1. Dezember 2004 Joachim Bischoff und Björn Radke

Die wählbare Alternative

Im März 2004 traten zwei unabhängig voneinander entstandene Wahlinitiativen an die politische Öffentlichkeit. Ihr Ansatzpunkt: auf der Grundlage der Forderungen von Gewerkschaften, Sozialverbänden, globalisierungskritischen Bewegungen, Umweltorganisationen, kirchlichen Gruppen und fortschrittlichen Wissenschaftlern eine möglichst breit angelegte Auseinandersetzung mit neoliberaler Politik und Aufklärung über sozial verträgliche Alternativen und Lösungsstrategien zu initiieren.

Dabei geht es um nicht weniger, als die sozial reaktionäre und aggressive Entwicklung der entfesselten Globalisierung aufzuhalten und einer anderen gesellschaftlichen Entwicklung zum Durchbruch zu verhelfen. Zielpunkt ist die Konstituierung eines breiten gesellschaftlichen Oppositionsbündnisses gegen den neoliberalen Elitekonsens.

Bis zum Herbst 2004 haben sich bundesweit bereits rund 6.000 Mitglieder in sechzehn Landesverbänden in der im Sommer konstituierten "Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" engagiert. Auf der Bundesdelegiertenversammlung in Nürnberg wurden am 20./21. November folgende Zwischenschritte auf dem Weg zur Beteiligung an den Bundestagswahlen 2006 beschlossen:

  Durchführung der Mitglieder-Urabstimmung über die Parteigründung bis zum 18.12.2004.

  Ausarbeitung, Debatte und Verabschiedung einer vorläufigen Parteisatzung bis Ende Dezember.

  Weiterentwicklung der programmatischen Debatte und Verabschiedung eines vorläufigen Programms bis Mitte Januar.

  Am 22.1.2005 soll ein Länderrat die formalen Voraussetzungen für die Eintragung in das Parteienregister beschließen; anschließend erfolgt die Anmeldung der Partei.

  Beschluss über die Beteiligung an den Landtagswahlen in NRW am 22. Mai (Unterschriften, Landtagswahlprogramm, Kandidaten etc.)

  Im März sollen auf einem bundesweiten Programmkonvent die Debatten über den Programmentwurf zusammengetragen werden.

  Ende April/Anfang Mai 2005 Gründungsparteitag der Wahlalternative in NRW

Kommentar der "Frankfurter Rundschau" (22.11.04) zum ersten bundesweiten Treffen der WASG: "Der Humboldtsaal in Nürnberg wird zum gallischen Dorf, das als letztes Widerstand leistet gegen einen übermächtigen Gegner. Es ist nicht nur Mäkelei, die sich da Luft macht. Dahinter steckt auch der Wille zur Macht. Zur sichtbaren Gegenmacht."

Alternative – für was?

Es existiert eine zielstrebige Entschlossenheit, den vielfältigen sozialen Prostest in der Berliner Republik zu bündeln, um zu den Bundestagswahlen 2006 eine wählbare Alternative anbieten zu können. Innerhalb der Wahlalternative existiert eine breite Übereinstimmung über die konkreten Reformvorschläge zur Überwindung der Krisenfolgen und ihrer Finanzierung: Alternativen zur Kürzung von ALG I/II und Sozialhilfe, Arbeitszeitverkürzung, Sanierung der Rentenkassen, Übergang zu einer solidarischen Bürgerversicherung.

Ungeklärt ist das Verhältnis dieser Übergangsforderungen zu den mittelfristigen Perspektiven. Eine wirksame gesellschaftliche Reformpolitik ist an einen radikalen Kurswechsel geknüpft: Mit einer Ausweitung der Staatsausgaben für öffentliche Investitionen und der Kräftigung der Nachfrage auf dem Binnenmarkt kann Vollbeschäftigung erreicht werden. Anders als bei den früher praktizierten Ansätzen zur Globalsteuerung müssen diese Maßnahmen mit einer langfristig angelegten Strukturpolitik verknüpft sein. Es geht nicht um mehr Wirtschaftswachstum innerhalb der überlieferten Einkommens- und Konsumstrukturen, sondern um die Herausbildung einer sozial und ökologisch verträglicheren Lebensweise. Eine grundlegende Reform der kapitalistischen Wirtschaft muss so anlegt sein, dass mit der Bekämpfung der bestehenden Ungleichheiten in der Einkommensverteilung eine langfristig ausgerichtete Strukturpolitik angestoßen wird. "Einerseits müssen die Reformvorschläge zur Überwindung der Krisenfolgen an den aktuellen Problemen anknüpfen und einen Katalog von kurzfristig einleitbaren Maßnahmen beinhalten. Andererseits dürfen sie sich nicht auf eine nur kurzfristig wirksame, technokratische Instrumentendiskussion reduzieren, sondern müssen zugleich den Weg in die Verwirklichung eines alternativen Entwicklungstyps öffnen."[1]

