1. Juni 2004 Lothar Schröder

Ein Tarifabschluss wider den Zeitgeist

Manche scheinen es nie zu lernen – das Rechnen mit positiven oder negativen Vorzeichen. Neoliberale Meinungsmacher in Politik, Wirtschaft und Medien behaupten, die Arbeitszeiten in Deutschland müssten länger werden, damit mehr Beschäftigung entsteht.

Diese Behauptung fördert – abgesehen von dem ihr eigentlich zugrunde liegenden Interesse an weiteren Lohnsenkungen – eine eklatante Rechenschwäche zutage – PISA lässt grüßen. Wenn man bei der Deutschen Telekom die Arbeitszeit um vier Stunden verlängert, statt, wie jetzt per Tarifvertrag vereinbart, um vier Stunden verkürzt hätte, würde die Absurdität der derzeit gängigen Forderung nach Rückkehr zur 42-Stunden-Woche offensichtlich. 9,5 Arbeitnehmer, die bisher 38 Stunden die Woche arbeiten, würden, wenn sie vier Stunden länger arbeiteten, einen Arbeitsplatz einer Kollegin oder eines Kollegen mit "erledigen" – letzteres im wahrsten Sinne des Wortes. Bei der Realisierung eines solchen Modells hätten 95.000 ArbeitnehmerInnen der Deutschen Telekom 10.000 Arbeitsplätze überflüssig gemacht und die Beschäftigungsmisere verschärft. Der Transfer in das interne Arbeitsamt der Deutschen Telekom mit Namen "Vivento" hätte zugenommen, der Kündigungsdruck wäre gestiegen und die Arbeitsplätze wären noch unsicherer geworden.

Richtig bleibt die Erkenntnis, dass Beschäftigung und Auftragslage zusammenhängen. Durch längere Arbeitszeiten verbessert sich die Auftragslage jedoch keineswegs. Nimmt die Anzahl der Aufträge aber nicht zu, könnte die gleiche Menge an Produkten und an öffentlichen und privaten Dienstleistungen mit weniger Beschäftigten erbracht werden, sofern deren Arbeitszeit verlängert würde. Also wird Arbeitskraft für Unternehmen nur billiger – und das soll zu mehr Beschäftigung führen? Wenn richtig wäre, dass niedrigere Löhne gekoppelt mit längeren Arbeitszeiten zu mehr Beschäftigung führen, müssten wir gegenwärtig in Ostdeutschland ein Jobwunder erleben. Dort wird seit einem Jahrzehnt in vielen Bereichen für günstige Osttarife länger gearbeitet, gerade dort aber ist die Arbeitslosigkeit bekanntermaßen am höchsten in Deutschland.

Mehr Beschäftigung entsteht, wenn die kaufkräftige Nachfrage steigt und die Auftragslage sich verbessert. Beschäftigung für mehr Menschen entsteht, wenn die vorhandenen Beschäftigten weniger arbeiten und kürzere Arbeitszeiten in zusätzliche Arbeitsplätze und nicht in höheren Arbeitsdruck umgesetzt werden. Sichere Beschäftigung entsteht, wenn überdies Kündigungen ausgeschlossen werden. Der Tarifabschluss von ver.di mit der Deutschen Telekom leistet dies: Er hat die vorhandenen Arbeitszeiten umverteilt, fast 10.000 Arbeitsplätze geschaffen, die 34-Stunden-Woche forciert, betriebsbedingte Beendigungskündigungen bis 31. Dezember 2008 ausgeschlossen und die Beschäftigungswirkung sichergestellt. Darüber hinaus beschränkt er in einem Moratorium die Möglichkeiten zum Personalabbau. Er bietet mit diesen Komponenten ein Beispiel für Beschäftigungssicherung, zu einer Zeit, in der das Gerede um Arbeitszeitverlängerung die beschäftigungspolitische Krise noch zu verschärfen droht und die Beschäftigten verunsichert.

