1. November 2001 Arno Klönne

Die »wehrhafte Demokratie« und die »Enttabuisierung des Militärischen«

Der Präsident der weltweit einzig verbliebenen Supermacht hat, wie er über die Massenmedien verbreiten ließ, »den Teufel gesehen«, was deutsche Politiker dazu veranlasste, den terroristischen Angriff auf Kathedralen der Wirtschafts- und Militärkonfession der USA als »Tat aus der Hölle« zu deuten. Solcherart Begrifflichkeit kommt nicht von ungefähr. Sie dient dazu, das Gefühl von einer Bedrohung zu wecken, die als allgegenwärtig und rational nicht mehr fassbar erscheint, über deren Hintergründe man nicht nachdenken muss und der nur durch einen globalen und permanenten Kreuzzug beizukommen ist.

Wenn es um den »Weltkampf zwischen Gut und Böse« geht, wie George W. Bush verkündet, dann ist eine Kriegserklärung nur konsequent, die offen lässt, wen und was alles die »zivilisierte Welt« denn in Zukunft noch bekämpfen, »ausräuchern« oder »auslöschen« will. »Mr. Bush, retten Sie die Welt!« – forderte eine deutsche Boulevardzeitung den Präsidenten der USA auf, was sich in der Schlagzeile eines amerikanischen Massenblattes pragmatischer las: »Kill the bastards!« Wer den »bastards« zuzurechen ist und wo diese anzutreffen sind, lässt sich nicht ein für allemal sagen; da gibt es viele Möglichkeiten. Die strategische Blickrichtung ist aber deutlich: Krieg den Hütten, Friede den Palästen! Das erste Exempel wird in Afghanistan statuiert, einem Land, in dem brutale Großmachtpolitik seit Jahren unbeschreibliches Elend hinterlassen hat. Da ist also, wenn es um das »Liquidieren« von Staaten geht, die »dem Terrorismus Unterschlupf gewähren«, keine so riesige Arbeit mehr zu leisten.

Bei der Feststellung, wer denn alles den gegenwärtig vorrangig zu Teufeln erklärten moslemischen »Glaubenskriegern« Beihilfe geleistet hat, braucht es allerdings seitens der US-Regierung viel propagandistische Anstrengung, um die eigenen Spuren zu verwischen. So auf Rationierung bedacht wie bei den Zuwendungen an die verhungernde Bevölkerung dieses Landes, war der »freie Westen« nicht, als es um den Aufbau, die Ausbildung und Ausrüstung terroristischer, sich auf den Islam berufender Söldnereinheiten im Kampf gegen die mit der UdSSR verbündete Regierung Afghanistans und gegen sowjetisches Militär ging. Das heutige Taliban-Regime und auch das Bin Laden-Netzwerk wären ohne Anleitung und Unterstützung durch US-amerikanische Geheimdienste, Militärberater und Waffenlieferanten gar nicht auf die Beine gekommen.

Diese ganz und gar nicht zivile Ausrichtung US-amerikanischer Machtpolitik, die bereits katastrophale Folgen zeitigte, soll nun im »Weltkrieg zur Rettung der Zivilisation« forciert werden. Geheimdienste und Militär werden sich einer gigantischen neuen Konjunktur erfreuen. Und dieser Ruck hin zum Rüstungs- und Überwachungsstaat wird sich nicht auf die Vereinigten Staaten beschränken. Insofern ist die massenmedial beliebte Formel, der 11. September habe »die Welt verändert«, durchaus zutreffend. Während die Gedenkstunden für die Opfer der Terrorakte in den USA noch anhielten, waren Kommandozentralen des Militärs, der Geheimdienste und auch der Rüstungswirtschaft längst damit beschäftigt, die Gunst der Stunde zu nutzen und ihr Geschäft kräftig zu expandieren. Auch so manches bisher noch gebremste Interesse an innenpolitischen und internationalen Machtverschiebungen lässt sich nun umsetzen. Führende Wirtschaftswissenschaftler in den USA sagen einen enormen Aufschwung der Waffenbranche gerade auch bei militärischem Hightech voraus; dem »Krieg der Sterne« werde nun nichts mehr im Wege stehen. Der deutsche Militärpolitiker Klaus Naumann, bis 1999 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, rechnet damit, dass die Militärhaushalte in Zukunft nicht mehr »von engstirnigen Buchhaltern diktiert werden«. Da wird noch vieles auf die Menschen auch in Deutschland zukommen; schließlich hat der Bundeskanzler versichert, man werde »uneingeschränkte Solidarität mit den USA« üben. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten kann mit dieser Solidaritätsbekundung nicht gemeint sein, denn ihr ist mit einem neuen Schub von äußerer und innerer Aufrüstung nicht gedient, und auch dem Terrorismus ist so der Boden nicht zu entziehen. »Solidarisch« will sich die deutsche Politik zu den Bedürfnissen des militärstaatlich-industriellen Komplexes verhalten. Da muss an anderen Stellen gespart werden – bei der sozialen Sicherung vor allem, vielleicht auch noch ein bisschen bei der Entwicklungshilfe, die ohnehin kaum noch etwas hergibt.