Die Politik der Deregulierung und Privatisierung verstärkt die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums in Richtung leistungsloser Einkommen, mit der Folge, dass sich die Abwärtsspirale der Ökonomie noch schneller dreht. Die Alternative sollte mittel- und längerfristig eine Politik der Umverteilung verbinden mit Strukturreformen im Akkumulationsprozess zugunsten qualitativen Wachstums und Maßnahmen für eine radikale Demokratisierung der Wirtschaft (Unternehmensverfassung, Genossenschaften, Sozialbetriebe und gesamtwirtschaftliche Steuerung) und Gesellschaft (Wie sieht eine solidarische Gesellschaft im 21. Jahrhundert aus im Licht von Globalisierung und Klimaproblemen, Kapitalismus und Depression, Wohlstandsmauern und Terrorismus?)

Formierung der politischen Lager

Die Wahlbeteiligung an den Landtagswahlen in NRW war ein wichtiger Punkt in der politischen Debatte bei der Nürnberger Bundeskonferenz, aber kein Streitthema; einige Delegierte gewichten die Folgen einer Wahlbeteiligung in NRW kritischer, wegen der Auswirkungen für die nachfolgenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sowie den Wahlkampf im Jahr 2006. Die Debatte drehte sich mehr darum, welche Voraussetzungen noch geschaffen werden müssen, um glaubwürdig als Wahlalternative zwischen Rhein und Ruhr antreten zu können.

Die Wahlen in NRW haben eine herausgehobene Bedeutung, weil die Weichenstellungen für die Zukunft dieser Republik nicht erst im Herbst 2006, sondern in den kommenden sechs Monaten vorgenommen werden. Die politischen Lager bringen sich in Position.

  Die Unionsparteien haben sich entschieden, dem Pfad des angelsächsischen Kapitalismus zu folgen: nicht nur mit einer an Irrationalität grenzenden Privatisierung des Gesundheitssystems, sondern ebenso mit einer dem Wahlkampf der US-Republikaner nachempfundenen Instrumentalisierung christlicher Werte und Leitkulturen.

  SPD und Grüne versuchen demgegenüber die Agenda 2010 als Erfolgsmodell realpolitischer Anpassung einer unter Globalisierungs- und Demografiedruck stehenden Gesellschaft zu präsentieren. Tatsachen sind jedoch: Die Konjunktur kehrt auf einen Stagnationspfad zurück, die Arbeitslosigkeit steigt (nicht nur wegen ALG II) auf über fünf Millionen registrierte und knapp acht Millionen tatsächlich Arbeitslose und die "reformierten" Sozialkassen ächzen unter wachsenden Finanzierungsrisiken. Die soziale Spaltung verschärft sich in raschem Tempo.

  Die berechtigte Furcht vieler Menschen, vor allem aus den sozial schwächeren Schichten und dem kleinen mittelständischen Bereich, vor den Folgen dieser massiven Umverteilung, löst als Abwehrreflex auch spaltende, ausländerfeindliche Reaktionen aus. Teile der Medien und der etablierten politischen Parteien bedienen diese Reflexe verstärkt mit rechtspopulistischen Kampagnen. In der Folge wurden und werden rechtsextreme Parteien wieder in die Parlamente gespült. Eine weitere Verschiebung des politischen Koordinatenkreuzes nach rechts wird von den Eliten in Kauf genommen.

  Ob die Barbarisierung der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft fortschreitet, entscheidet sich in den Auseinandersetzung um die Länge der Arbeitszeit. Wochenarbeitszeiten bis zu 50 Stunden, Streichung von Urlaubstagen, Kappung tariflicher Pausen, Heraufsetzung des Rentenalters auf 67 Jahre und mehr stehen auf der Agenda.

