27. Oktober 2011 Dierk Hirschel
Euroland bald abgebrannt?
Merkel, Sarkozy, Juncker & Co stolpern weiter munter durch die Krise. Entfesselte Finanzmärkte jagen die Politik vor sich her. Ein Krisengipfel reiht sich an den Nächsten.
Mit einem erweiterten Rettungsschirm (EFSF) kaufen sich die EU-Staatschefs erneut Zeit. Die neue Spannweite des Rettungsschirms schützt jedoch nicht alle Schuldnerstaaten. Deswegen streiten die Staatenlenker jetzt über eine Variante XXL.
Währenddessen steuert die griechische Tragödie auf ihren letzten Akt zu. Giorgos Papandreou hat ein zweites Sparpaket durch das griechische Parlament gepeitscht. Deswegen bekommt Athen jetzt neue Kredite. Die teuer erkaufte Atempause ist aber nur von kurzer Dauer. Denn die Sparauflagen verschärfen die Krise.
Die Medizin der Troika – EU, IWF und EZB – hat den Gesundheitszustand des hellenischen Patienten dramatisch verschlechtert. Griechenland spart sich zu Tode. Kein Industrieland hat in den letzten 25 Jahren seinen Haushalt so radikal konsolidiert wie Athen in den letzten zwölf Monaten. Staatsdiener wurden entlassen, Löhne und Renten gekürzt. Die Mehrwertsteuer wurde kräftig erhöht. Diese Sparmaßnahmen umfassten 18 Mrd. Euro oder rund 8% der griechischen Wirtschaftsleistung.[1] Das Haushaltsdefizit sank 2010 um ganze fünf Prozentpunkte.
Mit dramatischen Folgen: Im laufenden Jahr kostet die Sparpolitik jeden griechischen Haushalt 5600 Euro.[2] Damit muss jeder Grieche auf durchschnittlich 14% seines Prokopfeinkommens verzichten. Die Einkommenseinbußen drosseln den privaten Konsum. Das Wachstum schrumpfte dieses Jahr um über 5%. Die Steuereinnahmen sinken. Die Arbeitslosigkeit ist in zwei Jahren um rund 340.000 Personen gestiegen.[3] Offiziellen Zahlen folgend hat jeder sechste Grieche keine Arbeit. Folglich wächst der Schuldenberg – die Schulden umfassen das 1,6fache der jährlichen Wirtschaftsleistung – ungehindert weiter.
Merkel, Sarkozy und Kollegen stehen vor den Trümmern ihrer eigenen Politik. Es gibt aber keine Einsicht in das Scheitern. Im Gegenteil: Als Reaktion auf verfehlte Sparziele erhöht die Troika nun die Dosis der falschen Medizin. Jetzt soll Athen bis 2014 weitere 34 Mrd. Euro oder 15% seiner Wirtschaftsleistung einsparen.[4] Wenn diese Operation gelingt, dann ist der Patient endgültig tot.
Irrwege der Eurokrisenpolitik
Das Brüsseler und Berliner Spardiktat lässt Athen keine Chance, sich aus der Schuldenfalle zu befreien. Wenn die Wirtschaftsleistung schrumpft, kann der griechische Kassenwart nicht mehr einnehmen als er ausgibt. Allein für die Tilgung und Zinsen aller Kredite bräuchte Griechenland 2013 einen Haushaltsüberschuss vor Zinszahlungen – Primärüberschuss – von gigantischen 16%. Unterstellt wird dabei ein durchschnittliches nominales Wachstum von 3%.[5] Aktuell aber schrumpft die griechische Wirtschaft. Folglich ist es nur eine Frage der Zeit, bis Athen erneut kein Geld mehr hat. Dann wäre das dritte Rettungspaket fällig. Ob jedoch ein erneuter Rettungseinsatz gegen den wachsenden Unmut in den Reihen der Regierungsparteien und großer Teile der Bevölkerung durchgesetzt werden kann, ist mehr als fraglich.
Umschuldung
Das absehbare Ende weiterer Kredithilfen lässt ganz Europa über einen Schuldenschnitt diskutieren. Eine Umschuldung fordern auch die deutschen Oppositionsparteien. Nur so könne den Griechen geholfen und gleichzeitig die Banken an den Krisenkosten beteiligt werden.
Dabei wird häufig übersehen, dass eine Umschuldung große Risiken mit sich bringt. Zunächst besteht eine hohe Ansteckungsgefahr für andere Schuldenstaaten. Dies lehrt uns die Geschichte der Finanzkrisen.[6] Wenn Athen Pleite geht, wetten die Spekulanten sofort auf den Untergang Roms, Madrids oder Lissabons. Die Refinanzierungskosten der südeuropäischen Schuldnerstaaten würden explodieren. Die nächste Liquiditätskrise wäre vorprogrammiert.
