1. November 2006 Redaktion Sozialismus

Es muss anders werden, damit es besser geht!

Am 21. Oktober folgten in München, Stuttgart, Frankfurt, Dortmund und Berlin rund 220.000 BundesbürgerInnen dem Aufruf des DGB: "Das geht besser". Gegen eine Politik, die die soziale Spaltung der Republik vertieft: mit der Akkumulation privaten Reichtums durch eine 16 Mrd. Euro schwere Unternehmensteuersenkung bei gleichzeitiger Kürzung von Arbeitslosenunterstützung und Realeinkommen (einmalig in Europa).

Gegen eine Politik, die durch Ablehnung einer Ausbildungsplatzumlage Jugendarbeitslosigkeit an den Beginn von Erwerbsbiografien stellt und mit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre ein gigantisches Verarmungsprogramm künftiger RentnerInnengenerationen aufgelegt hat. Gegen eine Politik, die im Begriff ist, den Umstieg in ein fondsgestütztes, privates Gesundheitssystem zu organisieren. Kurzum: Gegen eine Politik, die mit der Abwicklung von Sozialstaatlichkeit und der Ausweitung von Niedriglohnsektoren die Reihen einer "underclass" enorm anschwellen lässt. Die in schwer zu überbietendem Zynismus über fehlende Leistungs- und Aufstiegsmotivation von "Unterschichten" räsoniert, die sie in ihren Mitte-Diskursen längst abgeschrieben hat.

Hier stoßen wir auf den tieferen Grund der Proteste: Es geht darum, den öffentlichen Raum gegen eine im neoliberalen Herrschaftsdiskurs verfangene politische Elite zu erobern, die der radikalen Rechten die Aneignung der sozialen Frage gleichsam auf Silbertabletts offeriert.

Der 21. Oktober 2006 signalisiert deutliche Fortschritte einer sich in die politischen Auseinandersetzungen aktiv einbringenden Gewerkschaftsbewegung. Als im Frühjahr 2003 ganze 90.000 gegen die Ankündigung der Agenda 2010 demonstriert hatten, schien mit dem Auftakt bereits die Schlussrunde eingeläutet zu sein, weil man meinte, zu einer zugespitzten politischen Auseinandersetzung nicht in der Lage zu sein und einen Bruch mit der SPD-Regierungspolitik nicht riskieren wollte. Nach einer weitgehend von BasisaktivistInnen initiierten Demonstration im November 2003 in Berlin wurde der Protest mit dezentralen Kundgebungen im April 2004, an denen sich rund eine halbe Million beteiligten, neu organisiert. Es folgten das Arbeitnehmerbegehren und die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV. Aus dieser kurzen Protestgeschichte wurde gelernt: erstens, dass der öffentliche Protest frühzeitig im Gesetzgebungsprozess organisiert werden muss, zweitens, dass Kundgebungen kein singuläres Ereignis sein sollten, sondern mobilisierender Auftakt und Zwischenetappen längerfristig angelegter Aufklärungs- und Widerstandskampagnen sein müssen.

Ein dritter Lernerfolg ist im Herbst 2006 weniger praktisch zum Tragen gekommen: die Formierung möglichst breiter sozialer Bündnisse, um Erkenntnisschneisen in das von den Massenmedien immer neu intonierte Einheitsdenken schlagen zu können. So ist der öffentlich sichtbare Protest von Sozialverbänden, Kirchen und sozialen Bewegungen eher – im Vergleich zum Frühjahr 2004 – verhalten ausgefallen. Eine Herausforderung an alle Seiten: an die Gewerkschaften, ihre Fühler in die Gesellschaft weiter auszufahren – insbesondere mit Sozialverbänden könnte erhebliches politisches Potenzial aktiviert werden; aber vor allem an die bunte Vielfalt zivilgesellschaftlicher Verbände und Initiativen, auch an die Adresse der politischen Linken, deren parlamentarisches Spielbein mitunter virtuos zum Einsatz gebracht wird, während das außerparlamentarische Standbein von Wadenkrämpfen gepeinigt ist.

Die Entwicklung der Proteste der vergangenen Jahre erfolgte vor dem Hintergrund einer Polarisierung in den sozialen und politischen Auseinandersetzungen: einerseits des "union bashing" von Seiten der wirtschaftlichen und politischen "Elite" – man denke nur an den Versuch des niedersächsischen Ministerpräsidenten, ver.di im öffentlichen Dienst auf die Knie zu zwingen; andererseits der Steigerung des Mobilisierungsgrades in den Tarifauseinandersetzungen im Frühjahr und Sommer diesen Jahres. Letzteres reflektiert einen Wandel in der Einstellung der Bevölkerung gegenüber Gewerkschaften. Einer repräsentativen Umfrage zufolge "ist bereits seit zwei Jahren zu beobachten, dass sich das Meinungsklima für die Gewerkschaften verbessert. 2003 überwogen kritische Stimmen zu den Gewerkschaften gegenüber positiven Urteilen im Verhältnis 2 zu 1: nur 23% der Bevölkerung beurteilten zu diesem Zeitpunkt die Gewerkschaften positiv, 46% standen ihnen kritisch gegenüber. Die kritischen Stimmen haben sich seither auf 34% verringert, während der Kreis derjenigen, die den Gewerkschaften mit Wohlwollen begegnen, von 23 auf 30% angewachsen ist."[1] Dieser Wandel besagt: In Zeiten wachsender sozialer Nöte und Ängste erwartet man gerade auch von Gewerkschaften Schutz. Deshalb "hat sich der Anteil, der sich einen stärkeren Einfluss der Gewerkschaften auf den politischen Kurs wünscht, von 28 auf 44% erhöht" (ebd.).

