1. Februar 2005 Murat Çakir

Die Türkei: Der neue Bodyguard Europas?

Am 17. Dezember 2004 hat der EU-Gipfel in Rom den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschlossen. Nun beginnt ein Prozess, der 12 bis 15 Jahre dauern und ergebnisoffen geführt werden soll.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs begründeten diesen Schritt mit den "ureigenen Interessen Europas". Dieser Beschluss habe wirtschaftliche und soziale, aber auch geopolitische Gründe. Eine erfolgreiche Heranführung der Türkei an die EU wäre nicht nur für die wirtschaftlichen Perspektiven, sondern insbesondere auch für die sicherheits- und verteidigungspolitischen Interessen Europas ein großer Gewinn. Jetzt komme es darauf an, sowohl die Türkei als auch die EU auf diesen Beitritt vorzubereiten.

In der Türkei wurde das Ereignis wie ein bedeutender Sieg gefeiert. Weil ein großer Teil der türkischen Gesellschaft mit dem Beitritt die Hoffnung verbindet, an der Tafel der Europäer etwas von deren Wohlstand, ihrer bürgerlichen Demokratie und den sozialen Standards abzubekommen, wird von den türkischen Medien ein Bild der EU gepflegt, als ob dort noch Zustände wie in den 1970er Jahren herrschen würden.

So war es keine Überraschung, als der zum Neoliberalen konvertierte islamistische Premier Recep Tayyip Erdogan am 18. Dezember 2004 in Ankara wie ein siegreicher Feldherr empfangen wurde. Im Einklang mit den Traditionen der staatstragenden Kräfte hatte er vor den europäischen Staats- und Regierungschefs wie ein Löwe gekämpft und sich durchgesetzt. Was sind schon angesichts der grundlegenden Weichenstellung 12 oder 15 Jahre mit schwierigen Verhandlungen, was die Beschwerlichkeiten des Heranführungsprozesses? Wenn der Wille da ist, dann klappt das auch mit der europäischen Integration. Dass mit den Beitrittsverhandlungen über viele Jahre weitere wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Umwälzungen diktiert werden, scheint die politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht besonders zu beeindrucken. Wie auch immer dieser Prozess enden mag, die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Eliten werden zu den Gewinnern zählen.

Ist der "kranke Mann am Bosporus" genesen?

"Die Türkei ist nicht mehr der kranke Mann am Bosporus, sondern eine wirtschaftlich und militärisch starke Regionalmacht, die den islamischen Ländern in Sachen Demokratie und Wirtschaftswachstum ein gutes Beispiel bietet." (Recep T. Erdogan im staatlichen Fernsehen) In der Tat: Die Türkei ist eine ausgreifende Regionalmacht mit Führungsansprüchen geworden. Das Land weiß sehr selbstbewusst seine geostrategischen Vorteile zu nutzen. Seine Bevölkerung ist ausgesprochen jung und seine Wachstumsdynamik liegt deutlich über dem EU-Durchschnitt. Das alles sind Vorteile, die die Türkei für eine vom Kapital dominierte EU höchst interessant machen. Aber: Ist der "kranke Mann am Bosporus" wirklich genesen? Hat das auch von europäischen Kommentatoren viel gepriesene Wirtschaftswachstum (in 2002 7,9% und 2003 5,8%) der Bevölkerungsmehrheit etwas genutzt?

Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei ist im engen Zusammenhang mit der seit 1980 dominierenden neoliberalen Politik und den Diktaten von IWF, Weltbank und WTO zu sehen. Die letzten 25 Jahre waren wesentlich durch drei aufeinander folgende Phasen geprägt. Die erste Phase war die Liberalisierung des Außenhandels (1980-1988), was mit einem immensen Lohndumping einherging. Dem folgte die Phase der Liberalisierung der internationalen Kapitalbewegungen in den Jahren 1989 bis 1993. Finanzkrisen und Destabilisierung in den Jahren 1994 bis 1999 waren deren Ergebnis. Und schließlich begann1999 zeitgleich mit einer Regierungskrise der gegenwärtige Neuordnungs- und Umstrukturierungsprozess.

Den Auftakt zu dieser letzten Phase bildete eine Vereinbarung mit dem IWF in 1999. Sie wurde zunächst für einen Zeitraum von sechs Monaten abgeschlossen und sah weitreichende Strukturreformen vor. Danach sollte ein "Beistandsabkommen" unterschrieben werden. Die Voraussetzungen dafür waren: 1. die Gründung einer Bankenaufsicht und Beginn einer Konsolidierung des Fianzsektors über die Tilgung der angehäuften Schulden der Banken; 2. die Novellierung der Sozialgesetze; 3. eine Verfassungsänderung für die Zulassung internationaler Schiedsverfahren und 4. der Abbau von Agrarsubventionen. Im November 1999 wurden diese Vorgaben erfüllt.