  Der Wahlsieg von George W. Bush, des "aggressivsten und reaktionärsten Präsidenten in der Geschichte der USA" (I. Wallerstein) verstärkt die Widersprüche und Instabilität der internationalen Entwicklung (Irak, Iran, Israel/Palästina, Nordkorea usw.) – vor allem auch auf dem Hintergrund der angeschlagenen ökonomischen Position des Welthegemons. Ob ein auf neoliberalen Pfaden wandelndes Europa dem entgegentritt, muss bezweifelt werden.

Die wirtschaftlichen und politischen Eliten bekennen offen, dass sie gegen einen großen Block der Bevölkerung agieren. Seit rund 25 Jahren sind wir mit diesem mal sanft, mal brutal vorangetriebenen gesellschaftspolitischen Rollback konfrontiert. Er hat keinerlei positive Ergebnisse in Sachen Beschäftigung oder Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme gebracht. Seine Verheißungen sind Lügen, die eine beispiellose Umschichtung der Einkommensverteilung kaschieren sollen. Kern der Agenda 2010 und der Knallhart-Variante der bürgerlichen Parteien ist die Generalrevision der sozialstaatlichen Regulierung des Kapitalismus.

Sozialstaatspartei?

Mitunter wird die WASG ihrem politisch-programmatischen Kern nach als "Sozialstaatspartei" bezeichnet. Versteht man darunter nur die – kurzfristig unzweifelhaft notwendige – Verteidigung sozialer Transfers und öffentlicher Dienste, dann ist der Ansatz sicherlich zu eng und zu defensiv. Aber der Sozialstaat als "historische Fortschrittsleistung" (K.G. Zinn) war von Beginn an mehr: ein Ansatz zum Schutz gegen die Katastrophen des Kapitalismus im 20. Jahrhundert (Weltwirtschaftskrise und Faschismus) und ein Ansatz einer durchaus systemimmanenten, aber den Kapitalismus sozial einbettenden Gesellschaftsreform. Mit dem – durchaus missverständlichen – Begriff einer "Sozialstaatspartei" entgeht man nicht der Aufgabe der Klärung des Verhältnisses von kurz- und mittelfristigen Reformperspektiven.

Die politische Krise des Sozialstaats (und damit eine der Wurzeln des Neokonservatismus und späteren Neoliberalismus) fiel noch vor den Ausbruch der wirtschaftlich-finanziellen Krise. Auf drei Feldern wurden seine Grenzen deutlich. Der Sozialstaat war erstens kein Ansatz für eine weitergehende, Krisen präventiv bekämpfende Wirtschaftssteuerung. Er war zweitens ein Verteilungsmechanismus im Wesentlichen zu Gunsten von Nicht-Erwerbstätigen (im Ausbildungssystem und im Alter) und der lohnabhängigen Mittelklassen, neudeutsch: der neuen Mitte, die überdurchschnittlich vom Angebot öffentlicher Dienstleistungen profitiert. Und drittens handelt es sich um einen Typ "passiver Revolution", eines gesellschaftlichen Veränderungsprozesses, der nicht auf Eigenaktivitäten der Menschen selbst gründet, sondern stellvertretend, durch korporatistische Verbände organisiert, handelt – was verkürzt immer als "Bürokratieproblem" beschrieben wird. Mitte der 1970er Jahre gelang es nicht mehr, diese Schranken sozialstaatlicher Entwicklung in einer neuen, solidarischen Fortschrittsperspektive (Wirtschaftssteuerung, mehr Demokratie wagen) zu überwinden. Das Ende des "goldenen Zeitalters" und die Ausprägung struktureller Überakkumulation ließ die sozialstaatliche Sekundärverteilung prekär werden.