Jetzt gilt es, so wollen uns viele Feuilletons in die richtige Stimmung versetzen, sich wieder auf Stahlgewitter einzustellen. Auch da wird vieles möglich, was bisher unwahrscheinlich schien. Ein Beispiel: Über zwei Seiten hin druckte jetzt eine Zeitung aus jenem Verlagshaus, das seine Publizistik ganz formell auf die Einhaltung »westlicher Werte« verpflichtet hat, eine »Widerlegung des Pazifismus« von Ernst Jünger aus dem Jahre 1925 ab, ein kriegsbrünstiges Pamphlet aus dem ideologischen Vorraum des deutschen Faschismus, volkserzieherisch gemeint.

Afghanistan im Fadenkreuz konkurrierender Weltmachtinteressen

Woher kommen die Verhältnisse, die die USA und ihre Verbündeten mit der ganzen Macht einer hochmodernen Militärmaschinerie »ausräuchern« wollen? Dazu einige exemplarische Hinweise: Die Militärschläge der USA richten sich gegen ein afghanisches Regime, das Terror ausübt und zugereisten Terroristen Unterschlupf gewährt. Aber die »steinzeitlichen Verhältnisse« in jenem extrem geschundenen Land sind nicht einheimischen Ursprungs. Vielmehr haben hochentwickelte und hochgerüstete Staaten von außen auf die afghanische Entwicklung Einfluss genommen und zwar seit langer Zeit, in gewalttätiger Konkurrenz untereinander und mit schrecklichen Konsequenzen. Im 19. Jahrhundert betrieben das Zaristische Reich und das Britische Empire ihr »Großes Spiel« um die Herrschaft in Zentralasien, im Kaukasus und in der Kaspischen Region. Ihre machtstaatliche Begehrlichkeit richtete sich dabei auf Afghanistan als geostrategische und militärische Schlüsselposition. Als das wilhelminische Deutschland nach der Jahrhundertwende seinen »Platz an der Sonne« erobern wollte, nahm es höchst interessiert diese Region in den Blick, und Kaiser Wilhelm II. schickte Agenten nach Kabul. Er wollte Afghanistan für einen »Dschihad« zugunsten deutscher Weltmachtinteressen gewinnen. Auch Hitler-Deutschland, im Zweiten Weltkrieg bis zum Kaukasus vorstoßend, bewegte sich auf diesen Spuren. Nach 1945 und beim Zerfall des britischen Imperiums dehnten die USA ihre wirtschaftlichen und militärischen Ambitionen auf den zentralasiatischen Raum aus, in der Rivalität mit der UdSSR. Und im Afghanistankrieg ab 1979 ging ein ganzes Land zugrunde im zermürbenden Kampf zwischen einheimischen Reformern, sowjetischen Invasoren und einheimischen Traditionalisten, die von den USA finanziert und ausgerüstet wurden und denen Pakistan Unterstützung bot. Wieder war vom »Heiligen Krieg« die Rede, diesmal gegen die Sowjets gerichtet, und Söldner aus anderen moslemischen Ländern wurden hier kriegerisch geschult. Brutalität erhielt nun den Anschein von Normalität. Später wurden aus »Freiheitskämpfern« nach westlichem Verständnis Terroristen; allerdings hat sich eine Fraktion derselben inzwischen in »Freiheitskämpfer« zurückverwandelt, nun gefördert auch von ihren einstigen russischen Gegnern. Bei den Einmischungen von außen her, denen Afghanistan unterlag, ging es allemal um imperiale Machtpolitik, um die Verfügung über Öl und andere Ressourcen, um strategisch gesicherte Transportlinien, um militärische Stützpunkte für solche Zugriffe.