Das "Beistandsabkommen" mit dem IWF wurde dann im Jahr 2000 unterschrieben. Dieses auf drei Jahre abgeschlossene Abkommen fußte auf zwei Säulen: einem mittelfristigen Stabilitätsprogramm und weiteren Strukturreformen. Doch schon im ersten Jahr vertiefte sich die ökonomische Krise, sodass die Vertragsfrist auf fünf Jahre verlängert werden musste. Die einzige Veränderung am "Stabilitätsprogramm" war 2001 die Einführung von "flexiblen Wechselkursen". Seither wird diese Finanzpolitik, in deren Zentrum eine strikte Ausgabendisziplin steht, eisern fortgeführt.

Welche Auswirkungen diese Politik für die Bevölkerung hat, verdeutlichen die neuesten Zahlen des Statistischen Instituts der Republik Türkei (DIE). Danach lag die Armutsgrenze in der Türkei Ende 2004 bei 1.562.000.000 Türkischen Lira (TL). Wenn man die Wechselkurse vom 10. Januar 2005 als Basis nimmt, sind das 850 Euro im Monat. Laut DIE liegen die monatlichen Einkommen von rund 3 Millionen Haushalten (etwa 12 Millionen Menschen) über 850 Euro. Über ein Einkommen unter der Armutsgrenze verfügen dagegen 15 Millionen Haushalte, d.h. nach DIE-Rechnung rund 58 Millionen Menschen. Das durchschnittliche monatliche Einkommen dieser Haushalte liegt bei 350.000.000 TL oder 192,30 Euro. Rund zwei Millionen Menschen müssen mit weniger als einem Euro am Tag auskommen. Rein rechnerisch hat sich das Pro-Kopf-Einkommen von 1.570 US-Dollar im Jahr 1980 auf 4.128 US-Dollar in 2004 mehr als verdoppelt, aber für 82% der Bevölkerung hat das an der Tatsache, an der Armutsgrenze leben zu müssen, nichts geändert.

Die Politik der letzten 25 Jahre hat dazu geführt, dass die Türkei mehr und mehr in die Abhängigkeit des internationalen Kapitals und dessen Institutionen geraten ist. Die makroökonomischen Daten belegen, dass das Land ein Geheimtipp für schnelle Kapitalvermehrung und -verwertung geworden ist. Mit der Einführung von flexiblen Wechselkursen, der Umsetzung von IWF-Vorgaben und einer repressiven Innenpolitik wurde internationalen Finanzjongleuren Tür und Tor geöffnet. So konnten internationale Anleger z.B. im März 2001 nach Abzug der Wechselkursverluste für ihr Geld in 30 Tagen eine Rendite von rund 4,7% einfahren, was einer Jahresverzinsung von 56,4% entspricht. 2002 fiel die Rendite mit rund 50,5% pro Jahr etwas geringer aus.

Auch das viel gepriesene "Wirtschaftswachstum" entpuppt sich – hinsichtlich des gesamtgesellschaftlichen Nutzens – bei näherem Hinsehen als eine Seifenblase. Dazu der Verband der unabhängigen Sozialwissenschaftler: "Ein Wirtschaftswachstum, das keine Erhöhung des gesellschaftlichen Wohlstands zur Folge hat, kann nicht als Erfolg betrachtet werden. Ein Wachstum, das nur die vorhandenen Kapazitäten ausschöpft, ist nicht nachhaltig. So gesehen, kann festgestellt werden, dass in der türkischen Wirtschaft seit 2000 bei den Investitionen ein Rückgang erfolgt. Die öffentlichen Investitionen in 2003 sind gegenüber dem Vorjahr um rund 36 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig hat sich die Kapazitätsauslastung stetig erhöht. Was regierungsamtlich als ›Wachstum‹ angepriesen wird, ist nichts anderes als eine Einkommenserhöhung aufgrund der erhöhten Kapazitätsauslastungen. Das ist das Ergebnis einer künstlich erzeugten Nachfrage, die sich aus den spekulativen Kapitaleingängen begründet und kann nicht die Quelle eines stabilen Wachstums sein. Unabhängige türkische Wissenschaftler prangern seit Jahren diesen Umstand an. Wir kritisieren die so genannte makroökonomische Stabilität, die zu einer massiven Verteilungsungerechtigkeit und Kaufkraftverlust breiter Bevölkerungsmassen geführt hat. Doch diese Kritik, die sich ausbreitende Verarmung, die Massenarbeitslosigkeit und der Rückgang der Investitionen haben für die Kreise, die die makroökonomischen Entwicklungen stets in den kurzen Zeitabständen der Finanzmärkte bewerten, keine Bedeutung." (http://www.bagimsizsosyalbilimciler.org)

