1. September 2004 Klaus Bullan

"Fahrenheit 9/11"

Michael Moores Film hat Aufsehen erregt. Als erstem Dokumentarfilm seit 50 Jahren wurde ihm in diesem Frühjahr die Goldene Palme bei den Filmfestspielen in Cannes verliehen – frenetisch bejubelt mit standing ovations. Er ist der erfolgreichste Dokumentarfilm aller Zeiten in den USA, gemessen am Einspielergebnis – und das wird er wohl auch in Europa werden. Er löst damit seinen eigenen Vorgänger in dieser Sparte – Bowling for Columbine – ab. Versuche der Disney-Studios, den Verleih zu behindern, sind gescheitert. Der Film hat eine breite Diskussion in den USA ausgelöst und spielt eine bedeutende Rolle im Präsidentschaftswahlkampf 2004. Über Inhalt und Form des Films ist eine kontroverse Auseinandersetzung im Gang.

Der Film beleuchtet einige Aspekte des politischen Geschehens in den USA der letzten vier Jahre, vor allem seit der Wahl George W. Bushs zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Im Fokus steht die Politik der Bush-Administration, der 11. September 2001 und seine Folgen. Er beginnt mit dem Skandal der Bush- Wahl, den Moore als Komplott von rechtskonservativer Presse, Vetternwirtschaft in Legislative, Exekutive und Judikative sowie als Folge eines erbärmlichen Auftretens der Demokraten beschreibt. Die These ist, dass ein unfähiger und dümmlicher Ex-Präsidentensohn unrechtmäßig in das höchste Amt der Vereinigten Staaten gekommen ist, gegen den Widerstand breiter Teile der – vor allem schwarzen – Bevölkerung, die aber gegen das politische System und die Kumpanei von Republikanern und Demokraten nichts ausrichten kann. Visualisiert wird diese These durch Aufnahmen aus dem Parlament, in dem zahlreiche schwarze Antragsteller mit der Anfechtung der Wahl wegen fehlender Unterstützung des Antrags durch auch nur einen einzigen Senator scheitern.

George W. Bush wird als unfähiger Geschäftsmann und überforderter Präsident gezeigt, der lieber Urlaub macht, als sich den Problemen des Landes zu stellen, der folgerichtig auch die Gefahren des Terrorismus ignoriert und hilflos den Anschlägen am 11.9. gegenübersteht, solange ihm niemand sagt, was er tun soll.

Die Familien Bush, BinLaden und die "Saudis" wollen ihre guten Geschäftsbeziehungen nicht gefährden, und so wird Usama als schwarzes Schaf der Familie betrachtet und nur halbherzig gejagt, stattdessen der Angriff auf den Irak vorbereitet und durchgeführt.

Der Krieg gegen den Irak und seine Folgen für die irakische Bevölkerung und die amerikanischen Soldaten und ihre Familien stehen im Mittelpunkt des zweiten Teils des Films.

Ernsthafte Zweifel an den im Film dargestellten Tatsachen sind – abgesehen von Details – nicht erhoben worden. Der Wahlbetrug bei den Auszählungen der Stimmen in Florida, wo Bushs Bruder regiert, das Ignorieren warnender Geheimdienstdossiers vor dem 11. September, die Vortäuschung der irakischen Massenvernichtungswaffen und die Angriffe der US-Armee auf die Zivilbevölkerung im Irak sowie die Grausamkeiten gegenüber Kriegsgefangenen sind ausreichend dokumentiert.

Es ist verdienstvoll, gegen das Vergessen der Arbeit der Bush–Administration in den letzten vier Jahren mit diesem Film anzugehen und noch einmal im Zusammenhang zu zeigen, wie diese Regierung ins Amt kam und was sie und ihre vielen Helfer in Politik und Wirtschaft in dieser Zeit angerichtet haben. Der Erfolg des Films erklärt sich zu einem guten Teil daraus. Er wird als ein Stück Gegenöffentlichkeit wahrgenommen, von den Medien unterdrückte Stimmen, Meinungen und Zusammenhänge verschaffen sich Gehör. Das Amerikabild wird durch eine Facette ergänzt. Insofern ist Moores Film eher patriotisch als antiamerikanisch.

Dennoch kann die Grundaussage von Moore nicht überzeugen. Es ist m.E. nicht nur grob vereinfachend, die Außenpolitik der letzten vier Jahre als Ergebnis von Dummheit und Faulheit (George W. Bush) und als wirtschaftliche Interessenpolitik der Familie Bush (Halliburton, Ölindustrie) darzustellen, sondern schlichtweg falsch. In den Kriegen gegen Afghanistan und Irak ging es um die hegemoniale Stellung der USA in einer Welt des Umbruchs, um strategische Allianzen und den Versuch, neue globale Stabilität zu etablieren unter Führung der USA. Beide Kriege konnten sich in den USA auf eine breite Zustimmung fast aller politischen Kräfte und in der Bevölkerung stützen. Die Darstellung Bushs erinnert fatal an den Fehler großer Teile der Linken hierzulande, die Helmut Kohl ("Birne") und damit auch die tiefgreifenden Veränderungen in seiner Regierungszeit lange Zeit unterschätzt haben.