Der Bevölkerung eines Landes wie Afghanistan ist diese weit zurückreichende scheußliche Geschichte keineswegs unbekannt. Massen von Menschen, nicht nur in Afghanistan, setzen angesichts einer solchen Vorgeschichte des heutigen Elends in jene Mächte, die nun die »Zivilisation« retten wollen, keinerlei Vertrauen. Und die Frage ist berechtigt, weshalb denn sie, und weshalb wir glauben sollen, dass bei dem nun proklamierten langjährigen Krieg, der unter der Parole der »andauernden Freiheit« geführt wird, die Politik der hochentwickelten und hochgerüsteten Machtstaaten heute von imperialen Interessen – von wirtschaftlichen, militärstrategischen und geopolitischen Eigennützigkeiten, die mit aller Brutalität durchgesetzt werden, – frei sein könnte.

Verursacher und Profiteure des Terrorismus

Bei den kapitalistisch verfassten Staaten kommt noch ein anderes, sehr kräftiges Motiv mit ins Spiel. In diesen Tagen war die folgende Beschreibung zu lesen: »Es zeigten sich die alten kapitalistischen Instinkte. Die Trümmer in New York rauchten noch, da stiegen schon die Aktienkurse der einschlägig bekannten Rüstungsunternehmen in Europa. Als dann die Börse in New York die Geschäfte wieder aufnahm, schnellten auch die Notierungen der US-Waffenbrüder nach oben. Kein Krieg in Asien, keine blutige Auseinandersetzung im ehemaligen Jugoslawien, keine sinnlose Metzelei in Afrika – keine Militäraktion der vergangenen Jahre hat der internationalen Rüstungsindustrie soviel Rückendeckung gegeben wie die Terroranschläge von New York und Washington. Unerheblich blieb dabei die Frage, ob die Unternehmen tatsächlich Produkte herstellen, die im Kampf gegen die neue Gefahr von Nutzen sind oder nicht. Die Angst macht die Bürger bereit, ihre Steuergelder für Waffen locker zu machen.« Dieses Zitat stammt aus einem großen Artikel mit dem Titel »Rüstungsindustrie hofft jetzt auf eine Terror-Dividende« und wurde veröffentlicht in der »Welt am Sonntag«, einer Zeitung also, die nicht im Verdacht steht, die »westliche Wertegemeinschaft« kritisch betrachten zu wollen.

Das Grundmuster der Politik des »Bündnisses gegen Terrorismus« verdient kein Vertrauen. Der Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon sei ein barbarischer Bruch mit den Werten und Regeln der westlichen Welt, sagt man. Aber hat nicht eben diese westliche Welt jene Verfahrensweisen entwickelt und oft genug selber praktiziert, die nun von Terroristen genutzt wurden? Gehörten nicht Gewalttaten außerhalb des eigenen Territoriums, die Unschuldige und Unbeteiligte trafen, auch rechtswidrige und zum Teil verdeckte militärische Operationen, dem eigenen Machtgewinn dienend, zum selbstverständlichen Instrumentarium der westlichen Welt, als Staatsterrorismus sozusagen?

Der Meinungsfreiheit in den Vereinigten Staaten, die hoch zu werten ist, war es zu verdanken, dass viele gewaltförmige Handlungen des eigenen Staates als zerstörerisch und todbringend erkannt oder entdeckt wurden – nachträglich. So zivil, wie jetzt gern behauptet, ging es bei den Werten und Regeln des Westens, so wie er war, keineswegs zu. Und ist dieser Westen seit dem 11. September über Nacht ein anderer geworden? Da haben Gegner in anderen Teilen der Welt offenbar nicht aus dem Koran, sondern aus den Verhaltensmustern der »hochentwickelten« Staaten gelernt. Neu an den Methoden der Terroristen von New York und Washington ist eben nicht, dass auf das Leben von Tausenden ziviler Opfer keine Rücksicht genommen wird.

