25. Januar 2013 Christoph Lieber

»Eichmann denkt nicht« (Hannah Arendt)

Margarethe von Trottas Film reproduziert ein überholtes NS-Täterbild – ein Verbesserungsvorschlag in vier Szenen

Hannah Arendt, am 16. Oktober 1906 in Hannover geboren und in Königsberg in wirtschaftlich guten Verhältnissen aufgewachsen, Jüdin, Intellektuelle, Emigrantin, Staatenlose, Paria (wie sie sich selbst zu bezeichnen pflegte) und Autorin der »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« (1951/1955) vereinigt zentrale Insignien des kurzen 20. Jahrhunderts als eines »Zeitalters der Extreme« (Eric Hobsbawm) auf sich (siehe auch das aufschlussreiche Interview von Günter Gaus mit Hannah Arendt aus dem Jahre 1964 in der Textvariante; die Video-Varianten sind ebenfals auf Youtube zu sehen).

Von daher ist sie als Repräsentantin des Politischen Denkens im 20. Jahrhundert von Frank Deppe zu Recht in den Band über die Periode des »Kalten Krieges« und der »Systemkonfrontation« aufgenommen worden. »Sie personifizierte auf beeindruckende Weise jenen Typus der Intellektuellen, die ihre intellektuelle Autonomie als ›Freiheit des Denkens‹ zu bewahren verstehen.« (Deppe 2008: 81)

Gerade durch ihre ideologisch-politische Polyvalenz war Arendt in vieler Hinsicht anschlussfähig und erlebte nach 1989 für Gesamtdeutungen der Epoche sowie die Namensgebung von Instituten und Preisen ihr Revival. Die Offenheit ihres politischen Denkens brachte sie 1954 in einem Vortrag über die ernsthaften und folgenschweren Widersprüche, die seit dem Todesurteil der athenischen Polis über Sokrates zwischen der Philosophie und der Politik, zwischen der Sphäre des Denkens und der des Handelns besteht, auf den Punkt: »Die Fähigkeit zu sprechen und die Tatsache der menschlichen Pluralität entsprechen einander... Die Angst, sich zu widersprechen, ist die Angst, sich aufzuspalten, nicht länger einer zu bleiben ... Dies ist auch der Grund, warum die Pluralität der Menschen nie gänzlich abgeschafft werden kann und warum die Flucht der Philosophen aus dem Bereich der Pluralität immer eine Illusion bleibt.« (Arendt 1954/1990: 389) Mit ihrem Versuch, die Pluralität der denkenden Hannah Arendt auf die Geschichte ihres Eichmann-Buches zu reduzieren und kammerspielartig auf die New Yorker und Jerusalemer Bühne zu bringen, läuft die Filmemacherin Margarethe von Trotta aber Gefahr, der schon von ihrer Protagonistin gesehenen Illusion selbst zu erliegen, zumal bei ihrer filmästhetischen Maxime: »Ich wollte, dass der Zuschauer zu demselben Ergebnis kommt wie Hannah Arendt« (O-Ton Trotta) – zugespitzt in der Aussage: »Eichmann denkt nicht!« (O-Ton Arendt)

Nun ist das Denken selbst ein durch und durch sozialer Prozess – nur für die Nebenrolle im Film, den Philosophen Heidegger, »west« es in der Ein- oder höchstens Zweisamkeit des Seins. Holen wir also die soziale Dimension des Denkens zurück und setzen die Pluralität der in Trottas Film ausgeblendeten Kontexte der Geschichte des Eichmann-Buches in ihr filmszenisches Recht.

Klappe 1: Andere »Eichmänner« vom RSHA

Eichmann war für die Führung des NS-Terrorapparates eher untypisch und spielte wie die im Frankfurter Au­schwitz-Prozess angeklagten KZ-Aufseher in der Hierarchie des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) eine untergeordnete Rolle. Die Studien zu Werner Best, dem Stellvertreter Heydrichs, oder zum Führungskorps des RSHA insgesamt (vgl. Herbert 1996, Wildt 2002) eröffnen eine ganz andere Sicht auf den im deutschen Faschismus gewichtigen Tätertypus, die das durch Arendts Eichmann historiografisch allzu lange Zeit geprägte Bild des beflissenen Befehlsempfängers überholt.