Der Sozial- oder Wohlfahrtstaat war kein sozialistisches Projekt; er war der Höhepunkt eines langen Prozesses, in dessen Verlauf der Kapitalismus zivilisiert und zu einem gewissen Maß mit der Demokratie versöhnt wurde. Der institutionalisierte Klassenkompromiss brachte kollektive Sicherungssysteme mit begrenzten Umverteilungseffekten, er brachte eine asymmetrische Balance zwischen Lohnarbeit und Kapital in den Unternehmen und in gesamtgesellschaftlichen Steuerungsinstitutionen; er brachte eine Erweiterung von sozialen Rechten und die Einrichtung sozialen Eigentums, aber keine Fesselung der kapitalistischen Dynamik. Die Verteilung der gesellschaftlichen Ergebnisse der kapitaldominierten Marktwirtschaft wird immer stärker in Richtung der leistungslosen Vermögenseinkommen verschoben. Selbst wenn das Vermögen durch eigene Leistung erworben wurde und nicht (wie in der Mehrzahl der Fälle) von den Vorfahren ererbt wurde, lässt sich die Vermögensvermehrung durch Zinsen und Dividenden nicht mit dem Leistungsprinzip rechtfertigen. Nimmt man die unzureichende Besteuerung der Vermögen und Vermögenseinkommen hinzu, ist diese zerstörerische Tendenz auch unter politischen Gesichtspunkten ein Skandal. Jetzt treiben wir nach langem Rollback auf einen historischen Tiefpunkt zu, wo die wirtschaftliche Macht ungeniert in politische Hebel zur Zerstörung des Sozialstaates umgesetzt wird.

Der Sozialstaat ist keineswegs wegen seiner "Ausnutzung" durch die unteren und mittleren sozialen Schichten in der Krise. Diese "Reformlüge" wird durch stete Wiederholung nicht überzeugender. Die sozialen Sicherungssysteme geraten in Turbulenzen, weil die Verteilungsverhältnisse seit Jahrzehnten zugunsten der Vermögens- und Kapitaleinkommen verschoben werden, da dadurch der Binnenmarkt massiv beschädigt wird, die Massenarbeitslosigkeit hoch bleibt und die prekären Beschäftigungsverhältnisse ausgeweitet werden. Allein im laufenden Jahr werden die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um rund 500.000 zurück gehen. Bei den lohnbasierten Sicherungssystem geraten so die finanziellen Fundamente ins Wanken – keineswegs wegen überzogener Ansprüche. Die steuerlich verstärkte Umverteilungspolitik zu den Unternehmen und den Vermögenseinkommen ist die Grundlage einer falschen und sozial ungerechten Wirtschaftspolitik.

Die Generalrevision des Sozialstaates wird von einem großen Teil der Wähler – trotz massiver Propaganda und vielfältigen Drucks – nicht mitvollzogen, daher die Wahlenthaltung und die massiven Stimmenverluste für die Sozialdemokratie. Der politische Absturz der Sozialdemokratie erfolgte schließlich mit dem Übergang zu neoliberaler Politik. Die SPD-Elite rutscht auf der Konfliktachse nach rechts und nähert sich dem marktliberalen Pol an. Demgegenüber verharren große Teile der Mitgliedschaft und wichtige Wählersegmente auf der ideologischen Position einer wohlfahrtstaatlichen Sozialdemokratie.

Linkspartei?

In den desillusionierten Wählerschichten machen die Wahlforscher einen Wunsch nach einer zeitgemäßen Neubelebung wohlfahrtstaatlicher Aktivitäten aus. Diese tiefverwurzelten Normen sozialstaatlichen Denkens "sind keineswegs auf die untere Hälfte der sozialen Pyramide beschränkt; auch beträchtliche Teile der Mittelschichten haben sie übernommen. Vor allem aber haben sich diese Sozialstaats- und Gerechtigkeitsvorstellungen als überaus stabil erwiesen."[2]

Daraus ergibt sich die strategische Schlussfolgerung, dass es keinen Widerspruch zwischen einer "Sozialstaats-" und einer "Linkspartei" geben kann. Die programmatischen Ziele der Wahlalternative werden vom Großteil der Wähler und der Medien dem linken Spektrum zugeordnet. Der Wahlforscher Mielke verallgemeinert: "Die deutsche politische Kultur ist eindeutig wohlfahrtsstaatlich und damit linkslastig... in der deutschen nationalen Wahlstudie 2002 ordnen sich 44,3% der Befragten links von der Mitte ein; 29,3% siedeln sich in der Mitte an und 26,4% platzieren sich rechts von der Mitte, in Ostedeutschland ist die Mehrheit für einen linken Positionsbezug noch deutlicher."[3]

