1. Juli 2008 Ulrich Meinecke

Ein Jahr Tarifkampf im Einzelhandel

Seit dem Frühjahr 2007 kämpft ver.di für einen Flächentarifvertrag im Einzelhandel. Die Forderungen sind bescheiden. Im Kern geht es um eine normale Lohnerhöhung – alles andere soll unverändert bleiben.[1] Die Arbeitgeber fordern als Vorbedingung für jede Lohnerhöhung die Streichung der Zuschläge für ungünstige Arbeitszeiten in der Woche ab 18:30h und am Samstag sowie die Absenkung der Nachtzuschläge. Bis Mitte Juni 2008, ist kein Durchbruch in Sicht. Was sind die Ursachen, welches die Lehren?

1989 hatten wir das ganztägige Streiken gelernt. Seither ist es uns gelungen, mit punktuellen Tages- und auch Mehrtagesstreiks in ausgewählten Betrieben ansehnliche Tariferfolge zu erzielen: Während anderswo Zuschläge gestrichen wurden, führten wir sie für besonders belastende Arbeitszeiten am Abend und am Samstag neu ein. Unsere Lohn­erhöhungen konnten mithalten mit den Abschlüssen in der Industrie, manchmal lagen wir sogar darüber. Allerdings stellten sich die Arbeitgeber zunehmend auf unsere Streiktaktik ein: Geschlossene Häuser während eines Streiks gelangen uns immer seltener.

Vom "betreuten" zum selbstorganisierten Streik

Spätestens 2005 hatte sich das Blatt gewendet. In einer zehnmonatigen Tarifrunde mussten wir erfahren, dass wir die Durchsetzungskraft nicht halten können, wenn wir unsere Streikfähigkeit nicht qualitativ weiterentwickeln. Zwar gelang es 2005/6 noch, Tariföffnungsklauseln und Eingriffe in das tarifliche Urlaubs- oder Weihnachtsgeld abzuwehren – die Tariferhöhung war indes eine reine Demütigung: 1% für 24 Monate, garniert mit zwei Einmalzahlungen.

Wir lernten unsere Lektion und bereiteten uns systematisch auf die Tarifrunde 2007 vor. Unser Ziel: Vom "betreuten Streiken" (vor jedem Betrieb viele hauptamtliche Streikhelfer und -leiter) zum selbstorganisierten Streik. Wir wollten fähig werden, in allen bisherigen Streikbetrieben zugleich, länger und wiederholt zu streiken. Und wir wollten neue Streikbetriebe hinzu gewinnen. Inspiriert durch zwei Organizing-Projekte in Hamburg gewannen wir in vielen Betrieben Aktive, die Träger der Streiks wurden. Wir schulten sie in Fragen der Gesprächsführung und der Streikorganisation und gewannen so eine verbreiterte gewerkschaftliche Basis im Betrieb. Im Ergebnis haben wir in den letzten zwölf Monaten eine Streikbewegung hingelegt, die qualitativ und quantitativ alles Bisherige in den Schatten stellt. 180.000 Streikende bundesweit sind ein wirklicher Erfolg.

Allerdings hatten wir in den einzelnen Regionen unterschiedliche Streikhöhepunkte und zu unterschiedlichen Zeitpunkten das jeweilige "Streik-Coming-Out". Auch unsere Fähigkeit, einzelne Konzerne bundesweit und systematisch gemeinsam unter Wind zu nehmen, beinhaltet – positiv formuliert – erhebliches Entwicklungspotenzial.

Seit Beginn der 1990er Jahre betreibt die Einzelhandels-Branche eine nahezu selbstmörderische Flächenexpansion, die zu erheblichen Überkapazitäten an Verkaufsfläche geführt hat. Dies ist Ausdruck eines scharfen Wettbewerbs, der auch über die Öffnungszeiten ausgetragen wird – der eigentliche Treiber bei der Abschaffung des Ladenschlussgesetzes und des Drucks auf den arbeitsfreien Sonntag im Handel.

Die Aufstellung der Arbeitgeber

Die Interessenslage der Händler ist höchst unterschiedlich. SB-Warenhäuser, Discounter und weitere, besonders preis­aggressive Vertriebszweige zeigen ein starkes Interesse an späten Öffnungszeiten und an der Abschaffung auch der Nachtzuschläge. Klassische Warenhäuser sowie beratungs- und bedienungsintensive Geschäfte interessieren sich eher für die Abschaffung der Spätzuschläge zwischen 18:30h und 20h sowie der Samstagszuschläge. Der mittelständische Einzelhandel, der sich an längeren Öffnungszeiten kaum beteiligt, und der Versandhandel haben eher Sorge, dass sie eine mögliche Kompensation für abgeschaffte Zuschläge mittragen müssen, obwohl sie bisher gar keine zahlen müssen. Die Forderung nach Abschaffung oder Senkung der Zuschläge entzweit also die Arbeitgeber.