Im Unterschied zum Ausbildungsabbrecher und einfachen Arbeiter Eichmann besaßen die Mitglieder dieser Gruppen einen in den 1920er Jahren der Weimarer Republik hochpolitisierten »generationellen Stil« von weltanschaulicher »Sachlichkeit« und waren politisch-ideologische Überzeugungstäter, die (be)dachten und wussten, was sie taten: »Im Jahre 1939 waren – bezogen auf Gestapo und SD – zwei Drittel dieser Männer jünger als 36 Jahre; beinahe ebenso viele hatten ein Universitätsstudium absolviert, die meisten in Rechtswissenschaft. Sie waren also deutlich jünger als die Führungsgruppen in Verwaltung, Wirtschaft und Wehrmacht und deutlich gebildeter als diejenigen der Partei« (Herbert 1996: 13, vgl. Wildt 2002: 74).

Und auch mit ihrer These fehlender Gewissensmaßstäbe und moralischer Orientierungen macht es sich Trottas Arendt zu einfach. Die gab es nämlich sehr wohl in einer »mörderischen Leistungsgesellschaft«, die der deutsche Faschismus auch war, wie ein dokumentarischer Bericht am Beginn der fast schon wieder in Vergessenheit geratenen Studie über »Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust« zeigt. Der Verfasser von »Hitlers willige Vollstrecker«, Daniel J. Goldhagen (1996), berichtet darin, wie ein Hauptmann Wolfgang Hoffmann, Chef des Polizeibataillons 101 und ein fanatischer Judenmörder, seine schriftliche Befehlsverweigerung mit dem Argument begründet, »es erscheint mir als Zumutung, dass von einem anständigen Deutschen und Soldaten verlangt wird, dass er eine Erklärung unterschreiben soll, in der er sich verpflichtet, nicht zu stehlen, zu plündern und ohne Bezahlung zu kaufen«. Die Befolgung der deutschen Normen von Moral und Haltung beruhe »auf innerer Freiwilligkeit und wird nicht aus Sucht nach Vorteilen oder aus Furcht vor Strafe begründet« (zit. ebd. 15).

Diesen »gordischen« Knoten von Mentalitäten, Moralvorstellungen, (klein)bürgerlicher Achtung der Eigentumsgesetze und Vernichtungshandeln mit der »Banalität des Bösen« lösen zu wollen, wäre zu einfach. Dazu bedarf es der Weitung des gesamtgesellschaftlichen Blicks, und dafür steht das Lebenswerk von Raul Hilberg (1926-2007), der es vermochte, »das gesamte Geschehen als Mosaik aus kleinsten Einzelteilen zu sehen, die für sich betrachtet gewöhnlich und nichtssagend sind«. In Letzterem bestand die Erkenntnisschranke bei Hannah Arendt.

Klappe 2: Im und aus dem Schatten Arendts: Raul Hilberg

Für Hilberg »unterschied sich die Vernichtungsmaschinerie nicht grundlegend vom deutschen Gesellschaftsgefüge insgesamt; der Unterschied war lediglich ein funktioneller. Die Vernichtungsmaschine war in der Tat nichts anderes als eine besondere Rolle der organisierten Gesellschaft.« (Hilberg 1990: 1061f.) Im Unterschied zum öffentlichen Ansehen und publizistischen Erfolg der Philosophin aus New York musste der in Wien geborene, in die USA emigrierte und dort beim Autor des »Behemoth«, Franz Neumann, studierte Politikwissenschaftler fast 20 Jahre warten, bis seine Studien aus den 1950/60er Jahren ins Deutsche übersetzt wurden und er die ihm gebührende Anerkennung in der Faschismus- und Holocaustforschung erfuhr.

Auch dieses tragische Timelag, das fast traumatisierend über Hilbergs Forscherbiografie lag, hat (in)direkt mit der Verfasserin der »Banalität des Bösen« zu tun. Sie kannte Hilbergs Studie in der englischen Originalausgabe und erwähnt sie auch in ihrem Eichmann-Buch. Dennoch distanziert sie sich zugleich in einem Brief an ihren Freund Jaspers: »Er ist ziemlich dumm und verrückt. Er faselt jetzt vom ›Todeswunsch‹ der Juden. Sein Buch ist wirklich ausgezeichnet, aber nur weil er eben einfach berichtet. Ein allgemeineres, einführendes geschichtliches Kapitel ist unter der gesengten Sau.« (20.4.1964)

Einem Brief in den nachgelassenen Arendt-Akten entnahm Hilberg später auch noch, dass Arendt mit der Begutachtung seines Manu­skripts für einen amerikanischen Verlag beauftragt war. Und den Abbruch einer frühen deutschen Ausgabe von »Vernichtung der europäischen Juden« im Droemer-Knaur Verlag nach 300 Seiten Übersetzung im Jahr 1964 versucht der Autor Hilberg sich so zu erklären: Ein Grund »lag vielleicht darin, dass mittlerweile Hannah Arendts Eichmann-Buch erschienen war und heftige Kontroversen ausgelöst hatte, dass man sich also etwas Ähnliches mit meinem Buch ersparen wollte« (Hilberg 1988: 540).

