25. April 2012 Elisabeth Gauthier / Bernhard Sander

Frankreich: Vor einem Hegemoniewechsel?

Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in Frankreich ist bei weitem nicht jene euphorische Spannung festzustellen, wie sie 1981 vor dem Wahlsieg des Sozialisten Mitterrand über dem Land lag.

Die Wahlbeteiligung war zwar mit fast 80% unerwartet hoch: Davon entfielen auf den Amtsinhaber Sarkozy 27,2%, auf den Sozialisten Hollande 28,7%. Insgesamt hat die Linke, wenn man ihre Kandidaturen addiert, 43,6% der Stimmen bekommen. Bei den Wahlen 2007 waren es 36%. Dazu beigetragen hat das gute Abschneiden des Kandidaten der Front de Gauche, Mélenchon, der 11,1% der Stimmen auf sich vereinigen konnte.

Auf der rechten Seite des politischen Spektrums haben Sarkozy und vor allem Bayrou massiv verloren, während die Rechtspopulistin Marine Le Pen deutlich zugelegt und die Wählerbasis des Front National erweitert hat. Sarkozy kam auf einen Stimmenanteil von 27,2% (31,2) und der »Mann des Zentrums« Bayrou auf 9,13% (18,5%). Marine Le Pen mit ihrem Front National (FN) erreichte 17,9% nach 10,44% im Jahr 2007.

Auf unterschiedliche Weise wurde mit dem Wählervotum zum Ausdruck gebracht, dass eine Mehrheit der Franzosen die Nase voll hat von der Politik des bisherigen Präsidenten der Republik. Gleichzeitig wurden Verschiebungen im politischen System deutlich. Die Ergebnisse dieses ersten Wahlganges müssen mehr als Ausdruck einer großen Verunsicherung und Frustration interpretiert werden, denn als aufflackernder Enthusiasmus für ein neues politisches Programm. Gleichwohl haben sich die Gewichte im Vergleich zu 2007 leicht von Rechts nach Links verschoben.

Dabei hat der Kandidat der PS deutlich davon profitiert, dass der Amtsinhaber nicht nur die sozialen Spaltungen im Lande vertieft hat. Sarkozy ist vor allem an der Bewältigung der großen Krise gescheitert, deren zeitliche und ökonomische Dimensionen seit 2008 das Erwartete übertrafen. Die Konsolidierungsbemühungen zur Sicherung der Vermögensansprüche konnten gar nicht so schnell und so tief erfolgen wie die Garantien für das Bankensystem und damit die Staatsverschuldung erhöht werden mussten. Sarkozys 2007 geschmiedeter »Block der Leistungswilligen« unter Einschluss großer Teile der rechtsradikalen Anhängerschaft der Nationalen Front zerbrach daran.

Gleichwohl will der Noch-Präsident sein historisches Versagen jetzt in einen Wahlvorteil ummünzen. Sarkozys enger Berater Henri Guaino warnte vor einer neuen Wirtschaftskrise, sollte Hollande gewinnen. »Es gibt die große Gefahr, dass wir den Weg der 30er-Jahre noch einmal wiederholen. Mit einer Wirtschaftskrise, die sich zu einer weltweiten sozialen und politischen Krise entwickelt.« Deswegen müsse Sarkozy im Amt bleiben. »Ja, es gibt die Gefahr, dass das alles in einer Katastrophe endet«, sagt Guaino. Sarkozy kündigte für den 1. Mai eine Veranstaltung seiner Partei über »die wirkliche Arbeit« an – ein an Pétain erinnerndes Gegenmodell zu den Großkundgebungen der Gewerkschaften.