Völlig zu Recht geht die Angst um, dass Terrorakte von »nichtstaatlichen« Organisationen oder Gruppen sich global weiter ausbreiten könnten. Die modernen Techniken machen die Gesellschaften verwundbar, die Welt ist überfüllt mit Waffen, auch massenvernichtenden, mit atomaren, chemischen und biologischen Kampfstoffen. Dieses hochexplosive Arsenal wurde aber nicht von »Glaubenskriegern« in afghanischen Bergen oder jemenitischen Wüsten entwickelt, produziert und bereitgestellt. Es handelt sich vielmehr um eine Schöpfung der führenden westlichen Staaten und auch Russlands – das nun als Partner im »Bündnis gegen den Terrorismus« willkommen ist. Wer jetzt darauf hinweist, dass etwas gegen die sozialen Gründe des Terrorismus in den Ländern Asiens, Afrikas und des Nahen Ostens getan werden müsse, wird abgemahnt: Solche Ideen würden nur vom notwendigen Kampf gegen die Terroristen ablenken, und im Übrigen kämen diese ja nicht aus armen Familien. Außerdem gebe es Terroristen auch in Spanien, Nordirland usw. Aber ETA und IRA bringen keine Weltgefahr hervor, und auch Fanatiker, die sich auf moslemische Motive berufen, hätten nur wenig Chancen, größere Gefolgschaft zu finden, wenn sie nicht einen günstigen Boden im Schicksal von Massen vorfänden, in Armut und Unterdrückung. Wie soll dies verändert werden, wenn die westliche Politik weiterhin machtstrategisch auf das Bündnis mit ausbeutenden Herrschaftscliquen in armen Gesellschaften setzt? Und wenn als oberstes Gesetz der Globalisierung weiterhin das ökonomische Interesse westlicher Konzerne gilt? Ein aktuelles Beispiel illustriert den Zusammenhang von ökonomischen Interessen und militärischer Entwicklung: Nicht nur die Vereinigten Staaten sind vom Milzbrandfieber heimgesucht; da meldet die Sonntagszeitung aus dem Hause Springer in der Schlagzeile ihrer Titelseite: »Erreger für Biowaffen kommen aus Deutschland«. Wer nicht weiterliest, wird auf die Idee kommen, Schläfer des Bin Laden-Netzwerkes hätten in deutschen Labors die Bakterien gezüchtet, mit denen nun Amerikaner verseucht werden. Aber in Wirklichkeit liegen die Dinge anders. Der Artikel berichtet darüber, dass laut Rüstungsexportbericht der rot-grünen Regierung die Bundesrepublik im Jahre 1999 »chemische und biologische Stoffe für den Kriegsverbrauch« im Wert von 77,4 Millionen DM in die USA geliefert hat. Der Verwendungszweck dieser Exportware ist regierungsamtlich folgendermaßen definiert: »Außergefechtsetzung von Menschen und Tieren, Funktionsbeeinträchtigung von Geräten, Vernichtung von Ernten oder der Umwelt und chemische Kampfstoffe«. Die Sonntagszeitung fügt als Information hinzu, dass die »seuchenmedizinisch wirksamen Substanzen für Krankheitserreger« in dieser Lieferung in hiesigen Laboratorien gezüchtet oder aufbereitet wurden. So leistet also auch die Bundesrepublik ihren Beitrag zum Fortschritt der »wehrhaften Zivilisation«. Allerdings hat unsere Sonntagszeitung eine Sorge: die »Erreger« könnten in »falsche Hände kommen«, die Unzivilisierten sich solcher Errungenschaften der Zivilisation bedienen.