Überzeugend sind die dargestellten Szenen mit George W. Bush nur für diejenigen, die meinen, man könne einen Bush "weglachen". Subversiv war das Sich-Lustig-Machen über die Herrschenden allenfalls in vordemokratischen Zeiten gegenüber absoluten Herrschern. Insofern hat der Film für Moore auch die Aufgabe, die Zuschauer dazu zu ermutigen, ihren Präsidenten im November 2004 abzuwählen. Ob ihm das gelingt, ist zweifelhaft, aber der Versuch ist unterstützenswert. Ist ein solches Unterfangen legitim, oder ist die Grenze des Dokumentarfilms überschritten, handelt es sich gar um Propaganda?

Die Eins-zu-eins-Wiedergabe der Wirklichkeit ist im Dokumentarfilm nicht möglich, das Filmen verändert bereits diese Realität. So gesehen kann man das Genre so definieren, dass alles in diesen Bereich gehört, was nicht durchgängig inszeniert ist. Die Montage unterschiedlichen Originalmaterials, das Unterlegen mit Musik, Interviews und Kommentierungen und das Einspielen kurzer Inszenierungen und Tricksequenzen gehört dazu und wird eher als Feature bezeichnet. Grundsätzlich ist das Anliegen und sind die Mittel Moores aus meiner Sicht legitim – doch sind sie auch gelungen?

Der Film lebt oft von der Konfrontation von Widersprüchen. Angesichts des langweiligen Einerleis von Politikerstatements, der Inhaltsleere in Stellungnahmen von 1.30 Minuten im Fernsehen, ist die Konfrontation von Geschehnissen und Statements aufklärend. Wenn ein US-Soldat sagt, er verstehe nicht, warum man im Irak gehasst werde und zuvor blutüberströmte Kinder gezeigt werden, ist Zusammenhang hergestellt. Wenn Bush nach der Verkündung einer Entscheidung, die Menschenleben kostet, auf dem Golfplatz weitermacht ("Und jetzt sehen Sie sich mal diesen Schlag an"), so ist damit viel über Zynismus in der Politik und die Realitätsferne der politischen Klasse gesagt. Aber was will uns Moore damit sagen, dass er einen Justizminister scheußlich durchs Mikrofon singend zeigt oder Wolfowitz unappetitliche Dinge mit seinem Kamm macht? Sind sie Menschen wie du und ich?

Wenn Bush, unmittelbar nachdem er die Nachricht von den Angriffen am 11. September erhalten hat, zehn Minuten lang in ein Kinderbuch starrt, so soll das Dumpfheit und Entscheidungsunfähigkeit ausdrücken. Andererseits wird er als heißsporniger Bonanza-Cowboy dargestellt.

Moore ist selbst nicht frei von Vorurteilen, die Darstellung jedes Mannes mit Kopftuch als machtbesessener skrupelloser Ölscheich, die verächtliche Darstellung von kleinen Staaten, die die USA im Irak-Krieg unterstützen, wie Palau, Marokko, Island und die Niederlande, grenzt schon an Rassismus.

Die distanzlose Darstellung der Mutter eines gefallenen US-Soldaten in ihrem Leid, die zuvor selbst den dumpfen Patriotismus vertreten hat, gegen den Moore angehen will, beutet dieses Leid aus und hinterlässt einen faden Beigeschmack.

Am besten gelungen sind die Szenen, in denen Moore die Soldaten im Irak- Krieg zeigt, zusammen mit den Bildern über diesen Krieg. Das ist so noch nicht gezeigt worden. Die jungen Soldatinnen und Soldaten erscheinen in den Kurzinterviews einerseits als unbefangen erlebnishungrig, wenn sie zu der Musik, die die Jugend auf der ganzen Welt hört, mit Panzern schießen oder Bomben abwerfen. Andererseits reflektieren sie nach kurzer Zeit im Krieg ihre Erfahrungen mit dem fremden Land, haben Angst und wollen schnell nach Hause. Das Gegenstück dazu bilden die Rekrutierer in Moores Heimatstadt Flint, die in den sozialen Brennpunkten auf Jagd gehen und mit schamlosen Versprechungen Jugendliche für die Kriegsarbeit anwerben wollen. Hier wird endlich einmal der Zusammenhang zwischen der Kriegspolitik der Bush-Administration und der sozialen Realität in den USA aufgegriffen. Es sind natürlich nicht die Kinder der politischen und wirtschaftlichen Eliten in den USA, die an vorderster Front für ihre Interessen, ihr Land oder ihre Ideale kämpfen – das überlassen sie in kluger Überlegung den anderen.

Klaus Bullan ist Lehrer in Hamburg.

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