Beschäftigung ist wiederum ein Fundament für Nachfrage. Auch in der IKT-Branche musste man begreifen, dass die Menschen nicht mehr Geld für Telekommunikation, Hard- und Software ausgeben, wenn ihr Arbeitsplatz wackelt. Die Neigung, eher mal ein paar Euro auf die hohe Kante zu legen, wenn Beschäftigung unsicher wird, ist ausgeprägt. Auch deshalb fehlt es an Binnennachfrage in Deutschland. Würde es mehr tarifliche Beschäftigungsbündnisse wie jenes geben, das ver.di mit der Deutschen Telekom abgeschlossen hat, würde Beschäftigung nicht nur sicherer, sondern auch das Leben berechenbarer werden, weil Beschäftigte nicht um den Arbeitsplatz bangen müssten. Kaufkraft hätte ein neues Fundament. Man könnte auch finanziell wieder in die Zukunft planen, wenn man wüsste, dass die Arbeitsplätze sicherer sind. Bei der Deutschen Telekom wurden nicht nur geplante Kündigungen verhindert, es wurde Sicherheit geschaffen und ein Nachfrageimpuls gegeben. Auch deshalb ist der Tarifabschluss ein gutes Beispiel für wirksame und volkswirtschaftlich sinnvolle Beschäftigungspolitik.

Wer’s glaubt, wird selig

hat ver.di auf Charts geschrieben und hinzugefügt: Nur wer’s tarifvertraglich vereinbart, hat’s auch sicher. Diese Erkenntnis sollte auch auf die aktuelle Debatte um kürzere oder längere Arbeitszeiten angewandt werden. Jeder praktische Schritt mit nachvollziehbarer Beschäftigungswirkung ist allemal besser, als jede öffentliche Verunsicherung von Millionen Menschen in Deutschland, die bei der Suche nach Lösungen ohnehin meistens nicht gefragt werden.

Anders bei ver.di: Im Rahmen der von ver.di gestarteten Arbeitszeitinitiative wurden die Mitglieder nach ihren Arbeitszeitpräferenzen befragt. Eine Erkenntnis aus dieser Erhebung war, dass der Wille, für kürzere Arbeitszeiten finanzielle Eigenbeiträge zu leisten, weitaus ausgeprägter ist als die Bereitschaft, länger zu arbeiten – dies zeigen erste Auswertungen. Der ver.di-Fachbereich Telekommunikation und Informationstechnologie hatte vor diesem Hintergrund ein Perspektivenkonzept entwickelt, um die Beschäftigungsprobleme in der IKT-Branche in den Griff zu bekommen, die lange Jahre vom "New-Economy"-Boom verwöhnt war. In dem gewerkschaftlichen Konzept heißt es: "Eine zeitbefristete Wochenarbeitszeitverkürzung mit Teillohnausgleich zur Beschäftigungssicherung bei gleichzeitiger Festlegung von Schritten zur Verwirklichung des Zieles der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich kann dabei helfen, die momentane Krise in der Branche zu überbrücken." Gestützt auf diese Position, die in einem breiten Partizipationsprozess entwickelt worden war, wurden Tarifverhandlungen geführt – mit einem Ergebnis, das sich sehen lassen kann. Bei der Arbeitszeit ist ver.di über das selbst gesteckte Ziel hinausgeschossen und hat statt einer 35-Stunden-Woche die 34-Stunden-Woche verabredet. Bei der Frage des Lohnausgleichs mussten einige, aber wohl keine unzumutbaren Zugeständnisse gemacht werden. ver.di hat sich gebogen, aber nicht verbogen. Ebenso wie sich in der Natur die Pflanzen im Wind biegen, um sich nach dem Sturm wieder aufzurichten, hält es der ver.di-Fachbereich. Für den ist es allemal besser, die Arbeitszeit mit Teillohnausgleich zu verkürzen, als hinzunehmen, dass Menschen bei der Deutschen Telekom entwurzelt werden.

Ohne Streik: Vier-Tage-Woche

Das Beschäftigungsbündnis wurde ohne einen Erzwingungsstreik durchgesetzt. Das macht Hoffnung auch für all jene, die es nach der Niederlage der IG Metall in Ostdeutschland nicht mehr gewagt haben, das Thema Arbeitszeitverkürzung auf die tarifpolitische Tagesordnung zu setzen. Die Vier-Tage-Woche rückt bei der Deutschen Telekom in greifbare Nähe. Ihren Vorrang bei der Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung fordert der Tarifvertrag. Einen Tag mehr in der Woche zu Hause zu bleiben, das gibt Zeit für Familie und Hobby und hoffentlich Gelegenheit, die in Deutschland immer noch recht klassischen Rollenverteilungen zwischen Frauen und Männern zu überdenken. Einen Tag weniger in der Woche zur Arbeitsstätte zu fahren, spart auch Fahrtkosten und das hilft dabei, den finanziellen Beitrag zu tragen, den die Beschäftigten für die 34-Stunden-Woche leisten.