Die »wehrhafte Demokratie« und ihre Kosten

Mit welchen politischen Perspektiven in der Bundesrepublik haben wir es nun beim Übergang in den von den USA ausgerufenen lang andauernden Krieg zu tun? Die Bundesrepublik Deutschland müsse den Schritt hin zur »wehrhaften Demokratie« tun, rief der vermutliche Kanzlerkandidat Edmund Stoiber seinem CSU-Parteitag zu, und nur 3,4 Prozent der Delegiertenstimmen fehlten ihm an einer hundertprozentigen Wiederwahl zum Parteivorsitzenden. Einige Tage zuvor hatte der amtierende Bundeskanzler denselben Fortschritt in einer etwas anderen Formulierung gefordert: Die Deutschen, so Gerhard Schröder, müssten sich jetzt für die »Enttabuisierung des Militärischen« entscheiden. Und sein Außenminister Joseph Fischer sekundierte: Einen »Ordnungsmangel« irgendwo in der Welt dürfe man nicht mehr zulassen, und weil die Wehrhaftigkeit Geld kostet, müsse sich die Bevölkerung darauf einstellen, dass sie kräftig zur Steuerkasse gebeten werde. Hans Eichel wird sich diesem schlagenden Argument kaum verschließen können, und auch Edmund Stoiber würde, säße er in Berlin in der Regierung, rasch einsehen, dass die Mehrheit der Bevölkerung mehr Steuern zahlen muss, was ja weiteren Erlass für die großen Unternehmen keineswegs ausschließt.

Aber was ist da eigentlich zu »wenden«? War Deutschland bisher »wehrlos«? War das Militärische mit einem Tabu belegt? Schon die Alt-Bundesrepublik hat sich zur »wehrhaften Demokratie« bekannt, im Sinne einer Feinderklärung gegenüber dem »Weltkommunismus«, wobei an die Tradition des »Antibolschewismus« der Zeit vor 1945 angeknüpft werden konnte. Gab es eine »Tabuisierung des Militärischen«? Die Bundeswehr war und ist kein Veteranenverein; die Alt-Bundesrepublik strebte die Verfügung über atomare Waffen an (und scheiterte am Unbehagen der Bündnispartner) und als Rüstungsschmiede ist man erfolgreich im internationalen Waffengeschäft tätig; schließlich mischte die Bundeswehr im Krieg gegen Jugoslawien kräftig mit. Dennoch ist richtig, dass die rot-grüne Bundesregierung derzeit dabei ist, der deutschen Militärpolitik eine neue, expansive Ausrichtung zu geben und dem innergesellschaftlich, auch propagandistisch, Rückhalt zu verschaffen; aus der Opposition heraus unterstützen die Unionsparteien diesen – wie er in den vornehmen Kommentaren genannt wird – Paradigmenwechsel und geben ihm zusätzlich Schubkraft. Deutschland, so heißt es im Burgfriedenskonsens, könne sich beim weltweiten Kampf um militärisch gestützte Macht nicht mehr auf »sekundäre Hilfsleistungen«, auf »Lazarette, Scheckbücher und Carepakete« beschränken. Neu ist also, dass die bisher übliche Eingrenzung der deutschen militärpolitischen Doktrin auf die Verteidigungsfunktion zum alten Eisen gelegt werden soll, und selbstverständlich hat eine solche weltpolitische Ambition ihre innenpolitischen Konsequenzen. Es geht nicht mehr um den Abbau von Arbeitslosigkeit, um die Erhaltung des Sozialstaats, um die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus, um die Integration der Zuwanderungsbevölkerung – die deutsche Politik hat nun Wichtigeres zu tun. Die Zeitung »Die Welt« hat, schon vor Schröders Regierungserklärung, das neue »Paradigma« treffend formuliert: »Die Politik auch in Deutschland muss mit dem militärischen Unernst aufhören. Sie muss dem Bürger wieder das Gefühl geben, dass es noch eine andere Sicherheit gibt als die soziale.«