Vor diesem Hintergrund lassen sich die wahlpolitischen Entwicklungslinien klären:
1. Die SPD verliert überdurchschnittlich in ihren Traditionsrevieren, bei ihren Anhängern in der Arbeiterschaft und in den unteren Mittelschichten; dort kommt es zu einer deutlich angestiegenen Wahlenthaltung. Diese Veränderungen werden von einer dramatisch abgesackten Kompetenzzuschreibung für die SPD in Sachen "soziale Gerechtigkeit" begleitet.
2. Die Union kann keinen nennenswerten Zustrom an Wählern verzeichnen.
3. FDP und Grüne sind als Parteien der gebildeten und wohlhabenden Mittelschichten von den Auswirkungen des Konflikts um die Zukunft des Wohlfahrtsstaats kaum betroffen.
4. Für die PDS gilt eine durchwachsene Bilanz: Einerseits ist der Erosionsprozess zum Stillstand gekommen – andererseits ist ein Vorstoß in neue Wählerschichten trotz der krisenhaften Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage nicht gelungen.

Eine neue Linkspartei neben der PDS?

Folgt man der Selbstetikettierung der PDS, dann gibt es in Deutschland seit nahezu eineinhalb Jahrzehnten eine moderne, europaweit agierende Linkspartei. Kein Wunder, dass sie das Auftreten der "Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" als politisch gefährliche Zersplitterung der Linken zurückweist. Doch zwischen Selbstzuschreibung und Realität klaffen tiefe Gräben.

Die PDS hat nach 15 Jahren keine soziale Verankerung in den alten Bundesländern gefunden und folglich bietet sie auch keinen Ansatzpunkt, die sich in massiver Wahlabstinenz ausdrückende Krise der Politik zu überwinden. Das Scheitern der Westausdehnung hat Gründe. Die Stärke der PDS ist zugleich ihre Schwäche: Ihre Wurzeln liegen in der politischen Kultur der ostdeutschen Bundesländer. Ihr ist nicht nur das linke Westmilieu fremd, noch wichtiger ist ihre Distanz zu den breiten, gewerkschaftlich geprägten Arbeitnehmerschichten. Das hat zur Folge, dass die Verteilungsrealität zwischen Lohnarbeit und Kapital ihr bis zu einem gewissen Grade äußerlich ist, dass sie über ein etatistisches Verständnis des Sozialstaats kaum hinausgekommen ist und dass sie sich schließlich in Koalitionen mit der Agenda-gewendeten Sozialdemokratie in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern derart verstrickt hat, dass von den Grundsätzen einer modernen linkssozialistischen Partei in der Realität politischer Verantwortung so gut wie nichts mehr übrig geblieben ist. All dies waren Faktoren für ihr Scheitern bei den Bundestagswahlen 2002 – bis heute sind sie nicht aufgearbeitet. Selbstkritische Reflektion auf die unzureichende gesellschaftliche Akzeptanz in der Krisensituation ist ihre Sache nicht. Auch die PDS ist von der wachsenden politischen Apathie betroffen, so sehr sie auch in dem nachwirkenden Antikommunismus die eigentliche Ursache sieht. Sie stellt jetzt die eigene Selbstbehauptung in das Zentrum ihrer wahlpolitischen Überlegungen und nicht die Frage, wie sich die Linke insgesamt der neoliberalen Offensive wirksam entgegenstellen kann.

In der PDS hat es immer unterschiedliche Strömungen gegeben. Doch gegenwärtig scheinen nicht diejenigen zu dominieren, deren Ziel die Herausbildung eines starken gesellschaftlichen Oppositionsblocks ist. Vielmehr treten jene in den Vordergrund, die Parteienkonkurrenz befördern und die Zersplitterung der Oppositionskräfte bewusst in Kauf nehmen. Dazu gehört Wolfgang Gehrcke, Mitglied des PDS-Parteivorstandes. Sein borniert-selbstgefälliges Urteil: "Kein Aufbruch für die Linke ging vom Bundeskongress der Wahlalternative in Nürnberg aus, erst recht kein Aufbruch der Linken. Die Kandidatur zu den Landtagswahlen in NRW und zu den Bundestagswahlen ist der Kitt, der die neue Partei zusammenhält. Die PDS war zwar allgegenwärtig, wurde aber zum Nicht-Thema gemacht... Über weite Strecken erinnerte der Bundeskongress an eine Versammlung linker Gewerkschafter... Die Wahlalternative erschien auf dem Bundeskongress als männlich, westdeutsch und über 50.
Im Unterschied zur Wahlalternative ist die PDS

  eine sozialistische Partei, stark im Osten und im Westen nicht schwächer als die Wahlalternative;

  Teil der Europäischen Linken und darüber Teil europäischer und weltweiter Alternativbewegungen;

  in Kommunen und Landesparlamenten und außerparlamentarischen Bewegungen verankert; ihre Politik kann anhand der Praxis überprüft und kritisiert werden.