Darüber hinaus droht dem unterkapitalisierten europäischen Bankensystem bei einer harten Umschuldung der Kollaps. Zwar haben die privaten Banken und Versicherungen inzwischen einen Großteil ihrer griechischen Anleihen abgestoßen. Ackermann, Blessing und Kollegen saßen zuletzt nur noch auf Forderungen in Höhe von rund 15 Mrd. Euro. Kritischer ist die Lage in Frankreich. Athen schuldet französischen Geldhäusern fast 40 Mrd. Euro.[7] Zudem würde ein umfangreicher Schuldenerlass für Athen sofort die griechischen Banken – mit 48 Mrd. Euro größter Gläubiger des griechischen Staates – ruinieren. Ein Zusammenbruch des hellenischen Bankensystems hätte aber unmittelbare Folgen für seine italienischen, spanischen, französischen und deutschen Geschäftspartner. Es drohen hohe Abschreibungen. Bereits heute misstrauen sich die Banken des alten Kontinents. Der Interbankenmarkt funktioniert nur noch eingeschränkt. Lieber deponieren die Banken ihr überschüssiges Geld bei der Europäischen Zentralbank.
Spätestens wenn in Rom und Mailand die Banken in die Knie gehen, beginnt in den Münchner und Frankfurter Glaspalästen das große Zittern. Folglich wehrt sich nicht nur Sarkozy mit Händen und Füßen gegen eine harte Umschuldung Athens. Es bleibt dabei: Eine Umschuldung ist kein ökonomisch und sozial vertretbarer Weg zur Überwindung der Krise. Das gilt im Übrigen auch für die Forderung nach einer geordneten Insolvenz Griechenlands. So lange es entfesselte Kapitalmärkte und unterkapitalisierte Banken gibt, kann es keine geordnete Insolvenz geben.
Deswegen fordern jetzt Umschuldungsbefürworter die Rekapitalisierung der europäischen Banken. Die Banken sollen mit so viel mit Kapital vollgepumpt werden, dass sie eine Staatspleite überleben können. In kritischen Fällen soll der Rettungsschirm (EFSF) helfen. Die EU-Staatschefs haben diese Forderung inzwischen übernommen. Über 100 Mrd. Euro sollen in die Kapitalpolster der größten Banken des alten Kontinents gestopft werden. Aus Sicht von IWF-Chefin Lagarde reicht das aber nicht aus. Sie schätzt den Kapitalbedarf der Geldhäuser auf das Doppelte.
Tatsächlich müssen die europäischen Banken sich dringend frisches Kapital beschaffen. Die Rekapitalisierung ist aber keine Alternative zur Rettung der Staaten. Man muss das Eine tun, ohne das Andere zu lassen.
Entscheidend in der zweiten Runde der Bankenrettung ist nicht das Ob, sondern das Wie. Deutsche Bank, Unicredit, Dexia & Co sind selbst für ihre dünne Eigenkapitaldecke verantwortlich. Im dritten Jahr nach der großen Finanzmarktkrise haben die Banker noch immer keine Lehren gezogen. Basel III – Eigenkapitalanforderungen – wurde von der Finanzlobby erfolgreich verwässert. Viele Banken sind also weiterhin zu groß zum Sterben. Dieselben systemrelevanten Banken tragen die Spareinlagen ihrer Kunden tagtäglich ins Casino. Wenn sich die Investmentbanker verzocken, zahlen weiterhin die SteuerzahlerInnen. Die Politik sieht dem Treiben tatenlos zu.
Die politischen Fehler der ersten Bankenrettung dürfen sich diesmal nicht wiederholen. Das Prinzip »Leistung nur für Gegenleistung« muss konsequent umgesetzt werden. Konkret bedeutet das: Zunächst müssen die Banken ihre Altaktionäre um frisches Kapital anpumpen. Darüber hinaus können die klammen Banken versuchen, neue Aktionäre und Gläubiger durch die Neuemission frischer Aktien und Anleihen an Bord zu holen. Erst wenn all diese Versuche gescheitert sind, sollte der Staat mit Steuergeld einsteigen. In diesem Fall ist die öffentliche Beteiligung denkbar günstig, da sich die Kurse im Keller befinden werden. Sobald der Staat Miteigentümer ist, muss er direkt Einfluss auf die Geschäftspolitik nehmen. Die notwendige Neuordnung des Bankensystems kann dann auch aus den Banken heraus in Angriff genommen werden. Die neue Geschäftspolitik und ein neues Regelwerk müssen dann so ausgerichtet werden, dass die systemischen Risiken der Finanzmärkte endlich überwunden werden (siehe weiter unten).