Zudem organisieren sie sich in zwei unterschiedlichen Verbänden: Den HDE (Hauptverband des deutschen Einzelhandels) dominieren der Metro- (Real, Kaufhof, Media/Saturn) sowie der Rewe-Konzern (Toom, Penny, Rewe). Die BAG (Bundesvereinigung der Mittel- und Großbetriebe des Einzelhandels) dominieren Arcandor (Karstadt, Quelle) und Otto. Bedeutende, teilweise expandierende Unternehmen, wie Hennes & Mauritz, Lidl, Aldi, Ikea nehmen in den Verbänden keine erkennbar aktive Rolle ein. Eine größer werdende Anzahl von Unternehmen ist überhaupt nicht tarifgebunden, teilweise indem sie eine Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT) eingehen, wie z.B. Peek & Cloppenburg.

Die Unternehmen, die im Arbeitgeberverband den Ton angeben, stehen in Deutschland aufgrund der Überkapazitäten erheblich unter Druck. Hierzu zählen z.B. die Metro-Tochter Real und der Arcandor-Konzern. Beide erweisen sich als Hauptblockierer, obgleich ver.di gut in ihnen organisiert ist. Metro und Arcandor sind allerdings weniger streiksensibel, da ihre Logistik nicht zum selben Tarifgebiet gehört: Im Rahmen des Karstadt-Sanierungsprozesses hat Arcandor seine Konzernlogistik an DHL verkauft und die Metro-Logistik befindet sich teilweise im Tarifgebiet Großhandel, teilweise gelten Haustarife.

Der Metro-Konzern hat sich auf besondere Weise auf Streiks im Verkauf eingestellt. Bereits Anfang 2007 wurden Leiharbeitsfirmen als Streikbruchdienstleister engagiert. Jeweils kurz nach Streikbeginn besetzen LeiharbeitnehmerInnen die Kassen in den Real-Märkten. Auf diese Strategie fehlt uns derzeit eine wirksame Antwort. Teilweise solidarisierten sich KundInnen mit den Streikenden, indem sie in großer Zahl vollgepackte Einkaufswagen im Laden stehen ließen, um den Geschäftsbetrieb von dieser Seite zu stören – in Berlin erwirkten die Arbeitgeber eine einstweilige Verfügung gegen ver.di, mit der uns der Aufruf zu derartigen flash-mob-Aktionen untersagt wird.

Zwischenbilanz im Juni 2008

In vielen Betrieben ist es gelungen, tatsächlich selbstorganisiert, wiederholt und in vielen Betrieben zugleich zu streiken. Einige Unternehmen haben wir damit derart unter Druck setzen können, dass sie einlenken mussten. Erstes und prominentestes Beispiel ist der Rewe-Konzern. Nach einem koordinierten Streik in den norddeutschen Lägern und den Penny-, Rewe- und Toom-Filialen wurde in den Filialen allmählich der Hagelzucker knapp – in der Vorweihnachtszeit! – und die Verantwortlichen zogen die Reißleine. Rewe versuchte zunächst in Hamburg – dort stellt REWE den Verhandlungsführer –, einen Flächenabschluss zu erzielen. Dies scheiterte an den Arbeitgeber-Kollegen Metro und Arcandor. Daraufhin bot Rewe einen Vorschalttarif an, der im April 2008 abgeschlossen wurde.

Im Arbeitgeber-Lager führte dies zu wütenden Protesten. Metro-Vertreter Marschaus bezeichnete den Rewe-Vorstoß öffentlich als "Schurkenstück" – ein deutlicher Hinweis auf die Zerrissenheit des Arbeitgeber-Lagers.

Der Rewe-Abschluss erfüllte die Beschäftigten mit Stolz, hatten sie ihn doch direkt für sich selbst erkämpft. Positiv ist der Erhalt der Zuschläge bzw. die Sonderzahlung. Von der materiellen Seite her ist er eher dürftig. Mit dem Abschluss schieden die Rewe-Beschäftigten aus den Arbeitskämpfen aus, seit April 2008 besteht für sie Friedenspflicht.