Die PDS will nicht nur die Parteienlandschaft durcheinander wirbeln, sie will das Denken, Handeln, das Kräfteverhältnis in der Gesellschaft ändern."

Schlussfolgerung in der Presse: "Offenkundig arbeitet die PDS darauf hin, dass die Wahlalternative in NRW – wo sie zum ersten Mal antreten will – gleich einen Dämpfer bekommt. Zur Bundestagswahl 2006 könnte dann die PDS den verbliebenen Akteuren der Wahlalternative ein Angebot zur Kooperation machen."

Der praktische Test erfolgt in NRW: Tritt die PDS zu den Landtagswahlen im Mai an, obgleich sie keine reale Chance für ein politisches Mandat hat, kündigt sie die Zusammenarbeit der linken Kräfte auf und begibt sich ein weiteres Mal auf den Weg in die Selbstisolation. Daraus folgt:

  Sie wollte eine offenes linkes Projekt sein, hat diese Entwicklung aber selbst verlassen.

  Sie entwickelt sich mehr und mehr zu einer Mandatspartei, die Parlamentssitze für wichtiger erachtet als soziale Opposition: Die Aufkündigung des BAT-Tarifs durch die SPD/PDS-Koalition in Berlin war die Absage an eine Perspektive der Zusammenarbeit mit fortschrittlichen gewerkschaftlichen Kräften.

  Sie wirkt an der Zerstörung sozialer Rechte mit, insofern sie an der Praxis der Arbeitsgelegenheiten für Bezieher von Sozialeinkommen beteiligt ist und damit den Generalangriff gegen das Arbeits- und Sozialrecht als nachrangig erachtet.

Bleibt es bei der von Wolfgang Gehrke vorgegebenen Position, dann wird die PDS auch künftig über den Status einer ostdeutschen Bürgerrechtspartei nicht hinaus kommen.

"Die Zukunft liegt nicht darin, dass man an sie glaubt oder nicht an sie glaubt, sondern darin, dass man sie vorbereitet."

In dieser Zeit ist die Entwicklung einer wählbaren Alternative ein wichtiger Schritt für die Formierung eines breiten gesellschaftlichen Blocks gegen die destruktive Politik der neoliberalen Allianz der etablierten Parteien. Es existiert eine doppelte Herausforderung: Zum einen geht es um die seit Jahren anhaltende Politik des Sozialabbaus und der Zerstörung der sozialen Rechte. Zum anderen sind viele Bürgerinnen und Bürger von den traditionellen Parteien enttäuscht, die Mitgliederverluste bei der SPD gehen im letzten Jahrzehnt in die Hunderttausende, es wächst die Zurückhaltung, sich an der politischen Willensbildung und an Wahlen überhaupt noch zu beteiligen. Das unterstreicht die Notwendigkeit einer neuen politischen Formation.

Mit Blick auf die Wahlergebnisse der NPD und die Neuformation am rechten Rand des politischen Spektrums sind auch die Befürchtungen sichtbar geworden: Wenn es keine zukunftsfähige Antwort auf die Zerstörung von Sozialstaat und demokratischer Republik gibt, werden wir uns mit einer Tendenz zur noch weiteren Verschiebung des politischen Koordinatenkreuzes nach rechts auseinandersetzen müssen.

Die seit längerem durch die neoliberale Politik verursachte Krise ist das Terrain, auf dem sich die Kräfte, die eine Alternative wollen, organisieren. Logischerweise ist die Wahlalternative mit ihrer Gründung in eine Reihe mehr oder minder bekannter ideologischer, philosophischer, politischer und juristischer Auseinandersetzungen eingebunden. In der Auseinandersetzung mit diesen müssen und wollen wir beweisen, dass die vor uns liegende geschichtliche Aufgabe gelöst werden kann.

Joachim Bischoff und Björn Radke sind Mitglieder des Bundesvorstands der Wahlalternative.

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