Die Gewerkschaften haben sich am 21. Oktober 2006 – trotz Defensive und Krise – als die gegenwärtig mobilisierungsfähigsten Kräfte der Zivilgesellschaft erwiesen. Erneut haben sie jenen, deren gut bezahlte Aufgabe darin besteht, sie medial abzuschreiben, ein Schnippchen geschlagen. Dem Trend der Transformation der Massendemokratie in eine Medientechnokratie zuwider laufend, haben sie die res publica aufgewertet. Gut so! Aber auch hier gilt das Motto: "Das geht besser."

Besser dann, wenn die zum Teil in der Mobilisierung zu den Kundgebungen zutage getretenen Schwächen weiter bearbeitet werden:

  Die Mobilisierung hat nur einen Teil der haupt- und ehrenamtlichen gewerkschaftlichen Funktionäre erfasst. Für die anderen gilt wohl, dass die Empörung über schwarz-rote Politik ebenso groß ist wie die Resignation über Veränderungsperspektiven. Politische Bildungsarbeit wäre ein Ansatzpunkt, der ausgebaut werden sollte. Ein anderer Ansatzpunkt sind Good-practice-Beispiele, die zeigen, was in politischen Auseinandersetzungen erreicht werden kann. Für eine Kampagnenplanung entscheidend ist zudem eine Zielperspektive, die mehr sagt, als dass "es besser geht". Was für die einen die Durchsetzung eines gesetzlichen Mindestlohns ist, könnte für andere Gewerkschaften die Verhinderung der Rente mit 67 sein – ein exemplarisches Ziel, auf das sich der entschlossene Wille der gesamten Organisation richtet.

  So wie es das Problem der Verselbständigung der politischen Klasse gibt, so gibt es eine "Selbstbezüglichkeit" betrieblicher Aktivisten. Es ist ja richtig, dass der Machtkorridor für alternative Politik angesichts der großkoalitionären Mehrheitsverhältnisse klein ist. Und es ist richtig, dass die Formierung von gesellschaftlicher Opposition außerhalb der Betriebe oft ein ermüdendes, enervierendes Geschäft ist. Doch daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, sich auf betriebliche Abwehrkämpfe zu konzentrieren, dürfte in der nächsten Runde auch dort die Handlungsspielräume weiter beschneiden und die Defensive verstärken: von den makroökonomischen Effekten neoliberaler Politik bis hin zum betrieblichen Vorruhestand und zur Ausbildungspolitik.

  Die Effektivität von Koordination zeigt sich im Koordinieren. Hier besteht im DGB wie auch in den Einzelgewerkschaften Handlungsbedarf. Die Matrixstruktur von ver.di war vom Entstehungsprozess bis heute eine Bedingung, ohne die es diese Organisation nicht gegeben hätte – aber offenkundig scheint auch zu sein, dass die politische und die fachliche Ebene zu oft über keine oder nur schlecht funktionierende kommunizierenden Verbindungen verfügen. Auch in der IG Metall blockieren sich mitunter mehrere "Willen" und "Logiken", die selbst in Strategiedebatten nur schwer zu bündeln sind.

Wie kann es nach gelungenem Auftakt weiter gehen? In Vorbereitung sind neue Formen politischen Lobbyings nach dem Motto: Angeordnete rein in die Betriebe! Beispielsweise in den Schichtdienst der Krankenhäuser, der Müllabfuhr oder der Call Center, wo die Folgen von Spar- resp. Privatisierungspolitik und Niedriglohnstrategien praktisch werden. Gedacht ist ferner an Proteste während der Arbeitszeit: gegen das größte Rentenkürzungsprogramm in der Geschichte der Republik (in Folge von Nachholfaktor und Rente erst mit 67).

Weiter gehen muss es aber auch mit der Formierung von sozialen Bündnissen. Gewerkschaften sind – wie die zitierte Umfrage zeigt – gefragt als politischer Faktor. Wie die Angriffe des Agenda-Kanzlers a.D. zeigen (und wie in seinen Memoiren nachzulesen ist), haben ihre Proteste spürbare Wirkung. Selbstverständlich: Das schließt Konflikte ein. Zwischen einer nun bald ein Jahrzehnt regierenden Sozialdemokratie und der Mehrheit der Gewerkschaften, wie auch innerhalb dieser. Aber diese Konflikte können in Gewinn umgemünzt werden: in einen Gewinn an politischer Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit, Durchhaltevermögen und Durchsetzungsfähigkeit. In der eigenen Mitgliedschaft und in der Zivilgesellschaft. Das ist der Weg des Politikwechsels: Es muss anders werden, damit es besser geht!

[1] Institut für Demoskopie Allensbach: Mehr Zustimmung, aber weniger Zutrauen, in: FAZ Nr. 141, 21.6.2006.

Zurück