Vertretbare Eigenbeiträge

Bei der Deutschen Telekom galt bisher die 38-Stunden-Woche. Künftig wird 34 Stunden gearbeitet – 35,5 Stunden werden bezahlt. Brutto fehlen in den Geldbeuteln der ArbeitnehmerInnen 6,57 Prozent des Gehalts. Das sind die Kosten für 2,5 Stunden kürzere Arbeitszeit, für die es vom Arbeitgeber keinen Lohnausgleich gibt. Die Bruttobelastungen reduzieren sich netto auf weniger als die Hälfte Prozentpunkte, weil eingesparte Steuern und Sozialabgaben entlasten.

Ein Beispiel: In der Tarifstufe 5 Gruppe 4 sind bei der Deutschen Telekom ServicemonteurInnen und -technikerInnen eingruppiert. Die Nettodifferenz für Ledige in der Steuerklasse 1 in dieser Einkommensgruppe beträgt 2,3 Prozent, die als Eigenbeitrag zur Wochenarbeitszeitverkürzung weniger auf den Lohnzetteln stehen. Dies aber auch nur bis zum 1. Januar 2005, denn ab diesem Zeitpunkt gibt es Lohnerhöhungen. ver.di hat zu diesem Termin mit der Deutschen Telekom eine Einkommenssteigerung um 2,7 Prozent verabredet. Gleichzeitig tritt die dritte Stufe der Steuerreform in Kraft. Dann dürfte sich im Netto die Wochenarbeitszeitverkürzung bei vielen Telekom-Beschäftigten kostenneutral auswirken. Gewiss, Tarifpolitiker rechnen anders und Gewerkschaften haben unter der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich immer kürzere Arbeitszeiten plus Bruttoeinkommenserhöhungen verstanden. Aber viele Betroffene zählen, was am Ende des Monats im Geldbeutel landet. In dieser Sichtweise wird in nicht einmal acht Monaten ein Nettoausgleich für die Wochenarbeitszeitverkürzung erreicht sein. Und bis dahin? Die Monatsentgelte bleiben unangetastet – das macht der Tarifvertrag zum Prinzip. Die Eigenbeiträge der Beschäftigten für die kürzere Arbeitszeit werden über Kürzungen von Weihnachts- und Urlaubsgeld realisiert.

Eingriffe in die Beamtenbezüge?

Gegen den Widerstand von ver.di hat der Gesetzgeber auch für die bei der Deutschen Telekom beschäftigten BundesbeamtInnen bereits das Weihnachtsgeld auf 60 Prozent gekürzt und das Urlaubsgeld gestrichen. Mit einem weiteren Spargesetz soll das Weihnachtsgeld in Gänze gestrichen werden. Nachdem verabredet ist, den Tarifabschluss auch auf BeamtInnen zu übertragen, bekommen die in der Aktiengesellschaft tätigen BeamtInnen von der Deutschen Telekom einen Ausgleich für die Kürzungen des Gesetzgebers. Sie erhalten kürzere Arbeitszeiten zu einem Zeitpunkt, zu dem landauf, landab im Öffentlichen Dienst Arbeitszeiten verlängert werden sollen. Auch die Arbeitsplätze von BeamtInnen werden damit sicherer. Sie wären zwar nicht von den betriebsbedingten Beendigungskündigungen, die die Deutsche Telekom angedroht hat, unmittelbar betroffen gewesen. Sie mussten aber mit Versetzungen rechnen, wenn die Deutsche Telekom ihre Drohung wahrgemacht hätte, Massenentlassungen von ArbeitnehmerInnen durchzuführen. Dann hätten die Arbeitsplätze der Entlassenen durch BeamtInnen besetzt werden müssen. Eine West-Ost-Versetzungswelle wäre die Folge gewesen.

Moratorium verabredet

Teil des Beschäftigungsbündnisses ist ein Moratorium, das die von der Deutschen Telekom für die nächsten Jahre bereits angekündigte weitere Arbeitsplatzvernichtung weitgehend verhindert. 2004 werden nicht mehr als die bereits geplanten Rationalisierungsmaßnahmen durchgeführt. Für 2005 gilt ein fester Stopp für personalbedarfsreduzierende Maßnahmen, der auch 2006 grundsätzlich beibehalten wird. Den unternehmerischen Möglichkeiten, den Rotstift anzusetzen, sind damit für die nächsten Jahre deutliche Grenzen gesetzt. Auch dadurch wird Beschäftigung im magentafarbenen Konzern sicherer.

