1. Dezember 2008 Ingar Solty

Ein neuer New Deal?

Mit der Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten endet vorerst eine spezifische Phase der US-Politik: das autoritär-marktliberal-imperialistische Projekt der Bush-Administration. Dass dieses Projekt scheiterte und die Bearbeitung der neoliberalen Widersprüche von rechts einstweilen zu Ende ist, ist ein nicht gering zu schätzendes Ergebnis dieser Wahl.

Gleichzeitig darf man sich nichts vormachen: Die Krise, die dieses Projekt zu lösen suchte und stattdessen verschärfte – der relative Niedergang der USA in der globalen politischen Ökonomie – besteht fort.[1] Sie muss jetzt bloß auf andere Weise gelöst werden. Eine Möglichkeit wäre die Wiederherstellung der US-Hegemonie nach innen und in der Weltordnung durch einen (globalen) neuen New Deal. Damit könnte eine Wende weg von der "Akkumulation durch Enteignung" hin zu einer "Akkumulation durch erweiterte Reproduktion" im Sinne von David Harvey einhergehen.

Das Ende der Bush-Administration und die Niederlage des republikanischen Kandidaten John McCain, der sich wie Obama als ein Kandidat des Wandels zu inszenieren versuchte, ist mehr als nur eine Wahlniederlage: Es ist eine Hegemoniekrise des (Neo-)Konservatismus mit einer potenziell langen Halbwertszeit. Das Scheitern des Rechtsprojekts spiegelt sich im immensen Verlust seiner innenpolitischen Mehrheitsfähigkeit wider. Zum Amtsantritt Bushs waren 44% der Bevölkerung mit der Lage der Nation unzufrieden. Der nach innen einigende Kriegsbeginn gegen den Terrorismus im Oktober 2001 ließ den Anteil der unzufriedenen Bevölkerung auf 29% zusammenschmelzen. Seit März 2008 indessen finden durchgehend mehr als vier Fünftel der US-Bevölkerung die Nation "on the wrong track". In diesem Kontext ist der Vertrauensvorschuss für Obama enorm. Seine Machtfülle ist mit den demokratisch kontrollierten beiden Kammern des Kongresses ebenfalls groß. Bill Clintons Sozialabbau war auch durch die Gingrich-Revolution der Republikaner im Kongress 1994 bedingt.

In der Bewertung der historischen Möglichkeiten der Obama-Administration sind zwei Positionen zu vermeiden: die der blind-projizierenden und passiven Euphorie einerseits und andererseits eine sektiererische, die die reale Öffnung der Hegemonialkonstellation in den USA verschläft oder altklug und besserwisserisch torpediert.

In einer Situation größter ökonomischer, politischer und ideologischer Umbrüche ist in den USA mit einer Botschaft des "Wandels" ein charismatischer Herrscher und Repräsentant der real­existierenden "Linkspartei" in den USA ins Weiße Haus eingezogen. Diese Situation steckt durchaus voller Möglichkeiten. Schließlich bietet die gegenwärtige Gemengelage Chancen der Einflussnahme auf die neue Regulation des High-Tech-Kapitalismus. Die Situation birgt allerdings auch Gefahren. Für die Linke stellt sich die Frage, wie sie sich zu den sich abzeichnenden Veränderungen politisch verhalten soll.

Eines steht dabei fest: Sie tut dies nicht aus einer Position der Stärke heraus. Die Krise des Neoliberalismus und die gegenhegemoniale Formierung befinden sich in einem Zustand der Asynchronie. Barack Obamas Präsidentschaft ist nicht das Resultat einer Klassenmobilisierung, sondern das der Krise des US-Finanzmarktkapitalismus und -Imperialismus. Die spontane Mobilisierung zugunsten einer charismatischen Führungsgestalt als Projektionsfläche war zwar bemerkenswert, darf jedoch nicht überbewertet werden. Die Entscheidungen über den Umgang mit der Krise werden unter Ausschluss der Linken getroffen. Es sind die alten ökonomischen und politischen Eliten, die sich mit verschiedenen Ansätzen im Versuchsverfahren durch die tiefe Krise wurschteln. Für die Arbeiterbewegung sind sie zunächst eine passive Revolution. Sowohl Krise als auch Lösungsansätze werden von außen an sie herangetragen und zwingen sie zum Reagieren.