Euro-Ausstieg
Da die herrschende Deflationspolitik die hellenische Wirtschaft erdrosselt, ist heute nicht mehr auszuschließen, dass Griechenland schon bald auf eigenen Wunsch die Eurozone verlässt. Schließlich leidet der Lebensstandard der griechischen Bevölkerung täglich unter dem Brüsseler Spardiktat. Da liegt es nahe, nach einem Ausweg aus dieser Abwärtsspirale zu suchen. Ein Austritt aus der Währungsunion wäre eine solche – allerdings sehr schmerzhafte – Option.
Durch die Abwertung der neuen Nationalwährung könnte die hellenische Exportwirtschaft ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Diesem Vorteil stehen aber große Risiken gegenüber. Zunächst würden die Preise der importierten Güter und Dienstleistungen – hierbei handelt es sich überwiegend um Waren des täglichen Bedarfs – dramatisch steigen. Mittelfristig würden jedoch die teuren ausländischen Produkte durch günstigere heimische Produkte ersetzt werden. Eine Abwertung führt in der Regel zu massiver Kapitalflucht. Zudem würde die in Euro notierte hellenische Staatsschuld explodieren. Die Kapitalmärkte würden neue Kredite nur noch zu Wucherzinsen gewähren. Der Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten wäre somit versperrt. Die kriselnden Staaten müssten ein Schuldenmoratorium ausrufen.
Ein solcher sofortiger Zahlungsstopp wäre aber noch nicht der Anfang vom Ende. Denkbar wäre, dass Athen andere Kreditgeber – beispielsweise China oder Russland – findet. Kurzfristig würden auf Athen vermutlich schwere ökonomische und innenpolitische Verwerfungen zukommen. Die mittel- bis langfristigen Perspektiven für Athen sind unklar.
Nach dem Austritt Griechenlands würde der ökonomische und politische Druck auf die anderen Schuldenstaaten steigen. Sollten Spanien oder Italien ebenfalls die Eurozone verlassen, wäre die Währungsunion gescheitert. Für den Rest des Euroraumes wäre der Austritt dieser Länder mit schrumpfenden Exportmärkten verbunden. Das europäische Bankensystem müsste wieder auf die Intensivstation. Der europäische Integrationsprozess würde um Jahrzehnte zurückgeworfen.
Diese Irrwege der Eurokrisenpolitik spiegeln auch den traurigen Zustand der deutschen Eliten wieder. Die herrschende Politik und die Wirtschaftselite des Landes sind mit dem Krisenmanagement hoffnungslos überfordert. Sie sind kurz davor, den Euro-Tanker zu versenken, obwohl sie ein ureigenes wirtschaftliches Interesse am Fortbestand des gemeinsamen Währungsraumes haben. Die deutschen Eliten sind Gefangene ihres einzelwirtschaftlichen Denkens und Handelns sowie des daraus abgeleiteten neoliberalen Politikentwurfs. Die deutsche Wirtschaft setzt weiter auf reine Kostensenkungsstrategien und eine einseitige Exportorientierung. Dadurch wachsen die ökonomischen Ungleichgewichte im Euroland. Hinzu kommt die bornierte nationalstaatliche Ausrichtung der herrschenden Euro-Krisenpolitik. Beim Aufbau der Rettungsschirme – EFSF und ESM – wurden die Schulden der EU-Staaten nicht zu gemeinsamen Schulden – z.B. durch Eurobonds – erklärt. So können die Finanzmärkte auch weiterhin gegen jeden einzelnen Staat spekulieren. Darüber hinaus vergiften die bürgerlichen Parteien und Medien durch ihren populistischen Nationalismus das politische Klima auf dem alten Kontinent. So wird eine europäische Lösung der Krise verhindert.
Europa braucht einen Sprung nach vorn
Der Euro wird nur überleben, wenn Europa einen Sprung nach vorne macht und die wirklichen Ursachen der Krise überwindet. Diese liegen in der Fehlkonstruktion des Maastrichter Vertrages, in entfesselten Finanzmärkten und steigenden innereuropäischen Ungleichgewichten. Die EU muss an Haupt und Gliedern reformiert werden. Erforderlich sind eine neue Wachstumsstrategie, eine Niedrigzinspolitik für die Schuldnerstaaten, eine Reform der Finanzmärkte, die Koordinierung von Lohn-, Sozial- und Steuerpolitiken sowie eine Europäische Wirtschaftsregierung.
