Bevölkerung der abhängigen Staaten muss kontrolliert werden, die Vereinigten Staaten müssen als Zentrum des internationalen Finanzsys-tems gesichert werden, sie müssen im oberen Bereich der imperialistischen Hackordnung gehalten werden (d.h. insbesondere die US-Kapitalisten/Konzerne), und es muss verhindert werden, dass Länder aus dem globalen Kontrollsystem ausbrechen. Aus diesen Gründen - neben dem internen Druck durch den militärisch-industriellen Komplex - unterhalten die Vereinigten Staaten die mit Abstand größte Militärmacht der Welt, obwohl sie keinen Rivalen im traditionellen Sinn haben. Obwohl über die weitergehenden außenpolitischen Implikationen von Naders Kampagne fast nie in den Medien berichtet wurde, stehen sie für eine deutliche Drohung gegen den globalen Status quo.

Nader hat als Kandidat wirklich niemals die Gelegenheit gehabt, diese oder andere Positionen der großen Masse der AmerikanerInnen mitzuteilen, weil seine Kampagne in den Medien vollkommen untergebuttert worden ist. Die Berichte über Nader in der New York Times sind in gewisser Hinsicht vergleichbar mit den Berichten der Prawda oder der Iswestia über Andrej Sacharow in den 70er Jahren. Das sollte nicht überraschen, trotzdem ist es ernüchternd. Da er die riesigen Geldmittel, die für TV-Werbung ausgegeben werden - die lingua franca der US-Politik - nicht hatte, oder besser: da es eine Graswurzelbewegung in dem Ausmaß, mit dem der Medien-Blackout überwunden werden könnte, nicht gab, hatten viele BürgerInnen keinerlei Kenntnis davon, dass Nader sehr aktiv an der Wahlkampagne teilnahm bzw. was seine Positionen zu den verschiedenen Wahlthemen waren. (Wenn der Wahlsieger danach bestimmt würde, wer am wenigsten Geld pro erhaltener Stimme ausgegeben hat oder über wen am wenigsten in den Nachrichten berichtet wurde im Verhältnis zu seinem Stimmergebnis, dann hätte Nader einen Erdrutschsieg erzielt.) Das größte Medieninteresse war geradezu fanatisch darauf gerichtet, wie Naders Kampagne sich auf die Chancen von Al Gore auswirken würde. Das trifft sogar für die Linke und für fortschrittliche Menschen zu. Viele, die Nader in einzelnen inhaltlichen Punkten unterstützten, waren - oft mit einer erstaunlichen Bitterkeit - gegen seine Kandidatur, weil er Gore Stimmen wegnehmen würde, dem »kleineren von zwei Übeln« - das ist in diesem Ausmaß seit 1968 noch niemals zu einem solchen Mantra geworden. Das Rennen im Jahr 2000 hat erneut ein Schlaglicht auf den Umstand geworfen, wie konservativ und undemokratisch die US-Wahlgesetze im Hinblick auf die Kandidatur von dritten, insbesondere von fortschrittlichen Parteien sind.

Unserer Ansicht nach war die Nader-Kampagne der wahlpolitische Ausdruck der Massenbewegung, die 1999 zu den außergewöhnlichen Demonstrationen in Seattle, in Washington D.C. und bei den zwei »national political conventions« 2000 geführt hatte. Es gibt - genauso wie bei diesen Demonstrationen - keine Garantie, dass das aktivistische Aufbegehren eine dauerhafte Bewegung hervorbringt, die dazu taugt, die bestehende Odnung grundlegend zu verändern. Wir glauben aber, dass diese Ereignisse eine neue Offenheit für eine linke gesellschaftliche Bewegung in den Vereinigten Staaten verdeutlichen, und dass die Erfolgschancen organisatorischer Arbeit für progressive Wahlkandidaten - solange wir uns erinnern können - besser sind als je zuvor. Es ist durchaus möglich, dass eine linke Wahlbewegung innerhalb einer Generation zu einer dominanten politischen Kraft im Lande werden kann. Es mag sich vielleicht nicht um eine dezidiert sozialistische Bewegung handeln, die die Ikonen der Linken beschwört, aber es wird eine progressive, gegen das Kapital gerichtete Bewegung sein, was immer die Messlatte dafür ist. Es gibt eine wichtige und notwendige Rolle der sozialistischen Linken in dieser Bewegung. Die Implikationen dieser Entwicklungen reichen weit über die Vereinigten Staaten hinaus, wenn man ihre Rolle als dominante globale kapitalistische Macht betrachtet. Wenn hier eine lebensfähige prodemokratische, antiimperialistische Bewegung entstehen kann, wird das die Möglichkeiten für Sozialisten und fortschrittliche Kräfte weltweit dramatisch verbessern.

Auszüge aus: Monthly Review, Vol. 52, February 2001: »The Nader Campaign and the Future of US Left Electoral Politics«, S. 1-22.
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Meditsch, Duisburg.

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