Die Folgen der vom IWF diktierten Politik machen sich auch bei den Steuereinnahmen, den Staatsausgaben und der Schuldenentwicklung bemerkbar. Während seit 1980 der Anteil der indirekten Steuern am Steuereinkommen gesunken ist, nahm der Anteil der direkten Steuern wie der Mehrwertsteuer stetig zu. Gleichzeitig hat die "Ausgabendisziplin" eine stetige Abnahme der Staatsausgaben für Bildung, Soziales, Gesundheit, Agrarsubventionen u.v.m. zur Folge gehabt. Dies gilt jedoch nicht für Zins- und Tilgungszahlungen für die In- und Auslandsschulden. Nach DIE-Angaben betrugen die Zinszahlungen 2003 rund 40% der Staatseinnahmen. Die Auslandsverschuldung wuchs von 118,8 Milliarden US-Dollar (2000) binnen 4-Jahresfrist auf 153,2 Milliarden US-Dollar (2004). Diese Zahlen belegen, dass die Türkei seit 1980 in einem Teufelskreis von sich erhöhenden Schulden stecken geblieben ist und gerade mit den von den Instituten des internationalen Kapitals diktierten Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitiken nicht mehr aus dieser Falle herauskommen kann.

IWF und EU Hand in Hand

Die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) des Ministerpräsidenten Erdogan hatte vor den Parlamentswahlen vollmundig IWF-kritische Wahlversprechen gegeben, die sie jedoch in den ersten Tagen nach der Regierungsübernahme ad acta legte. In seiner ersten Regierungserklärung stellte Erdogan dem türkischen Parlament, in dem seine Partei AKP über eine absolute Mehrheit verfügt, ein durch und durch neoliberales Regierungsprogramm vor. Im April 2003 wurde unter der Überschrift "Grundgesetz der öffentlichen Verwaltungen" ein umfangreiches Reformpaket vorgestellt. Dieses Paket beinhaltet die Privatisierung sämtlicher öffentlicher Bereiche.

Damit zeigt die AKP, dass sie gewillt ist, die Vorgaben der IWF und der Weltbank zu erfüllen und die diktierte Politik umzusetzen. Erdogan begründet seine Politik mit der "Notwendigkeit, die Wünsche des internationalen Kapitals zu erfüllen und die politischen Anpassungsschwierigkeiten der türkischen Staats- und Verwaltungstraditionen zu überwinden" (Erdogan im türkischen Staatsfernsehen am 15. Dezember 2004). Um diese Wünsche zu erfüllen, will er die geforderten "Reformen" zügig umsetzen. Das sind in erster Linie die "Reform" der öffentlichen Verwaltung, eine Finanz"reform", die "Reform" der sozialen Sicherungssysteme, Bildungs- und Arbeitsmarkt"reformen". Kurzum, es wird weiter dereguliert, liberalisiert und privatisiert. Und die Zeche soll dann die Bevölkerung zahlen.

Diese Politik wird mit erstaunlicher Dreisitgkeit als "unabhängige Wirtschaftspolitik" verkauft. "Mit gutem Gewissen kann ich behaupten, dass die Türkei zum ersten Mal nach langen Jahren unter unserer Regierung eine unabhängige Wirtschaftspolitik umsetzt". – so der Staatsminister für Wirtschaft, Ali Babacan. Unterstützt wird er dabei von den Spitzen der internationalen Finanzinstitute. Nach dem Abkommen über einen neuen IWF-Beistandskredit von 10 Milliarden US-Dollar, erklärte der für die Türkei zuständige Weltbankdirektor, Andrew Vorkink, am 10. Januar 2005 der türkischen Tageszeitung Hürriyet, dass die Türkei mit der Umsetzung aller wirtschaftlichen und strukturellen Vorgaben die richtige Richtung eingeschlagen habe. Vorkink betonte dabei auch, dass es sich bei Haushaltsdisziplin, makroökonomischer Stabilität und der Umsetzung der geforderten Strukturreformen nicht um Vorgaben des IWF, sondern auch der EU handele und die Türkei damit langfristig nicht mehr auf den IWF angewiesen sein werde.

