1. Juli 2006 Redaktion Sozialismus

Entscheidungsjahr 2007

Es knirscht in der Bundesregierung. Deshalb war öffentliches Stillschweigen über die Verhandlungsstände in den koalitionären Spitzengremien angesagt. Aber nun – kurz vor der parlamentarischen Sommerpause – kommt es Schlag auf Schlag: letzte Verständigung über die Föderalismusreform, Eckpunkte des neuen Gesundheitssystems, steuerliche Entlastung der Unternehmen und Freistellung von Unternehmenserbschaften.

Die Kohärenz der koalitionsinternen Ausbalancierung unterschiedlicher Interessen ist ebenso offen wie der Versuch der Überrumplung der Öffentlichkeit. Gegen das Projekt der Mehrwertsteuererhöhung zum 1. Januar 2007 um drei Prozentpunkte gab es seitens der Bundesländer offenen und verdeckten Widerstand. Gegen das Gleichbehandlungsgesetz mobilisieren die Unternehmerverbände. Gegen den Umbau der Gesetzlichen Krankenversicherung laufen die Privatkassen Sturm. Der VdK, der Sozialverband Deutschland, die Volkssolidarität und der Seniorenverband des Beamtenbundes wollen in den kommenden Monaten gemeinsam gegen den "Generalangriff" auf die solidarischen Grundlagen des Sozialstaates vorgehen. Und die Gewerkschaften wären gut beraten, die Empörung ihrer Mitglieder gegen Klassenmedizin und vor allem gegen die Rente mit 67 – und als Kehrseite gegen die katastrophale Entwicklung in der beruflichen Ausbildung – im Herbst öffentlich auf die Straßen und Plätze zu bringen. Vor dem Übergang in das entscheidende Jahr 2007 könnte die Koalition einer massiven Belastungsprobe ausgesetzt sein.

Rot-Grün setzte mit der Agenda 2010 massive Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse durch. Seit Mitte der 1990er Jahre ist Deutschland unter den führenden kapitalistischen Ländern Weltmeister bei der Senkung der Arbeitskosten; auch im vergangenen Jahr lagen sie mit einem Anstieg von 0,9% deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 2,8%. Die Behauptung, die wirtschaftliche Dynamik lahme infolge einer Überforderung durch den Sozialstaat, wurde durch die mittlerweile ein halbes Jahrzehnt andauernde Stagnation der Binnenwirtschaft und den Anstieg der Arbeitslosigkeit unterlaufen. Um gesellschaftliche Mehrheiten zustande zu bringen, setzten die Regierungen Schröder auf die Arbeit von Kommissionen, die der Politik nicht nur wissenschaftliche Weihe, sondern auch das Flair der Alternativlosigkeit geben sollten. Der damalige Kanzleramtsminister Steinmeier charakterisierte dies als Methodik politischer Arbeit mit "temporär wirksame(n) Instrumente(n), die die politische Willensbildung beschleunigen und auf eine möglichst breite gesellschaftliche Grundlage stellen." Der Erfolg dieser Strategie reichte bis zum Widerstand gegen die Hartz-IV-Gesetze. Der Preis war die Aushebelung des Parlaments durch die Exekutive.

Die schwarz-rote Koalition pflegt einen anderen Regierungsstil. Die Konsensbildung durch hochrangige Kommissionen gehört der Vergangenheit an, das "policy making" hat sich in kleine Zirkel des Regierungsapparats zurückgezogen und damit die Herrschaft der Exekutive noch verstärkt. Das Ziel: Ausbruch aus der depressiven, weil Investitionen fehl leitenden Spirale von realwirtschaftlicher Stagnation und durch hohe Liquidität angetriebene monetäre Spekulation. "Seit rund zehn Jahren ist die deutsche Wirtschaft durch eine ausgesprochene Wachstumsschwäche gekennzeichnet. Das schwache Wachstum ist die wesentliche Ursache für den spürbaren Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Deshalb müssen neues Wachstum generiert und mehr Beschäftigungschancen eröffnet werden... Ein halbes Prozent mehr Wachstum würde rund 2,5 Mrd. Euro mehr Steuereinnahmen und etwa 2,3 Mrd. Euro Mehreinnahmen bei den Sozialversicherungen erbringen... Die Wiederbelebung der Investitionstätigkeit ist der Schlüssel für neues Wirtschaftswachstum." (Koalitionsvertrag)

Ähnlich wie die Regierung Schröder nach 1998 wird die große Koalition zunächst von der konjunkturellen Brise angetrieben. Wie beim Segeln im Passat entstand der Eindruck des "easy living": Einmal den Kurs eingestellt und das Boot richtig getrimmt, kann man auf größere Interventionen verzichten. In der Öffentlichkeit wurde der Kuschelkurs inszeniert – zumindest für jene auf dem Oberdeck, während im Inneren des Kahns die Luft immer stickiger und dünner wird.

