28. Juni 2012 Onur Ocak / Andreas Fisahn

Ein Tropfen auf dem heißen Stein

Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Beteiligung des Parlaments
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Juni 2012 hat die schwarz-gelbe Regierung erneut eine Niederlage vor dem höchsten Gericht erlitten.

Es steht in einer Reihe von weiteren Urteilen zur Europapolitik der Bundesregierung. Der Tenor ist stets derselbe: Das Demokratiedefizit auf europäischer Ebene müsse durch eine entsprechend stärkere Beteiligung des Bundestages kompensiert werden.

Diese Grundlinie greift jedoch allgemein zu kurz. Die Urteile zum Lissabon-Vertrag, EFSF bis hin zum aktuellen Urteil sind nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Mit der Geschwindigkeit, mit der in der gegenwärtigen Krisensituation die nationalen Regierungen – insbesondere die deutsche – an Kompetenzen bzw. an Macht gewinnen, können die nationalen Parlamente nicht Schritt halten.

Selbst die nur rudimentär entwickelten europäischen Demokratieansätze, die eine Beteiligung des Europäischen Parlaments (EP) am Gesetzesverfahren vorsehen, werden durch »intergouvernementale Vereinbarungen«[1] unterlaufen. Dabei handelt es sich nicht um Gesetze, die der Zustimmung des EP und der Kontrolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) unterworfen wären, sondern um völkerrechtliche Verträge. Der Europäische Rat, der sich aus den Regierungschefs der einzelnen Mitgliedstaaten zusammensetzt, trifft demnach die Entscheidungen ohne die anderen Institutionen und verselbstständigt sich zunehmend.

Europa scheint auf dem Weg zu einer autoritären Wirtschaftsregierung zu sein. Demokratie erscheint beim Versuch der »Stabilisierung der Finanzmärkte« nur noch als Klotz am Bein. Als der ehemalige griechische Ministerpräsident Papandreou ankündigte, eine Volksabstimmung über die seinem Land auferlegten Kürzungsmaßnahmen vornehmen zu wollen, wurde er so sehr unter Druck gesetzt, dass er davon Abstand nehmen musste. In Italien und Griechenland wurden so genannte »Expertenregierungen« eingesetzt, deren Legitimation höchst fraglich war. Die Drohungen der europäischen Eliten an die Griechen, dass sie bei Parlamentswahlen die »richtige Wahl« zu treffen haben, ansonsten keine Hilfen mehr bekommen und bankrott gehen, sind nur die Spitze des Eisbergs.

In diesem Kontext ist das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu lesen. Die Bundestagsfraktion der Grünen hatte geklagt. Im Rahmen der Verhandlungen der Regierung um den ESM-Vertag (European Stability Mechanism) sei der Bundestag nicht ausreichend beteiligt worden.

Die Beteiligungsrechte des Bundestages bei EU-Angelegenheiten sind in Art. 23 II GG normiert. Dort heißt es: »In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und Bundesrat umfassend und zum frühstmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten«. Eine klare Formulierung könnte man meinen – sobald es um Europapolitik geht, muss das Parlament mitwirken und unterrichtet werden.

Die Bundesregierung vertrat allerdings die Auffassung, dass es sich bei den Verhandlungen um den ESM nicht um Angelegenheiten der Europäischen Union handelte, da er »intergouvernemental« über einen völkerrechtlichen Vertrag geregelt werde und es sich daher um eine zwischenstaatliche, aber nicht um eine Unionsangelegenheit handle. Diese Argumentation hatte zur Folge, dass die Bundesregierung keine Verpflichtung sah, den Bundestag zu unterrichten.

Das BVerfG hat dem einen Riegel vorgeschoben. Demnach fallen nicht mehr nur Vertragsänderungen, Primärrechtsänderung und Rechtssetzungsakte der EU, sondern auch völkerrechtliche Verträge, die in einem »Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis zum Recht der Europäischen Union stehen«,[2] in den Anwendungsbereich des Art. 23 II GG. Durch diese weite Auslegung der Norm verhindert das BVerfG, dass neben den Beteiligungsrechten des EP auch noch die des Bundestages ausgehebelt werden.