Die Vorgaben von EU und IWF sind in der Tat identisch. In dem von der Türkei der EU vorgelegten "Wirtschaftsprogramm für die Verhandlungszeit (KEP)" ist zu lesen: "Die Grundperspektive für die Festlegung der Wirtschaftspolitik im Verhandlungszeitraum ist die Erweiterung der wirtschaftlichen Struktur im Rahmen der Kriterien von Kopenhagen und letztendlich die Annäherung an die Kriterien von Maastricht. (...) Die Stärkung der freien Marktwirtschaft und die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der türkischen Wirtschaft werden vorrangige Ziele bleiben. In diesem Zusammenhang haben die Schritte zur Verringerung des staatlichen Gewichts in der Wirtschaft durch Privatisierungen, die Überlassung der Marktordnungsmechanismen an unabhängige Institutionen und die Beseitigung der gesetzlichen Behinderungen für die freie Marktwirtschaft weiterhin eine hohe Priorität". (KEP, Oberste Planungskommission der Republik Türkei)

Mit dieser Verpflichtung, die den wesentlichen EU-Forderungen entsprechen, werden zugleich sämtliche Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bevölkerung an der Wirtschaftspolitik ausgehebelt. So wird die neoliberale Ausrichtung der türkischen Wirtschaftspolitik, wie sie von IWF und Weltbank seit einem Vierteljahrhundert durchgesetzt worden ist, und die nachweislich das Land nicht aus seinen Krisen hat herausholen können, mit den EU-Beitrittsverhandlungen zu einer unveränderbaren Konstante erkoren.

"Der beste Exportartikel der Türkei ist ihre Armee!"

Erdogan und seine Regierung haben in einer sehr kurzen Zeit bewiesen, dass sie ein williger Partner für die Umsetzung einer kapitalorientierten Politik sind. Das ist übrigens einer der wesentlichen Gründe für den noch geltenden Frieden zwischen der laizistischen Generalität und der islamistischen AKP. Die geteilten und verfassungsrechtlich verankerten Machtverhältnisse sehen für die AKP-Regierung die Umsetzung der neoliberalen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik vor und für die Militärs freie Hand in Sachen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Diese Tatsache aber bedeutet für die Bevölkerungsmehrheit Arbeitslosigkeit, Armut, weiteren Abbau der sozialen Sicherungssysteme, massive Demokratiedefizite und die Verletzung der Menschenrechte. Die "Anstrengungen" auf dem Terrain des Rechtsstaates, beim Umgang mit Minderheiten und beim Modernisierungspozess zur Beseitigung regionaler Unterschiede ändern daran nichts. Der Bericht des türkischen Menschenrechtsvereins IHD macht deutlich, dass die vorgenommenen Gesetzesänderungen reine Makulatur und kosmetische Operationen sind.

Dem IHD-Bericht zufolge stehen den "Reformen" bewaffnete Auseinandersetzungen, willkürliche Exekutionen, Folter und gerichtliche Verfolgungen wegen Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit gegenüber. Die Zahl der registrierten Menschenrechtsverletzungen stieg von 6.472 (2003) auf 7.208 (2004). Obwohl die Zahl der gemeldeten Fälle von Folter und entwürdigender Behandlung von 489 in Jahr 2003 auf 338 in 2004 zurückgegangen ist, stieg die Zahl der ungeklärten politischen Morde von 68 auf 80. Und trotz der geänderten Rechtslage werden weiterhin Radio- und Fernsehsender verboten, weil sie politische Debatten in kurdischer Sprache oder zensierte kurdische Musik gesendet hätten. (Siehe auch: junge welt vom 13. Januar 2005) Die Ermordung eines 12jährigen kurdischen Schülers und seines Vaters durch Polizeibeamte kurz vor dem EU-Gipfel, die Behinderung der Ausübung von demokratischen Grundrechten, die Inhaftierung zahlreicher politischer Häftlinge sowie die Beschneidung gewerkschaftlicher Aktivitäten zeigen, dass die Türkei weiterhin als ein "Unrechtsstaat" bezeichnet werden kann und von einer bürgerlichen Demokratie noch sehr weit entfernt ist.

In diesem Zusammenhang muss auch konstatiert werden, dass die EU-Beitrittsverhandlungen an diesem Umstand auch wenig verändern werden. Die Demokratisierung des Landes, die Menschenrechtssituation und Minderheitenrechte spielen für die EU weiterhin eine nachrangige Rolle.