Kurzfristig braucht der alte Kontinent eine gemeinsame Wachstumsstrategie und ein europäisches Schuldenmanagement. Griechenland und seine südeuropäischen Nachbarn brauchen Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz. So hat Athen große Potenziale in den Bereichen maritime Industrien und Dienstleistungen, Tourismus und Pharmaindustrie. Deswegen sollte jetzt ein Marshallplan für Südeuropa aufgelegt werden. Ein solches Investitions- und Entwicklungsprogramm kurbelt den südeuropäischen Wachstumsmotor wieder an und bekämpft die hohe Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig sollte ein New Deal zur Verbesserung der europäischen Infrastruktur und Umwelt (Transportwesen, Telekommunikation, Umweltschutz) weitere Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung Europas setzen.
Darüber hinaus müssen die Überschussländer ihre Binnennachfrage ankurbeln. Eine Schlüsselrolle fällt hier Deutschland zu. Das größte Überschussland kann durch eine veränderte wirtschaftspolitische Strategie helfen, die Defizite der Krisenländer abzubauen. Dafür muss aber die chronische deutsche Lohnschwäche durch eine Austrocknung des Niedriglohnsektors und eine politische Stärkung des Tarifsystems überwunden werden. Gleichzeitig müssen die öffentlichen Investitionen kräftig aufgestockt werden. Ein kräftig wachsender Binnenmarkt der größten Volkswirtschaft des Eurolandes verbessert auch die Absatzchancen spanischer, italienischer und griechischer Exporteure. Schließlich muss die deflatorische Sparpolitik in den Schuldenländern sofort gestoppt werden.
Wachstum allein reicht aber nicht aus. Gleichzeitig müssen die Zinsen runter. Die Notfallkredite sollten zu günstigeren Konditionen vergeben werden. Zudem muss Brüssel endlich die Schulden aller Mitgliedstaaten garantieren und Eurobonds ausgeben. Eurobonds sollten sowohl für bestehende Staatsschulden als auch für die Neuverschuldung ausgegeben werden. Sie können die Finanzierungskosten der Schuldnerstaaten erheblich senken. Die Entschuldungspolitik der USA und Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg verdeutlicht die Bedeutung niedriger Zinsen. Durch eine staatliche Kontrolle der Zinsen für Staatsanleihen und Ersparnisse gelang es beiden Staaten bei gleichzeitiger Einschränkung des internationalen Kapitalverkehrs die Staatsschulden sehr rasch zu reduzieren. Diese erfolgreiche Politik der Finanzrepression zeigt, wie wichtig es auch heute ist, mit den Mitteln der Schuldengarantie und der Eurobonds die Zinsen für die Schuldnerstaaten drastisch zu reduzieren.
Den skizzierten Sofortmaßnahmen müssen grundlegende Reformen der europäischen Institutionen und Regulierung folgen. Zentral ist zunächst eine Reform der europäischen Finanzmärkte. Entfesselte Finanzmärkte haben die Eurokrise verschärft. Die Staatsfinanzen hängen am Tropf der Kapitalmärkte. Die Staaten müssen endlich aus der Geiselhaft der Finanzmärkte befreit werden.
Banken, die zu groß zum Sterben sind (too big to fail), darf es zukünftig nicht mehr geben. So könnten progressive Eigenkapitalquoten zukünftig als Wachstumsbremsen für Finanzinstitute fungieren. Investmentbanking und das Geschäft mit Spareinlagen und Unternehmenskrediten könnten getrennt werden. Ziel dieser Maßnahmen ist ein Finanzsystem ohne systemrelevante Finanzinstitute. Darüber hinaus muss ein europäischer Finanzmarkt-TÜV in Zukunft über die Zulassung von Finanzmarktprodukten entscheiden. Der Handel mit Kreditausfallversicherungen muss verboten werden. Private Rating-Agenturen müssen durch eine öffentliche Europäische Rating-Agentur entmachtet werden.
Der radikalste Schritt zur Euro-Rettung wäre eine weitgehende Entkoppelung der Staatsfinanzen von den Kapitalmärkten in Form einer direkten Staatsfinanzierung durch die Zentralbank. Dies ist in den USA, Japan und Großbritannien gängige Praxis. Lediglich auf dem alten Kontinent verbietet die EZB-Satzung die direkte Staatsfinanzierung. Aktuell könnte aber der neu geschaffene Rettungsschirm (EFSF) mit einer Banklizenz ausgestattet werden.[8] Dann könnte die Zentralbank den Rettungsschirm finanzieren und ihn mit unendlicher Finanzkraft ausstatten. Die Spekulation auf die Pleite einzelner Staaten wäre von heute auf morgen beendet. Und die Finanzierung der Schuldenstaaten wäre dauerhaft abgesichert.