Die ideologische Lage scheint für eine solch neue Ausrichtung deutscher Politik äußerst günstig. Wer sich dem Aufruf zur »Wehrhaftigkeit», der »Enttabuisierung des Militärischen« entgegenstellt, bekommt das Stigma des »Mangels an Hilfsbereitschaft für die Opfer in den USA«, des »Täterschutzes für Terroristen«, der »Fahrlässigkeit bei der Prävention von Terrorangriffen auch auf Deutschland« verpasst. Der Bundeskanzler hat gesagt, für die neue militärpolitische Ambition der Bundesrepublik sei »Hurrapatriotismus nicht vonnöten«, womit denjenigen im rot-grünen Gefolge, die sich bei der Enttabuisierung zögerlich zeigen, eine mentale Stütze gegeben wird, damit sie über ihre Bedenken guten Gewissens hinwegkommen. Von Fragen, die der Begriff Patriotismus aufwirft, einmal abgesehen – zu einem Hurra wird es demnächst denn doch wohl kommen müssen, denn ohne Begeisterung wird die Bevölkerung die sozialen Kosten der weiteren Militarisierung kaum hinnehmen können. Für die Phase des »Hurrapatriotismus« ist vermutlich eine Bundesregierung unter Edmund Stoiber besser geeignet als das Kabinett Gerhard Schröders. Aber das heißt ganz und gar nicht, dass sich die Geschichte deutscher Wiederbesinnung auf Machtpolitik eine rot-grüne Regierungszeit hätte ersparen können. Das Kabinett Schröder hat – unter diesem Blickwinkel – enorme Leistungen vorzuweisen. Welche andere Regierungskoalition hätte den Einstieg in den weltweiten Bundeswehreinsatz so reibungslos arrangieren können? Welche andere Regierungskoalition hätte das Potenzial der Friedensbewegung zu erheblichen Teilen so effektvoll lahm legen können? Welche andere Regierungskoalition hätte die deutschen Gewerkschaften so geschickt beim Abbau des Sozialstaates und beim Ausbau des so genannten Sicherheitsstaates ruhig stellen können? Sicherlich ist da noch einiges zu tun, und deshalb braucht die rot-grüne Bundesregierung auch noch ein bisschen Amtszeit. Außerdem heißt es ja, »Krisenzeiten« seien »Kanzlerzeiten«. Das stimmt wohl, aber auf längere Sicht muss der Kanzler nicht unbedingt Schröder heißen, auch wenn sich weiterhin aus dem Krisengefühl Kapital schlagen lässt. Die Tabubrecher haben dann ihre Schuldigkeit getan.

Was tun?

Welche politischen Konsequenzen sind aus dieser Lagebeschreibung zu ziehen?
1. Wer dazu beitragen will, dass eine Alternative zur gegenwärtig herrschenden Rüstungs- und Kriegspolitik identifizierbar wird, international und in der Bundesrepublik Deutschland, muss eindeutig Nein sagen zum Kurs der Regierung der USA, der NATO und der deutschen Bundesregierung. Dies ohne Wenn und Aber, und ohne – was Deutschland betrifft – Selbstblockade durch den Trost, trotz allem sei Friedenspolitik bei einer rot-grünen Regierungskoalition noch besser aufgehoben als bei denkbaren anderen Koalitionen.
2. Die Opposition gegen die Kriegspolitik kann hierzulande nur kräftig werden, wenn sie ihre Energie vorrangig für außerparlamentarischen Protest, für außerparlamentarisch vertretene Alternativen verwendet. Es wäre sinnlos, sich mit den eigenen Positionen öffentlich zurückzuhalten, um auf Kräfteveränderungen – innerparteiliche – bei den Grünen und bei der SPD zu hoffen und Rücksicht zu nehmen.
3. Es muss in aller Offenheit die Auseinandersetzung um die Willensbildung der Gewerkschaften in dieser Frage geführt werden. Mit einem neuen »Burgfrieden« würden diese sich selbst ruinieren. Soll gegen den Terrorismus international nachhaltig etwas unternommen werden, so erfordert dies auch neue völkerrechtliche Verhältnisse, internationale Justiz und Polizei, unabhängig von machtstaatlichen Interessen der einzelnen Länder.

Die jetzt vorherrschende Kriegspolitik verhindert die Entwicklung solcher Strukturen, und die Verpflichtung der politischen Diskurse auf die »uneingeschränkte Solidarität« mit der Regierungspolitik der USA zerstört selbst das Nachdenken über Alternativen – bedeutet also den klammheimlichen Abschied von demokratischen Gepflogenheiten. Notwendig ist entschiedene Opposition.

Arno Klönne war Hochschullehrer in Paderborn.

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