Diese Kontroversen hatten in der damaligen Zeit der Verjährung bzw. Fortsetzung von NS-Prozessen sowie auf dem Gebiet der Forschung, zu der auch die Studien des in Wien geborenen US-Psychoanalytikers Bruno Bettelheim (1903-1990), selbst als Jude im KZ Dachau und Buchenwald inhaftiert, gehörten, eine Reihe von Gründen, die Trotta filmisch allerdings allein auf die Figur Arendt fokussiert.

Auch hier brächte eine Öffnung der Szene mehr an Er- und Aufklärung, wie aus einer brieflichen »Kriegserklärung« des damaligen Präsidenten des Leo-Baeck-Instituts im Namen des Council of Jews from Germany, Siegfried Moses, einem alten Bekannten von Arendt, hervorgeht: »Liebe Hannah, ... Wie ich höre, haben Sie vorausgesehen, dass Ihre Aufsätze im ›New Yorker‹ bei den Juden ein negatives Echo finden würden... Ich kam nach New York mit dem Entwurf eines Statement, in dem sich nach meinem Vorschlag der Council of Jews from Germany gegen die in dem Hilbergschen Buch und in den von Bettelheim veröffentlichten Aufsätzen enthaltene Darstellung wenden sollte. Nun muss die Abwehr des Council sich in erster Reihe gegen Ihre Aufsätze richten.« (zit. in Naumann 1994: 72)

Auch für diesen Vorgang gilt, was Hilberg über die Wirkmächtigkeit von Arendts Bericht erinnert: »Der Untertitel von Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem lautet Ein Bericht von der Banalität des Bösen und besitzt die seltene Kraft, stärker im Gedächtnis haften zu bleiben als der Haupttitel.« (Hilberg 1994: 129)

Klappe 3: Arendt und ihr »Lektor« Dr. Hans Rößner

An ihren väterlichen Jugendfreund aus den Tagen ihres zionistischen Engagements, Kurt Blumenfeld, der auch in Trottas Film eine prominente Rolle spielt, schrieb Hannah Arendt: »In Berkeley, wo ich den Namen der Rosa Luxemburg nie erwähnte (schon weil ich annahm, dass ihn niemand kennt), haben mir die Studenten auf einer besoffenen Party erzählt, dass sie unter sich gesagt hätten: Die Rosa ist wiedergekommen. Ganz junge Menschen. Großes Kompliment.« (31.7.1956)

Hier wird in den USA der McCarthy-Zeit und zu Beginn des Kalten Krieges ein Stück deutscher politischer Geschichte erinnert und aktualisiert, die auch von Trotta in ihrem Film »Rosa Luxemburg« 1986 auf die Leinwand gebracht hat. Die Pflege einer solchen Erinnerungskultur war allerdings in der Nachkriegsgeschichte, zumal der deutschen, keineswegs selbstverständlich oder gar gesichert, wofür ja lange Zeit der Topos der »Unfähigkeit zu trauern« – und damit zu erinnern – steht.

Arendts Eichmann-Buch ebenso wie ihr Buch über Rahel Varnhagen, Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1959) – selbst ein Beitrag zur Erinnerungskultur – wurden in jenen Jahren im Münchner Piper-Verlag vom Lektor Dr. Hans Rößner (1910-1997) betreut. Dieser war nach dem Studium in Deutsch und Geschichte Universitätsassistent, der mit seinem Bonner Dekan 1936 die Aberkennung der Ehrendoktorwürde Thomas Manns betrieb, danach SS-Obersturmbannführer und leitender Referent für Volkskultur und Kunst im RSHA-Amt III. Nach Abgeltung einer Geldstrafe für SS- und SD-Mitgliedschaft durch Anrechnung einer Internierungshaft nach 1945 versuchte er als Lektor die Fortsetzung seiner »sprachpflegerischen Arbeit« aus RSHA-Zeiten, indem er seiner Autorin ebenso nahelegte, auf das Wort »Jüdin« im Untertitel zu verzichten, wie er auch »fünf Wochen nach Hannah Arendts Tod am 12. Januar 1976 auf die Frage, ob es einen Nachdruck von ›Eichmann in Jerusalem‹ geben solle, entschied: ›Keine Nachauflage‹.« (Wildt 2002: 813)

Wie kann eine Filmemacherin von »Die bleierne Zeit« darauf verzichten, diese Zumutung in Szene zu setzen und damit in ihrem Arendt-Film jenseits der New York-Szenerie auch an das damalige »Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten« zu erinnern?