Die geostrategischen und militärischen Interessen bestimmen die Handlungen der EU, aber auch der USA. Für die USA hat der strategische Partner Türkei bei den zukünftigen Konflikten in der eurasischen Region subunternehmerische Qualitäten. Für die EU ist sie wiederum ein Land, das die Gefahren der Region von Europa fernhalten soll und für deren neu geordnete Interessen wichtig ist. Aus diesem Grund sehen sowohl die EU als auch die USA für die Türkei eine militärische Rolle vor. Und die türkischen Eliten, die mit Hilfe der Kurdenproblematik ihre militärische Kraft massiv aufbauen konnten, sind willens, diese Rolle zu übernehmen. Schon im Dezember 1997 sagte der ehemalige Vizeoberbefehlshaber der türkischen Armee, der Viersternegeneral Cevik Bir: "Die Energiereserven des 21. Jahrhunderts liegen im Kaukasus. Daher sind im Dreieck Balkan-Kaukasus-Naher Osten verschiedene Szenarien in Vorbereitung. Welches Szenario auch umgesetzt wird, die Türkei hat die Kraft, dabei stets die Hauptrolle zu spielen."

Das türkische Kapital hat die Signale rechtzeitig erkannt und will sich von einer Statistenrolle für das internationale Kapital verabschieden. Die wirtschaftlichen Eliten der Türkei sehen in der Neuordnung der europäischen Interessen und in den Interessenswidersprüchen zwischen der USA und der EU eine historische Chance, ein unverzichtbarer und starker Partner des internationalen Kapitals zu werden. Daher unterstützen die türkischen Unternehmensverbände und Wirtschaftsführer die Bestrebungen der türkischen Generalität, die wissen, wo die Stärke der Türkei liegt.

Der Finanzjongleur George Soros hat diese Stärke auf den Punkt gebracht: "Der beste Exportartikel der Türkei ist ihre Armee!" Die Balancierungsversuche der Türkei auf dem dünnen Seil der amerikanisch-europäischen Interessen bestätigen diese Feststellung. Der vorgesehene EU-Beitritt ist daher sowohl für die EU als auch für die Türkei ein Projekt der "Sicherheits- und Verteidigungspolitik". Bisher konnte die EU die Auswirkungen der Destabilisierung des Nahen Ostens und der kaukasischen Region von Europa fern halten. Doch der von den USA vorangetriebene Formierungsprozess in diesen Regionen bringt die EU in Handlungszwang. Ein militärisches Eingreifen der EU ist wegen vieler Faktoren auf lange Sicht nicht möglich, die Intervention der türkischen Armee als verlängerter Arm europäischer Interessen jedoch denkbar.

Der EU-Beitritt ist nicht im Interesse der türkischen Bevölkerung

Die Interessen der europäischen und türkischen Eliten decken sich. Die Interessen der Bevölkerungsmehrheit in der Türkei aber sprechen gegen einen EU-Beitritt. Denn in einer EU, die zunehmend ein Europa des Neoliberalismus, des ungezügelten Sozialabbaus und des Militarismus wird, werden die Interessen der europäischen Bevölkerungen auf der Strecke bleiben. Eine Türkei als Mitglied einer solchen EU wird nicht in der Lage sein, eine unabhängige Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu gestalten. Sie wird nicht in der Lage sein, ihre strategischen Güter zu schützen und ihre Reichtümer für die mehr als notwendige Investitions- und Beschäftigungspolitik einzusetzen. Und sie wird nicht in der Lage sein, sich aus der erdrückenden Umklammerung des internationalen Kapitals sowie dessen Institutionen zu befreien.

Aus diesen Gründen kann ich die Position der progressiven Kräfte der Türkei, die EU-Mitgliedschaft als ein imperialistisches Projekt abzulehnen, nachvollziehen. Die Türkei, besser gesagt, die demokratischen und progressiven Kräfte der Türkei haben noch die Chance, Alternativen zu der heutigen Politik zu entwickeln und sich für eine echte Demokratisierung des Landes einzusetzen. Die europäische Linke sollte sie auf gleicher Augenhöhe in diesem Bemühen unterstützen. Meines Erachtens besteht die beste Unterstützung in unserem Einsatz gegen die EU-Verfassung und für ein anderes Europa – für ein Europa der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie und des Friedens. Dafür müssen wir unsere Hausaufgaben erledigen.

Murat Çakir ist Übersetzer und lebt in Kassel.

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