Viele Stimmen für Hollande wurden ohne Enthusiasmus abgegeben, einerseits gegen Sarkozy, andererseits um Le Pen zu verhindern. Zur Wahl des Sozialisten haben sich angesichts des Drucks für eine »nützliche« Stimmabgabe schließlich auch potentielle Mélenchon-WählerInnen entschlossen. Die Front de Gauche (FG) hatte ihrerseits vorgeschlagen, Sarkozy abzuwählen und gleichzeitig die Perspektive für eine neue Politik – und nicht nur den Mehrheitswechsel (»alternative« statt »alternance«) zu eröffnen. Dies sei auch das wirksamste Mittel zur Zurückdrängung der FN-Offensive.

Der FN konnte mit seiner politischen Positionierung als angebliche »Antisystempartei« mehr Stimmen denn je bei einer Präsidentschaftswahl sammeln. Somit ist denkbar, dass Sarkozy tatsächlich abgewählt wird, ohne dass klar ist, worin die Politik der nächsten Jahre bestehen soll. Eines der Ziele der Linken, die vorherrschende Stimmung »Alles außer Sarkozy« in eine Debatte über Alternativen zu überführen, konnte nur in begrenztem Umfang erreicht werden.

Die politischen Kräfteverhältnisse für die kommende Periode werden sich in den Wahlen der nächsten Monate weiter verschieben – sowohl im 2. Wahlgang für die Präsidentschaft als auch in den nachfolgenden Parlamentswahlen. Für den Front National ist eine weitere Ausdehnung seines politischen Terrains zu erwarten, weil in ca. 100 Wahlkreisen mit so genannten triangulaires gerechnet werden muss, wo der FN im 2. Wahlgang neben den beiden vorne liegendenden Kandidaten im Spiel bleiben und damit insbesondere die Lage für die UMP noch ungemütlicher machen kann.[1] Le Pen hat einen Rekord in der Präsidentschaftswahl erreicht: In 11 von 22 Regionen sowie in 43 Départements hat sie mehr als 20% der Stimmen bekommen. Ihr schlechtestes Ergebnis erreicht sie in Paris mit 6,2%. In mancher Regionen, z.B. in Nordfrankreich sowie in Provence-Côte d’Azur, liegt sie vor Sarkozy.


Die Rechte

Der Front National ist zweifellos eine große Gefahr für die Zukunft der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung. Marine Le Pen kündigt an, dass »der Kampf um Frankreich erst beginne«, dass sie in Zukunft die »Partei der Patrioten auf der Seite der Rechten wie auch der Linken« sein werde, weil es im linken wie rechten Lager »Souveränisten« gebe. Sie interpretiert die gewonnenen Stimmen nicht als Protest, sondern als »eine Wahl der Zustimmung zu einer protektionistischen Politik«. Während es in der UMP nach dem Scheitern von Sarkozy heftigen Streit um die Nachfolge geben werde, werde Le Pen zur Chefin der Opposition werden, meint ihr Wahlkampfleiter, der gleichzeitig ankündigt, sich persönlich der Stimme im 2. Wahlgang zu enthalten.[2] Die Strategie ist also klar: Die Rechtspopulisten setzen darauf, dass eine Niederlage Sarkozys das bürgerliche  Lager so durcheinanderwirbelt, dass es zu einem Zusammenbruch der UMP kommt und damit zu einer Neuordnung der politischen Rechten, in der dann der FN eine zentrale Rolle spielen könnte. Stimmenthaltung beim 2.Wahlgang und ein möglichst hoher Druck bei den Parlamentswahlen werden die nächsten Schritte in diese Richtung sein.