Der Bundestag hätte also über die Verhandlungen zum ESM-Vertrag informiert werden müssen. So fordert das Gericht: Es müsse eine »frühzeitige und effektive Einflussnahme auf die Willensbildung der Bundesregierung« gewährleistet sein. Dies soll durch Stellungnahmen des Bundestages, die das »Für und Wider einer Angelegenheit diskutieren«, erfolgen, damit das Parlament nicht in eine »bloß nachvollziehende Rolle« gerate.[3] Im Rahmen dieser Einflussnahme müsse die Regierung die Stellungnahme des Bundestags jedoch lediglich berücksichtigen, eine Bindungswirkung sei nicht vorgesehen. Eine solche war bei der Änderung des Art. 23 II GG angedacht, konnte aber nicht durchgesetzt werden. Stattdessen hat der verfassungsändernde Gesetzgeber sich im Gegenzug auf eine intensivere Unterrichtungspflicht eingelassen.

Diese Unterrichtungspflicht soll nach dem BVerfG je nach Maßnahme unterschiedlich umfassend ausfallen. »Je komplexer ein Vorgang ist, je tiefer er in den Zuständigkeitsbereich der Legislative eingreift und je mehr er sich einer förmlichen Beschlussfassung oder Vereinbarung annähert«, desto intensiver muss die Unterrichtung der Bundesregierung ausfallen. Damit soll gewährleistet werden, dass eine »Mitwirkung« auch effektiv möglich ist. Wie die »Berücksichtigung« der Stellungnahme des Bundestages sich in der politischen Praxis auswirken soll und wie dies überprüfbar ist, bleibt jedoch offen.

Deutlich hingegen wird die Grenze der parlamentarischen Mitwirkung gezogen, indem das Gericht betont, dass dem Bundestag nur ein Recht zur Unterrichtung und Stellungnahme, nicht aber zur Programmierung der Exekutive über bindende Weisungen zustehe. Die Grenze der Einflussnahme des Parlaments ergebe sich aus der Gewaltenteilung, die mit dem Euphemismus Funktionsgerechtigkeit nur funktional interpretiert wird, nicht als Versuch der Dekonzentration von Macht.

In der Außenpolitik habe die Bundesregierung »einen weit bemessenen Spielraum zu eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung«,[4] der das Parlament konsequent außen vor lässt. Sofern der Kernbereich der Exekutive, der »einen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich einschließt«,[5] betroffen sei, habe das Parlament nicht mal einen Anspruch auf Unterrichtung und schon gar nicht auf Entscheidungen. Der aus dem Demokratieprinzip abgeleitete Parlamentsvorbehalt impliziere keine erweiterte Mitbestimmungsbefugnis des Parlaments, da »allein die Regierung in hinreichendem Maße über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verfügt, auf wechselnde äußere Lagen zügig und sachgerecht zu reagieren«.[6] Diese Auffassung ist demokratietheoretisch höchst fragwürdig. »Denn wie sollte der eigenständige Raum, der sich einer demokratischen Programmierung entzieht, gerechtfertigt werden, außer durch Rückgriff auf angestammte Funktionen der Regierung im keineswegs so demokratischen Staatswesen der deutschen Geschichte«.[7]

Mit der Betonung des eigenverantwortlichen Aufgabenbereichs der Regierung, der parlamentarisch nicht programmierbar ist, fällt das neue Urteil des BVerfG hinter das Lissabon-Urteil aus dem Jahr 2009 zurück. Dort formulierte das Gericht noch, dass die Bundesregierung in bestimmten Abstimmungsverfahren im Rat »nur auf entsprechende Weisung des Deutschen Bundestages« handeln könne.[8] Dies stellte eine neuartige Rechtskonstruktion in der deutschen Verfassungsgeschichte dar und war eines der Besonderheiten des Lissabon-Urteils. Die Begründung für diese Weisungsrechte ging vom Demokratiedefizit auf europäischer Ebene aus, das durch eine entsprechende Ausweitung der Parlamentsrechte auf nationaler Ebene kompensiert werden müsse. Jedoch scheint das BVerfG dies trotz gleichbleibender Problemlage nicht mehr mit denselben Mitteln kompensieren zu wollen. Nicht nur, dass es eine Weisungsmöglichkeit des Bundestages in der konkreten Frage nicht vorschlägt. Mit der oben genannten Begründung stellt das BVerfG auch klar, dass die Weisungsbefugnis kein allgemeines Rechtskonstrukt ist, das auf weitere Felder auszuweiten wäre, sondern nur eine besondere Ausnahmekonstruktion. Die Annahme, dass mit dem Lissabon-Urteil die Exekutive nun – zumindest grundsätzlich – auch in außenpolitischen Handlungen den Weisungen der Volksvertretung unterliegt, hat sich als falsche Hoffnung entpuppt.