Klappe 4: Martin Walser trifft Martin Heidegger

Kommen wir zu unserem letzten Szenenvorschlag.[1] Arendt »denkt« in Trottas Film mit der Hypothese, Denken ermögliche Gewissen – an beidem mangelte es dem Täter Eichmann. Aber reicht dieser Konnex für sich oder geht es auch hier um die soziale Dimension des Denkens?

Arendt ging 1924 an die Universität Marburg, um bei dem Philosophen Martin Heidegger das »Denken« zu lernen – im Film eher eine »intime« Angelegenheit, obwohl ansonsten die Protagonistin, wenn sie nicht gerade auf dem Sofa denkt, durchaus öffentlich, inmitten ihres New Yorker Tribe, vor Studenten, der Universitätsleitung oder Vertretern des Jewish Council denkt und streitet – und selbst ihren »Lehrer« angeht, sich zu seinem Denken während der Zeit des Faschismus »öffentlich zu erklären«.

Auch wenn Hannah Arendt selbst in ihrer intellektuellen Biographie zwischen Öffentlichkeit und Einsamkeit des Denkens changiert, ist ihr »Erstkontakt« hier eindeutig. Seinen berühmt-berüchtigten »Brief über Humanismus« von 1949 eröffnet Heidegger mit dem Befund, philosophisches Denken, ein Bildungsmedium des bisherigen Humanismus, sei im öffentlichen Schul- und Kulturbetrieb zu einer bloßen Technik des Erklärens verkommen: »Man denkt nicht mehr, sondern man beschäftigt sich mit ›Philosophie‹... So kommt die Sprache unter die Diktatur der Öffentlichkeit.« (Heidegger 1949: 9)

In seiner Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche am 11.10.1998 gegen das dauernde »Auschwitzgerede« in den deutschen Geschichtsdebatten versicherte sich der »Sprachmensch« Martin Walser in Gewissensfragen konsequent bei dem ausgemachten Verächter moderner Öffentlichkeit, dem Sprachhüter Heidegger. Dessen in der deutschen Nachkriegszeit lange dominierende innere Einsamkeit des Gewissens hat jedenfalls keine gesellschaftliche Unruhe hervorgebracht. Das war das Verdienst seiner »Schülerin«.

Zumindest das filmisch in Szene gesetzt zu haben, ist Margarethe von Trotta gelungen. Das lohnt einen Kinobesuch!

Literatur
Arendt, Hanna (1954/1990): Philosophie und Politik, dt. Erstübersetzung in: DZfPh, Heft 2/1993
Arendt, Hannah/Jaspers, Karl (1993): Briefwechsel 1926-1969, München
Arendt, Hannah/Blumenfeld, Kurt (1995): »...in keinem Besitz verwurzelt«. Die Korrespondenz, Hamburg
Deppe, Frank (2008): Politisches Denken im Kalten Krieg, Teil 2: Systemkonfrontation, Golden Age, antiimperialistische Befreiungsbewegungen, Hamburg
Goldhagen, Daniel J. (1996): Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin
Heidegger, Martin (1949): Über Humanismus, Frankfurt a.M.
Hilberg, Raul (1988): Das Schweigen zum Sprechen bringen. Gespräch mit Alfons Söllner über Kontinuität und Diskontinuität in der Holocaustforschung, in: Merkur, Heft 7
Hilberg, Raul (1990). Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt a.M. (amerik. Originalausg. 1961, dt. Erstausg. 1982)
Hilberg, Raul (1994): Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers, Frankfurt a.M.
Herbert, Ulrich (1996): Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn
Naumann, Klaus (1994): Sympathy for the Devil? Die Kontroverse um Hannah Arendts Prozessbericht »Eichmann in Jerusalem«, in: Mittelweg 36, Heft 1
Wildt, Michael (2002): Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichsicherheitshauptamtes, Hamburg

Christoph Lieber ist Redakteur von Sozialismus.

[1]  Ein möglicher fünfter Szenenvorschlag ist schon dokumentarisch verfilmt: Der Niederländer Willem Sassen (1918-2001), Mitglied der Waffen-SS und späterer PR-Berater für den chilenischen Diktator Pinochet, hatte im Fluchtland Argentinien in den Jahren 1956-1960 Gespräche mit Eichmann für ein mögliches Buchprojekt über dessen RSHA-Tätigkeit geführt, die ein ganz anderes Licht auf den »Mann im Glaskasten« werfen.

Zurück