Für Schröder und Fischer war das Karibik-Feeling nach gut zwei Jahren vorbei. Bei Merkel und Müntefering ist das einstudierte Dauerlächeln bereits nach sieben Monaten erstarrt. Der Kuschelkurs basierte auf falschen Voraussetzungen. Die Wirtschaft hatte nicht wegen, sondern trotz der Politik der Agenda 2010 Fahrt aufgenommen. Nunmehr zeichnet sich in der Globalökonomie eine konjunkturelle Abwärtsbewegung ab.

Konjunkturwende in den USA

Motor der weltwirtschaftlichen Entwicklung sind weiterhin die USA. China und Indien weisen zwar eine sehr viel stärkere Dynamik, aber nach wie vor ein deutlich geringeres Gewicht auf. Bereits Anfang der 1990er Jahre hatten die USA die weit verbreitete These von einem Epochenwechsel – Niedergang des nordamerikanischen Demiurgen und Ablösung durch den ostasiatischen Tigerblock – widerlegt. Das Jahrzehnt wurde zum Revival – und es wäre eine krasse Fehleinschätzung, die Erneuerung des Produktionspotenzials der US-Wirtschaft nicht zur Kenntnis zu nehmen. Gleichwohl hat Robert Brenner[1] Recht, dass damit die Überakkumulation nicht überwunden wurde. Die Weltmacht lebt nicht nur über ihren Verhältnissen, sondern die neoliberale Fiskalpolitik hat die verteilungspolitischen Disproportionen verstärkt: Verschärfung der Einkommensunterschiede, massiver Anstieg der Verschuldung, Entsparen der privaten Haushalte.

Die außergewöhnliche Wachstumsphase in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre (mit über 4% im Jahresdurchschnitt 1996-2001) war bereits einem "irrationalen Überschwang" (Alan Greenspan) der Finanzmärkte geschuldet, der ab März 2000 zu einem Crash auf Raten führte. Spätestens damit war klar, dass die von der Clinton-Administration ausgegebene Parole von "Ende des Konjunkturzyklus" reine Wunschvorstellung war. Der neue Konjunkturzyklus begann zunächst verhalten, beschleunigte sich dann aber auf 4,2% in 2004 und 3,5% im vergangenen Jahr. Die aktuelle Entwicklung der Aktien- und Vermögensmärkte signalisiert, dass der obere Wendepunkt erreicht ist. Seit dem ersten Quartal hat die Talfahrt begonnen. Wie flach oder steil es bergab geht, vermag gegenwärtig niemand verlässlich zu prognostizieren.

Zumal die Effekte eines "schmutzigen Militärkeynesianismus" schwer zu kalkulieren sind. Im Jahr der Intervention im Irak gab die Bush-Administration 51 Mrd. Dollar für diesen Krieg aus. In den folgenden Haushaltsjahren ist dieser Betrag beständig angestiegen; im laufenden Haushalt sind 102 Mrd. bereitgestellt. Die addierten Ausgaben belaufen sich auf 320 Mrd. Dollar. Selbst wenn noch in diesem Jahr der Rückzug eingeleitet würde – was niemand erwartet –, würde der Militäreinsatz noch weitere 300 Mrd. Dollar verschlingen. Damit sind alle Kostenschätzungen um ein Vielfaches übertroffen; der Irak-Militäreinsatz wird wesentlich mehr kosten als die Interventionen in Korea und Vietnam.

Damit sind weitere dunkle Wolken am US-Konjunkturhimmel aufgezogen:

  Für das Fiskaljahr 2007 hat die Bush-Administration eine deutliche Konsolidierung des Bundeshaushalts für alle nicht kriegsrelevanten Ausgabenposten angekündigt. "Dies ergäbe einen spürbar restriktiven Impuls für die Konjunktur".[2]

  Die Wirkungen der Steuerreform – die zudem einseitig die vermögenden Haushalte begünstigte – laufen aus.

  Die Notenbank hat den Zinssatz von 1% – dem tiefsten Stand seit 45 Jahren – schrittweise auf 5% angehoben.

  Mit jedem Zinsschritt werden die kräftigen – für die Aufrechterhaltung des hohen Konsumniveaus unerlässlichen – Vermögenszuwächse bei Immobilien und Aktien korrigiert. Mit 6.000 Mrd. Dollar an ausstehenden Hypothekartkrediten sind die verbrieften Kreditmöglichkeiten der privaten Haushalte erschöpft. Zusammen mit den Konsumentenschulden überschreitet die Verschuldung das real verfügbare Einkommen.[3]

  Infolge kräftigen Importwachstums ist das Leistungsbilanzdefizit auf 7% des BIP angestiegen – ein grober Indikator für die wachsenden Ungleichgewichte im internationalen Handel. Damit sind Erschütterungen in den Währungsrelationen wieder wahrscheinlicher geworden.