Flexibilität erhalten

Das Beschäftigungsbündnis ist nicht nur ein Beleg für die beschäftigungssichernde Wirkung von Tarifverträgen. Es ist auch ein Beweis für die Funktionsfähigkeit und Sinnhaftigkeit der Tarifautonomie. Nicht deren Deregulierung und Einschränkung sichern Beschäftigung, sondern eine intelligente Tarifpolitik. Die braucht sich auch nicht vor dem Vorwurf angeblich mangelnder Flexibilität zu verstecken. Das Beschäftigungsbündnis bei der Deutschen Telekom schafft reichlich Spielräume für Flexibilität. Reicht die 34-Stunden-Woche zur Lösung von Beschäftigungsproblemen in bestimmten Sektoren nicht aus, kann durch eine einvernehmliche Entscheidung in einer unternehmensbezogenen tariflichen Kommission die Wochenarbeitszeit sogar auf 32 Stunden abgesenkt werden. Die Kommission prüft Alternativen und regelt die spezifische Ausgestaltung einer weiteren Arbeitszeitabsenkung und deren Rahmenbedingungen. Jeweils die Hälfte der Kosten für die weitere Arbeitszeitabsenkung sollen Arbeitgeber und Beschäftigte tragen. Die Beschäftigungseffekte kommen der Sicherheit der Arbeitsplätze zugute.

Härtefallschutz

Spätestens bei einer weiteren Arbeitszeitverkürzung wird sich zeigen, dass selbst eine Belastung um wenige Prozente bei manchen Beschäftigten zu unzumutbaren Härten führt. Bei prekären familiären Bedingungen, einer finanziellen Krise durch Arbeitslosigkeit von Familienangehörigen oder durch gesundheitliche Belastungen naher Angehöriger wird schnell jeder Euro unentbehrlich. Solche Lebenskrisen treffen auch die MitarbeiterInnen der Deutschen Telekom, die ansonsten ein in der Branche vergleichsweise hohes Tarifniveau haben. Für solche Fälle sieht das Bündnis einen Härtefallfonds vor, der in den Betrieben der Deutschen Telekom durch die Betriebsparteien verwaltet wird. 18 Millionen Euro stehen zunächst zur Härtefallregelung zur Verfügung.

Einmalige Beschäftigungswirkung

19 engbeschriebene Seiten umfasst das Tarifangebot zum Beschäftigungsbündnis, das ver.di angenommen hat. Ein guter Teil des komplexen Tarifwerks ist der Umsetzung der Beschäftigungswirkung gewidmet. Bei der Deutschen Telekom wird nicht nur die Wochenarbeitszeit verkürzt und dann gehofft, dass Beschäftigungswirkung eintritt. Der Tarifvertrag macht detaillierte Vorgaben zur Realisierung. In einer Anlage zum Tarifvertrag werden 9.608,4 zusätzliche Personaleinheiten, die durch die Wochenarbeitszeitverkürzung entstehen, auf regionale Betriebe aufgeteilt. Die Beschäftigungswirkung kann damit nicht weggerundet, weggedeutet oder schlichtweg vergessen werden, wie es bei der Arbeitszeitverkürzung in anderen Branchen und Betrieben oft versucht wurde. Im Telekomkonzern steht fest, dass in vorzeigbarer Anzahl Menschen aus dem internen Arbeitsamt "Vivento" wieder in das Kernunternehmen zurückkehren können. Vielen Telekom-KollegInnen bleibt erspart, dass sie aufgrund noch geplanter Rationalisierungsmaßnahmen doch noch dorthin versetzt werden. Alles in allem muss das Beschäftigungsbündnis bei der Deutschen Telekom als gelungenes Schrittmacherprojekt gelten. Es trägt zur Beschäftigungssicherheit in Deutschland bei – ganz im Gegensatz zu den lauten Rufen nach Arbeitszeitverlängerung. Das Beschäftigungsbündnis wird in wenigen Monaten praktische Wirkung entfalten – und hoffentlich auch die verquere Debatte um Lösungen für die Beschäftigungskrise in Deutschland positiv beeinflussen.

Lothar Schröder ist Leiter des Bereichs Innovations- und Technologiepolitik und zuständig für Grundsatzfragen der TK-/IT-Branche beim Bundesvorstand von ver.di.

Zurück