Es folgten eine Reihe von Unternehmen, die unter Streikdruck oder aus Anstand nachzogen: Als erstes ein Hamburger Edeka-Einzelhändler, der einen inhaltsgleichen Vorschalttarif mit ver.di abschloss. Unternehmen wie Aldi, Ikea, Otto zahlen inzwischen 3% mehr, bei Beibehaltung der Zuschläge. Alle drei Unternehmen hatten Lager-Streiks hinter sich. Die Liste ließe sich verlängern.

Fazit: Trotz Steigerung der Streikfähigkeit und Durchsetzung von Entgelt­erhöhungen sind wir weit von einem Flächentarifabschluss entfernt. Wir müssen uns neu aufstellen, um in dieser Tarifauseinandersetzung und in Zukunft wieder durchsetzungsfähiger zu werden.

<fieldset style="padding:7px; border:1px dotted #000000;">Eckpunkte des Rewe-Vorschalttarifvertrags
– 400 Euro rückwirkend für 2007 (April bis Dezember, Azubis die Hälfte).
– 3% lineare Erhöhung ab 1.1.2008.
– Beibehaltung der Nachtzuschläge von 50%.
– Beibehaltung der Spätöffnungszuschläge montags bis freitags ab 18:30h in Höhe von 20%.
– Samstagszuschläge an allen Samstagen ab 18:30h (bisher waren die Adventssamstage und in einer Reihe von Bundesländern weitere Samstage von Zuschlägen ausgenommen; je nach Bundesland begannen die Zuschläge bisher zwischen 14:30h und 15:30h). Als Kompensation dafür Einführung einer zusätzlichen Sonderzahlung von 12,5 Prozentpunkten ab 2009.
– Einführung einer veränderten Urlaubsstaffel, die den jüngeren Beschäftigten sofort mehr Urlaub bringt.
– Der Vorschalttarif regelt zugleich, dass und wie er in einen Flächentarif überführt wird und stellt somit ausdrücklich keine Alternative, sondern einen Weg zum Flächentarif dar.
– Laufzeit 24 Monate.</fieldset>

Schafft ein – zwei – drei – viele Rewes!

Ein "weiter so" ist nicht möglich. Die Arbeitgeberverbände erscheinen einigungsunfähig und zeigen sich von unseren intensivierten Streiks bisher unbeeindruckt, jedenfalls äußerlich. Wir ändern jetzt unsere Strategie (hätten dies schon im Januar tun sollen) und gehen einen Umweg zum Flächentarifvertag: Nach dem Motto "Ein, zwei, drei, viele Rewes" fordern wir weitere Unternehmen auf, inhaltsgleiche Vorschalttarife mit uns abzuschließen, die wir dann zum neuen Flächentarif bündeln können. Dies gibt uns wenig Verhandlungsspielraum, da die Eckpunkte (Zuschlagsregelung, 3% Sonderzahlung, Urlaub) am Ende in allen Fällen identisch sein müssen, damit sie "bündelbar" bleiben. Derzeit bilden wir in einer Reihe von Unternehmen Haustarifkommissionen, die diese Verhandlungen mit den Unternehmens-Vorschalttarifen führen und zugleich ihren unternehmensweiten Arbeitskampf planen und durchführen sollen.

Wir versprechen uns davon zusätzlichen Streikschwung, da sich die Unternehmensleitungen, z.B. von Hennes & Mauritz, nicht mehr hinter ihrem Verband verstecken können, sondern autonom handlungsfähig sind. Die Beschäftigten kämpfen dabei vordergründig zunächst für sich (und manch eine/rkämpft da eher). Und sie tun dies im Rahmen der Strategie "auf dem Umweg über Vorschalttarife zum Flächentarif".

Real, Kaufhof und Karstadt erhalten keine Aufforderung zum Vorschalttarif und damit die Chance zum Ausstieg aus der Tarifrunde. Sie sind es, die jederzeit einen Flächentarifvertrag in den Verbänden ermöglichen können. Bei Karstadt, Real und Kaufhof haben wir nun bundesweit koordinierte Arbeitskämpfe zu führen, die die Konzerne besser treffen als bisher. Auf dem Weg zur Bildung zentraler Konzern-Arbeitskampfleitungen sind wir derzeit bei Karstadt am Weitesten.

Unser "Umweg-Konzept" beinhaltet auch das Kalkül, dass die Arbeitgeberverbände aufgrund des drohenden Bedeutungsverlustes als Tarifträger einlenken und an den Verhandlungstisch für den Flächentarif zurückkehren. Indem wir den Umweg beschreiten, erhöhen wir zugleich die Chancen, auf dem direkten Weg zum Ziel zu kommen. Die Vorschalttarifkommissionen in den Unternehmen liefern uns zugleich ehrenamtliche Vernetzungen, die zur Basis unserer Kampfkraft der Zukunft werden.