Rückkehr des Staates

Gegenwärtig erleben wir eine tiefe Krise der Marktideologie und die Rückkehr des Staates. Dabei ist augenblicklich der neue Staatsinterventionismus im Prinzip ohne Opposition. Stellten sich vor der Wahl noch zahlreiche republikanische Kongressabgeordnete aus orthodox-neoliberaler Überzeugung lautstark gegen den "Sozialismus" des 700 Mrd.-US-Dollar-Plans, lassen sich im gegenwärtigen Diskurs in den USA so gut wie keine Marktfanatiker mehr finden. Auch die rechtslibertären Freiwirtschaftler und Steuerhasser verhalten sich angesichts der Krise und der Unmöglichkeit, sie ohne Eingriffe des Staates zu beheben, bemerkenswert still. Der Ende der 1990er Jahre totgesagte Staat ist also am Ende der 2000er Jahre zurück. Die Frage ist, welcher Staat mit Obama zu machen sein wird.

Während des Wahlkampfes verschob sich Obamas wirtschaftspolitische Orientierung nach rechts. Immer stärker zeichnete sich ab, dass er Clintons neoliberale Politik des ausgeglichenen Staatshaushaltes fortzuführen gedachte. Dasselbe Personal (Paul Volcker, Robert Rubin) oder jüngere gemäßigte Neoliberale (Austan Goolsbee, Jason Furman, Jeffrey Liebman) wurden in seinen Beraterstab aufgenommen und bereiten sich jetzt auf das Krisenmanagement vor. Antineoliberale wie James K. Galbraith und Jared Bernstein spielen eher an der Peripherie seines Teams eine Rolle. Wird Obama damit am Goldenen Kalb des Fiskalkonservatismus festhalten? Und gibt er damit seine fortschrittlichen Wahlversprechen auf – die Besserstellung der Arbeiterklasse und Mittelschicht, ein funktionierendes Gesundheitssystem und die Energiewende, die nicht durch eine bloße Zurücknahme der, laut Obama-Berater David Axelrod ohnehin bereits auf 2010 verschobenen, regressiven Steuerpolitik Bushs zu erreichen sind? Das würde seine Legitimität schnell untergraben. Oder nutzt er die Situation der Unschlüssigkeit innerhalb der kapitalistischen Klasse und knüpft ein Bündnis aus den verschiedenen Kräften einschließlich der Gewerkschaften und dem binnenmarktorientierten Kapital, die immer stärker F.D. Roosevelt beschwören und einen neuen New Deal fordern?[2]

Die nächsten Wochen und Monate dürften entscheidend sein für die Frage, welche grundsätzliche Richtung Obama einschlagen wird. Die jüngste Ankündigung, dass er die Wiederankurbelung der Wirtschaft und die Energiewende nun doch für entscheidender hält als den Ausgleich des Staatshaushaltes, dass er bis 2011 plötzlich zwischen 500 und 700 Mrd. US-Dollar in die Infrastruktur investieren will und dass er sich überdies – wie bspw. in seiner Radioansprache vom 22. November – weiter als mutiger Reformpräsident inszeniert, könnten darauf hindeuten, dass Obama der Versuchung, ein Clinton II zu sein, doch noch widersteht. Dabei treibt ihn die Tiefe der Krise. Angesichts des konjunkturellen Versickerns der staatlichen Direktmittel an die Banken und des Verpuffens der dramatischen Leitzinssenkungen und bei der Aussicht auf ein Negativwachstum von 0,7% im nächsten Jahr mit einem dementsprechenden Anschwellen der Arbeitslosigkeit wäre eine Politik des ausgeglichenen Staatshaushalts genauso unhaltbar wie potenziell verheerend. Da die Wirtschaft auf eine deflationäre Entwicklung zusteuert, muss der Staat für Beschäftigung sorgen. Dies gilt umso mehr, da die Haushaltskrise der Kommunen und Einzelstaaten bereits jetzt gegen das schwache Konjunkturprogramm wirkt, da die subnationalen öffentlichen Haushalte sich vor "Reichensteuern" zieren und der Finanzkrise durch Entlassungen im öffentlichen Sektor Herr zu werden versuchen. Werden die Steuern für die großen Einkommen und Vermögen nicht erhöht, sieht eine Obama-Präsidentschaft bald einer tiefen Finanzkrise des Staates entgegen. Die Krise befördert also gleichzeitig die Sozialausgabenkürzer des rechten Flügels der Demokraten um das Democratic Leadership Council wie die Neokeynesianer vom linken Flügel.