Damit aber nicht genug. Wir brauchen auch eine Koordinierung der Lohn-, Sozial- und Steuerpolitiken in der EU. Eine enge Abstimmung der Lohn-, Sozial- und Steuerpolitiken erschwert Dumpingstrategien. Dadurch wird der Abwärtsspirale bei Löhnen, Sozialausgaben und Steuern im System der Wettbewerbsstaaten entgegengewirkt. So können die Ungleichgewichte in den Handels- und Kapitalströmen der Eurozone abgebaut werden. Voraussetzung für eine koordinierte Lohnpolitik ist jedoch, dass die Gewerkschaften auch in der Lage sind, die nationale Lohnentwicklung zu steuern. Dies ist in vielen Euroländern heute nicht mehr der Fall. Hier besteht akuter politischer Handlungsbedarf.
Es gibt aber auch ökonomisch schädliche Formen der Koordinierung. Beispiele hierfür sind der Stabilitäts- und der Euro-Plus-Pakt. Letzter basiert auf dem Irrtum, dass die Ungleichgewichte zurückgehen, wenn sich alle Staaten der deutschen Zwangsdiät unterziehen. Es können aber nicht alle Staaten gleichzeitig Überschüsse erzielen. Der Pakt verschärft nur die schuldentreibende Deflationspolitik in Europa.
Der wichtigste Reformschritt wäre eine Europäische Wirtschaftsregierung. Die Währungsunion braucht eine Politische Union. Eine demokratisch legitimierte Europäische Wirtschaftsregierung könnte künftige Krisen konjunkturpolitisch effektiv bekämpfen. Eine solche Wirtschaftsregierung könnte die Wettbewerbsfähigkeit Südeuropas mit Hilfe einer europäischen Industrie- und Dienstleistungspolitik verbessern. Durch einen umfangreichen Finanzausgleich könnten innereuropäische Entwicklungsunterschiede verringert werden. Eine Europäische Wirtschaftsregierung erfordert aber auch eine Stärkung des Europäischen Parlaments. Noch heute fällt die demokratische Ausgestaltung der EU hinter die Errungenschaften der Französischen Revolution zurück.
Nur ein großer Sprung nach vorn kann die Europäische Union und den Euro dauerhaft stabilisieren. Diese Reform ist im Interesse aller europäischen Staaten. Um den großen Sprung zu realisieren, müssen die Euroländer erkennen, dass eine gemeinsame Währung weit mehr braucht als eine Europäische Zentralbank. Es bedarf qualitativ neuer Integrationsschübe in Richtung einer Politischen Union. In früheren Krisen konnte sich Europa stets am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Dies war nach der Politik des »leeren Stuhls« de Gaulles möglich, als mit dem Haager Gipfel von 1969 der Integrationsprozess neuen Schub bekam. Dies war auch 1987 der Fall, als mit der Einheitlichen Europäischen Akte und dem Binnenmarktprojekt eine lange Phase des Integrationsstaus überwunden wurde. Die Maastrichter Verträge waren hingegen ein Rückschritt. Die Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion, die auch durch den Lissabon-Vertrag nicht geheilt wurden, stürzten Europa in eine tiefe Krise. Die EU braucht erneut die Kraft für eine Radikalreform an Haupt und Gliedern. Es ist zu hoffen, dass ihr ein solcher Sprung nach vorne gelingt. Sonst endet die griechische in einer europäischen Tragödie.
Dierk Hirschel ist Bereichsleiter Wirtschaftspolitik, Europa, Internationales der Gewerkschaft ver.di.
[1] Horn, Gustav/Lindner, Fabian/Niechoj, Torsten/Truger, Achim/Will, Henner: Voraussetzungen einer erfolgreichen Konsolidierung Griechenlands, IMK Report, Nr.66, 10/2011
[2] FTD, 20.10.2011, S. 14
[3] Ebenda
[4] Horn et al.
[5] Berechnungen von Heinz-Dieter Smeets (2010): Ist Griechenland noch zu retten?, in: Wirtschaftsdienst, Nr. 5, S. 309-313
[6] Vgl. Reinhart, C.M./Rogoff, K.S. (2010): Dieses Mal ist alles anders – Acht Jahrhunderte Finanzkrisen, Finanz Buch Verlag, München, S. 336ff.
[7] Bank für Internationalen Zahlungsaustausch (BIZ)
[8] Eine solche Konstruktion entspräche der von den deutschen Gewerkschaften geforderten »Bank für öffentliche Anleihen«.