Falls uns in diesen Sommermonaten der Durchbruch nicht gelingt, wird die Einzelhandelsfrage zu einer Frage für Gesamt-ver.di. Diese Branche steht exemplarisch für die Durchsetzungsfähigkeit von ver.di im privaten Dienstleistungsbereich. Ab Herbst wird diese Tarifrunde deshalb zum Anliegen der Gesamtorganisation und ihrer Bündnispartner. Kernelement sind die Einbeziehung von ver.di-Mitgliedern aller Fachbereiche, der KundInnen sowie eine systematische Orientierung der Öffentlichkeit auf den Skandal, dass über 2 Mio. Beschäftigten, die nicht zu den Höchstverdienern gehören, ein Tarifabschluss verweigert wird. Das Markenimage der Hauptquertreiber im Arbeitgeberlager könnte so durch ihr Sozialimage "ergänzt" werden.

Zukunftsaufgaben im Einzelhandel

Unsere Erfahrungen in dieser Tarifrunde weisen über den Tag hinaus. Wir haben neue Stärken entwickelt. Zugleich wird deutlich, was wir nach Abschluss dieser Tarifrunde zu tun haben:
1. Wir benötigen eine systematische Analyse, ein Kataster der neuralgischen Punkte der wichtigsten Konzerne: Wie verlaufen deren Warenströme? Wo sind sie am wirksamsten zu treffen? Wie sind wir dort organisiert? Welche Tarife gelten?
2. Feststellen der Betriebsstätten der maßgeblichen Konzerne und ihrer Zulieferer, an denen wir mit den geringsten Mitteln den größten ökonomischen Schaden erzielen können, aber auch denjenigen, bei denen wir den größten Imageschaden erreichen. Diese Betriebe sind mit Organizing-Projekten an die Arbeitskampffähigkeit heranzuführen.
3. Um den Einzelhandel entlang seiner Lieferketten treffen zu können, bedarf es formeller Streikvoraussetzungen in den entsprechenden Betrieben. Die Tariflaufzeiten sind aufeinander abzustimmen – im Großhandel und in weiteren wichtigen Betrieben der Lieferkette wird nicht vor dem Einzelhandel abgeschlossen. Alternativ sind Solidaritätsstreiks oder Zusatzforderungen in den jeweiligen Tarifgebieten denkbar, um aus der Friedenspflicht herauszukommen: Erholungsbeihilfe, Fahrgeldzuschuss – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
4. Die formaljuristische Streikmöglichkeit ist das eine – die subjektive Bereitschaft, für KollegInnen in einer Nachbarbranche zu streiken ohne unmittelbaren Eigennutzen das zweite. Dies exemplarisch und dann flächendeckend zu entwickeln, scheint mir die eigentliche Herausforderung. Als wir verdi gründeten, war genau dies unser Traum: Alle sollten künftig miteinander und füreinander einstehen, die Verkäuferin mit der Stewardess und dem Müllwerker. An uns ist es, ihn zu verwirklichen.
5. Wenn unsere Analyse lautet: Karstadt, Real, Kaufhof sind die Hauptquertreiber, dann müssen wir den Mut entwickeln, trotz regionaler Tarifzuständigkeiten bundesweite zentrale Streikleitungen zu bilden und deren Beschlüssen zu folgen. Unser Hang zum Regionalismus im Fachbereich Handel und unsere Sorge vor der Abgabe von Kompetenzen an die "Zentrale" stehen uns hier ernsthaft im Wege.
6. Schließlich müssen wir an die expandierenden Trendsetter der Branche herankommen, egal, ob tarifgebunden oder nicht. Derzeit sind wir eher bei den wirtschaftlich schwachen Unternehmen stark und bei den wirtschaftlich starken schwach. Dies können wir mit gezielten Organizing-Projekten ändern und uns ein Unternehmen nach dem anderen vornehmen.

Zwischen 2005 und heute sind wir qualitativ streikfähiger geworden. Nun gilt es, diese neue Kraft gezielter und punktgenauer einsetzen zu lernen, und dabei die großen Chancen zu entwickeln, die ver.di prinzipiell bietet. Auf diesem Weg werden wir zu neuer Stärke finden.

Ulrich Meinecke ist ver.di-Landesfachbereichsleiter Handel in Hamburg, Verhandlungsführer im Einzel- und Großhandel.

[1] In einigen Bundesländern fordern wir außerdem einen Sicherheitstarifvertrag, mit dem die Beschäftigten z.B. besser gegen Überfälle geschützt werden.

Zurück