Für die Linke ergibt sich mit der Rückkehr des Staates eine neue Kon­stellation. Die neoliberale Ideologie ist in eine tiefe Krise geraten. In den Spalten der bürgerlichen Presse wimmelt es von inkompatiblen wirtschaftspolitischen Positionen. Das ist ein Anzeichen für eine offene politische Situation. Die TINA-Ideologie ist Geschichte. Viele makroökonomische Forderungen der antineoliberalen Linken seit den frühen 1990er Jahren werden im Moment in die Tat umgesetzt. Allerdings stellt sich die Frage nach dem Charakter der Staatsinterventionen. Für den historischen Augenblick sind die Staatsinterventionen weitgehend unhinterfragt. Die Frage ist bloß, in welchem konkreten Verhältnis Steuersenkungen für die Mittelschicht und planmäßige Investitions- und Beschäftigungsprogramme – bspw. in Richtung eines grünen Kapitalismus – zueinander stehen werden. Zugleich deuten die präventiven Interventionen konservativer Ökonomen bereits jetzt darauf hin, welche neuen Auseinandersetzungen um das Verhältnis Staat und Markt folgen werden, sollte das wirtschaftspolitische Ad-hoc-Feuerlöschen der Obama-Administration in zwei bis drei Jahren tatsächlich erfolgreich sein.[3] Können die Staatsinterventionen dann als Ausnahme von der Regel behandelt werden oder gelingt es der Linken, die Markttheologie langfristig zu diskreditieren? Erst dann kann von einer postneoliberalen Konstellation gesprochen werden und nicht von einer staatsinterventionistisch wiederhergestellten neoliberalen Hegemonie – was kein Widerspruch wäre.

Möglichkeiten eines linken Staatsprojekts

Wird Obama von der Tiefe der Krise und dem Wunsch, mehr als nur ein Einamtsperiodenpräsident zu sein, tatsächlich ein neuer New Deal aufgenötigt, muss sich die Linke in den USA dazu verhalten und für ein linkes Staatsprojekt kämpfen. Die US-Gewerkschaftsbewegung sollte dabei offensiv auftreten und sich nicht – durch die Krise geschwächt – in einen sozialpartnerschaftlichen Neokorporatismus in subordinierter Position einspannen lassen, der als Lösung der Krise Zugeständnisse gegenüber den Unternehmensführungen nach innen durchsetzt und nicht die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit in den Unternehmen verschiebt, was jetzt plötzlich als Möglichkeit am historischen Horizont erscheint. Als Gegenleistung für eine Unterstützung sollte Obama zudem dazu gezwungen werden, endlich den Employee Free Choice Act umzusetzen. Dieser würde die durch die Krise erschwerten Bedingungen der dringend notwendigen Organisierungskampagnen abfedern und kann als Bollwerk gegen den krisenbedingten Druck auf die Löhne in Stellung gebracht werden.