Das BVerfG scheint sich offenbar darauf beschränken zu wollen, dem Parlament ausreichend Informationen zuzuleiten, damit die Parlamentarier wissen, was sie nicht zu entscheiden haben. Nichtsdestotrotz wurde diese Entscheidung in der Medienlandschaft teilweise als »fulminant« (Prantl, SZ 19.6.2012) bezeichnet und im Allgemeinen als Stärkung der Demokratie und der Rechte des Parlaments verstanden. Eine solche Interpretation stellt eine Überbewertung des Urteils dar. Anzuerkennen ist jedoch, dass das BVerfG der konsequenten »Demütigung« der Parlamentarier durch die Bundesregierung einen Riegel vorgeschoben hat. Diese mussten »wie Bettler« (Prantl) um Informationen von der Regierung bitten, die wiederum diesen Bitten entweder gar nicht oder nur unzureichend nachgekommen ist. Eine Verweigerung von Informationen mit der Begründung, dass noch laufende Verhandlungen stattfinden oder die Geheimhaltung gefährdet sei, ist nun ebenso ausgeschlossen wie bloße mündliche Mitteilungen. Durch das Urteil wird ein Informationsanspruch gewährt, der dafür sorgt, dass die Parlamentarier zumindest formell die Möglichkeit haben, umfassend Einblick in die aktuellen Verhandlungslagen auf europäischer Ebene zu haben.

Nicht mehr und nicht weniger. Betrachtet man das Urteil im Kontext der allgemeinen demokratischen Krise in Europa, ist mehr als nur Ernüchterung angebracht. Zunächst ist festzuhalten, dass das BVerfG noch immer an seiner Leitlinie festhält, das Demokratiedefizit in Europa auf nationaler Ebene lösen zu wollen. Diese Konstruktion ist eher ein Ausweg für Helden, denn eine Begründung für die demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen. Das Konstrukt der begrenzten Einzel­ermächtigung, über welches das Demokratiedefizit auf europäischer Ebene als noch gerechtfertigt erscheinen soll, hat sich angesichts der Generalermächtigung der EU für weitgehend alle Lebensbereiche überholt. Europa braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag,[9] der von den Menschen erstritten werden muss, nicht zuletzt um dem Substanzverlust der Demokratie, der mit der Vorherrschaft der Wettbewerbsordnung verbunden ist, Einhalt zu gebieten.

Andreas Fisahn ist Hochschullehrer an der Universität Bielefeld und lehrt öffentliches Recht sowie Rechtstheorie. Onur Ocak ist studentischer Mitarbeiter an diesem Lehrstuhl.

[1] A. Fisahn: Autoritäre Krisenlösung – der neue Weg der Europäischen Union?, in: juridikum 4/2011, S. 445-456.
[2] BVerfG, 2 BvE 4/11 vom 19.6.2012, Absatz-Nr. (100).
[3] BVerfG, 2 BvE 4/11 vom 19.6.2012, Absatz-Nr. (107).
[4] BVerfG, 2 BvE 4/11 vom 19.6.2012, Absatz-Nr. (91).
[5] BVerfG, 2 BvE 4/11 vom 19.6.2012, Absatz-Nr. (115).
[6] BVerfG, 2 BvE 4/11 vom 19.6.2012, Absatz-Nr. (91).
[7] A. Fisahn, Bundesverfassungsgericht friert die europäische Demokratie ein!, in: Kritische Justiz, Heft 3/2009, S. 220-225.
[8] BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009,
Absatz-Nr. (418).
[9] Vgl. den Aufruf: www.europa-neu-
begruenden.de und den Beitrag von Hans-Jürgen Urban in diesem Heft.

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