Bedrohlich ist die Kehrseite der akkumulierten Defizite: Da die gesamtgesellschaftliche Sparquote sich nahe dem Nullpunkt bewegt, ist die Supermacht auf Kapitalzuflüsse aus dem Ausland angewiesen, um ihre Importe bezahlen zu können. Die USA saugen einen Großteil der globalen Ersparnisse an: über 700 Mrd. Dollar in 2005. Eine grundlegende Erschütterung dieses Ungleichgewichtes hätte einen komplizierten Anpassungsprozess zur Folge.

Deutschland und die europäische Wirtschaft haben darauf verzichtet, der spezifischen Prägung der Globalökonomie durch die Politik der USA eine unabhängige Entwicklung entgegenzusetzen. Im Jahr 2000 hatten die EU-Staats- und Regierungschefs mit der so genannten Lissabon-Strategie den Versuch gestartet, gleichsam gezogen von der US-Konjunkturlokomotive an dieser bis 2010 vorbeizuziehen: durch die beschleunigte Deregulierung von Märkten, Entstaatlichung, Abbau von Steuern und sozialen Sicherungssystemen sowie eine unterhalb der Produktivität liegende Lohnentwicklung. Die bundesdeutsche Variante dieser Strategie war die Agenda 2010. Ergibt sich nun eine wechselseitige Verstärkung von konjunkturellem Abschwung und gescheiterter neoliberaler Anpassungspolitik?

Noch macht man in Berlin auf gute Stimmung: die Wirtschaft habe Fahrt aufgenommen, die Motoren liefen rund. Die Arbeitslosen haben zwar nichts mehr in der Tasche, aber die Bundesagentur umso höhere Überschüsse, sodass die Lohnnebenkosten gesenkt und infolgedessen bei sinkenden Arbeitskosten demnächst auch wieder Neueinstellungen vorgenommen werden könnten. Das kennt man alles.

Doch seit 150 Jahren ist auch bekannt: "Grundsätzlich darf man in der politischen Ökonomie niemals Zahlen eines einzelnen Jahres zusammenstellen, um aus ihnen allgemeinen Gesetze abzuleiten. Man muss stets den Durchschnitt von sechs bis sieben Jahren nehmen – den Zeitabschnitt, während dessen die moderne Industrie die verschiedenen Phasen der Prosperität, Überproduktion, Stagnation und Krise durchmacht und ihren unvermeidlichen Kreislauf vollendet." (MEW Bd 4, S. 450) Seit der Herausbildung der spezifisch kapitalistischen Betriebsweise entwickelt sich eine Elastizität, die auf Grundlage des Umschlagszyklus des Fixkapitals eine charakteristische konjunkturelle Bewegungsform hervorbringt. Der Zirkulationsprozess des gesamtgesellschaftlichen Kapitals hat sich von sechs bis sieben auf rund vier bis fünf Jahre verkürzt.

Es spricht einiges dafür, dass im aktuellen Konjunkturzyklus der obere Wendepunkt erreicht ist. Können die hektischen Bewegungen auf den Finanzmärkten als Frühindikatoren für eine konjunkturelle Eintrübung genommen werden, kommt die Erhöhung der Mehrwertsteuer zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Die konjunkturelle Bewegung wird zusätzlich belastet.

Schon bei einer leichten Abschwächung werden sich die bekannten Probleme – Arbeitsmarkt, Defizite in den sozialen Sicherungssystemen und öffentlichen Haushalten – wieder in den Vordergrund der öffentlichen Debatte schieben. Die Schonfrist für die große Koalition ist zu Ende. Die Zeit für Widerstand und Mobilisierung für anti-neoliberale Alternativen ist gekommen – bevor zum 1. Januar 2007 die nächste Etappe der Entsolidarisierung der Gesellschaft abgeschlossen wird.

[1] R. Brenner: Neuer Boom oder neue Bubble? Ist der gegenwärtige Aufschwung der US-Wirtschaft eine Seifenblase? In: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 4/2004.
[2] Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute: Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Frühjahr 2006, Hamburg, 26.4.2006, S. 13.
[3] Auch positivere Einschätzungen der Konjunktur- und Arbeitsmarktentwicklung in den USA lassen die Skepsis hinsichtlich der kumulativen Folgen nicht mehr unter dem Teppich. "Zwar wird der Aufwärtstrend am Arbeitsmarkt vorerst anhalten, und die real verfügbaren Einkommen nehmen von daher weiter kräftig zu. Dem steht jedoch eine Erhöhung der Sparquote der privaten Haushalte gegenüber. Hierauf wirken zum einen die steigenden Zinsen hin. Damit wird auch die Beschaffung zusätzlicher Mittel über die Neuaufnahme bzw. Umfinanzierung von bestehenden Hypotheken immer unattaktiver; hinzu kommt, dass die Immobilienpreise langsamer zulegen werden und sich die Vermögenssituation der privaten Haushalte von daher nicht mehr so stark verbessern wird wie bisher. Mit dem schwächeren Konsumanstieg trüben sich die Absatz- und Ertragserwartungen ein, so dass auch die Unternehmensinvestitionen an Schwung einbüßen, zumal die Finanzierungsbedingungen etwas ungünstiger werden." (ebd., S. 14)

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