Ein wie auch immer gearteter neuer New Deal würde dabei aus mehreren Gründen helfen, die Position der Linken zu verbessern. Die Stärkung der Tarifverhandlungsmacht durch öffentliche Beschäftigungsprogramme ist wohl der offensichtlichste Grund. Entscheidend ist aber nicht zuletzt die Symbolkraft eines neuen New Deals. Der alte New Deal steht bei all seiner Inkohärenz grundsätzlich für ein öffentliches Beschäftigungsprogramm und die ansatzweise Entwicklung eines amerikanischen Sozialstaatsmodells. Obama hat mit seiner linkspopulistischen Wahlkampfrhetorik große Erwartungen in diese Richtung geweckt. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der desaströsen, weitgehend marktbasierten Gesundheitsversorgung, die sich durch die Krise am Arbeitsmarkt stetig verschärft. Eine "transformative Präsidentschaft" kann der Linken aus der "postfordistischen" Defensive und in die Offensive verhelfen und die Kraft der Vision einer besseren Zukunft wecken. Denn die Linke war immer dann besonders stark, wenn sie den Wind der Geschichte in ihren Segeln hatte und den Fortschrittsbegriff besetzen konnte.

Gleichzeitig muss sich die Linke in den USA über die Grenzen eines eventuellen neuen New Deals bewusst sein. Der alte New Deal war zum einen kein kohärentes Projekt, sondern ein von Jahr zu Jahr neujustiertes Trial-and-Error-Verfahren des Staates. Seine progressiven Momente wie zum Beispiel die politische Aufwertung der Gewerkschaften und die Erleichterung der gewerkschaftlichen Organisierung entstanden zudem durch politischen Druck. Zum anderen löste der alte New Deal die Wirtschaftskrise nicht. Dazu bedurfte es der Aufrüstung im Kontext der Mobilisierung für den Krieg. Kommt ein neues keynesianisches Staatsprojekt, dann kann dieses auch als Durchlauferhitzer des militärisch-industriellen Komplexes dienen und dabei den US-Imperialismus befördern, dessen Ende auch unter Obama nicht abzusehen ist. Schließlich blieben im alten New Deal auch die Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit und die kapitalistische Verfügungsgewalt über den Mehrwert unangetastet. Das Kapital ließ sich neue Regulationen aufzwingen, es ließ sich "einbetten" und nutzte zugleich den privat angeeigneten Mehrwert dazu, sich der Regulationen wieder zu entledigen, als sich in der Krise des Fordismus die Möglichkeit dazu bot. Aus der schmerzhaften historischen Erfahrung mit dem Neoliberalismus sollte die Linke gelernt haben, dass die Zivilisierung des Kapitalismus nie von Dauer sein kann, dass keine mit dem Schweiß, dem Blut und den Tränen von Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern erkämpfte Errungenschaft vom Kapital nicht wieder in Frage gestellt werden kann. Trotzdem ist ein neuer New Deal unter den gegebenen Bedingungen der Schwäche nicht nur eine strategische Übergangsforderung, aus der der Kampf um Befreiung weitergekämpft werden kann. Sondern als "grünkapitalistische" Wende würde er auch den inneren Imperialismusdruck der USA und die Gefahr eines neuen Rechtsprojektes mit einer christlich-rechten Massenbasis abmildern.

Ingar Solty ist Politikredakteur von "Das Argument" und Doktorand am Fachbereich Politikwissenschaft der York University in Toronto/Kanada. Von ihm erschien zuletzt "Das Obama-Projekt. Krise und charismatische Herrschaft". Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10/2008. Bei diesem Artikel handelt es sich um die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Beitrags zu einer Debatte in der Tageszeitung Neues Deutschland mit dem freien Journalisten und "Taz"-Korrespondenten Andreas Zumach (Ausgabe vom 21.11.2008).

[1] Diese Krise hängt zusammen mit der Verlagerung des weltwirtschaftlichen Zentrums auf die eurasische Landmasse, der wachsenden Unabhängigkeit der EU und des ASEAN-plus-Drei-Raums vom US-Markt, der Krise von Dollar-Wall-Street-Regime und Öl-Standard, die von der Bush-Administration gerade behoben werden sollte, und der dabei verspielten geistig-moralischen Führungsposition der USA in der Weltordnung.
[2] Die aktuelle Ausgabe des Time-Magazin titelt sogar mit dem "neuen New Deal" und "was Obama von FDR lernen kann".
[3] Auf was man sich gefasst zu machen hat, zeigt sich etwa an Cowen, Tyler (2008): The New Deal Didn’t Always Work, Either. In: New York Times, Ausgabe vom 21. November 2008

Zurück