Marine Le Pen hat gegenüber der letzten Wahl 2007 breitere Wählerschichten angesprochen und gewonnen. Seit sie im Januar 2011 ihren Vater an der Parteispitze abgelöst hat, sind die Umfragewerte für die Partei wieder gestiegen. Es ist ihr gelungen, das Lager des rechten Protestwählerpotenzials zu mobilisieren und zusammenzuführen. Inwieweit sie darüber hinaus neue Wählerschichten gewinnen konnte, wird die Wahlauswertung zeigen. So hat Le Pen beispielweise versucht, die BildungsarbeiterInnen und LehrerInnen von gemeinsamen Interessen zu überzeugen. »Lange Zeit gab es Missverständnisse zwischen uns. Lange Zeit haben wir das Gefühl vermittelt, dass wir Sie als Feinde betrachten. Lange Zeit wussten wir nicht, wie wir mit Ihnen sprechen sollten, welche Worte wir wählen sollten. […] Lange Zeit haben wir fälschlicherweise gedacht, Sie seien an der Zerstörung der Schule beteiligt oder ließen sie einfach geschehen. Auf die große Mehrheit unter Ihnen trifft das aber gar nicht zu, und deshalb ist diese Zeit jetzt vorbei.«

Marine Le Pen und ihre Gefolgsleute versprechen einen »starken Staat« und die Rücknahme der 2007 eingeführten und sehr unpopulären Reformen im öffentlichen Dienst, die einen massiven Stellenabbau im Beamtenapparat zur Folge hatten. Die politischen Positionen von Frau Le Pen zur inneren Sicherheit und zur Einwanderung sind nach wie vor stramm rechtsradikal. So fordert sie, die »legale Immigration« einzuschränken und das Geburtsortsprinzip beim Erwerb der Staatsbürgerschaft abzuschaffen. An einigen Stellen wählt sie zwar mildere Formulierungen als ihr Vater – aus seinem Lieblingsslogan »préference nationale«, der Bevorzugung von Franzosen bei der Vergabe von Arbeitsplätzen und Sozialleistungen, wird bei der Tochter die »priorité nationale« –, gemeint aber ist das Gleiche.
In den letzten Tagen vor der Wahl wurde die Angst vor Le Pen noch einmal stark angeheizt – z.B. mittels einer Titelseite von Libération drei Tage vor der Wahl mit einem Riesenphoto von »Le Pen als Bedrohung!!« –, um damit die Reflexe der Wähler zugunsten von Sarkozy oder Hollande zu mobilisieren. Sarkozy ist es allerdings nicht gelungen, die FN-Stimmen aufzusaugen.

Nur der Front de Gauche hat tatsächlich eine Offensive gegen Le Pen geführt und ihren systemerhaltenden Charakter aufgezeigt. Mit der Angst vor Le Pen wird der Bipartismus stabilisiert, d.h. die Vorherrschaft der bisherigen Träger des politischen Systems, obwohl deren soziale Basis und Gewicht durch die soziale und politische Krise erodieren. Gleichzeitig produzieren die Herausbildung einer Oligarchie und ihre mangelnde demokratische Legitimation reichlich Nahrung für den FN. Und: Es gelingt dem FN – von Sarkozy und seinen oft sehr rechten Mitstreitern unterstützt –, die politischen Themen zu bestimmen. Obwohl 77% der befragten Franzosen die Arbeitslosigkeit als ihre größte Sorge angeben, je 53% die Frage der Kaufkraft und die Qualität des Gesundheitswesens, 49% das Schulwesen und die Qualität des Unterrichts, und nur 15% die Integration der unterschiedlichen sozialen Komponenten der Gesellschaft,[3] wird der Frage der Immigration ständig ein unverhältnismäßig großer Raum in der politischen Debatte eingeräumt.

Der FN täuscht Systemkritik vor, ohne tatsächlich die Grundfragen der ökonomisch-sozialen Entwicklung aufzugreifen. Er spielt damit für politische Rechte und Unternehmer die Rolle eines »nützlichen Teufels« (François Delapierre), der die Debatte von den reellen Problemen ablenkt und die Formierung von Klassenbewusstsein verhindert.

Der Front de Gauche konnte Punkt für Punkt mit politischen (und nicht moralischen) Argumenten zeigen, wie sehr Le Pen den entgegengesetzten Klassenstandpunkt einnimmt. Es ist interessant zu beobachten, dass Le Pens ideologischer Diskurs nur funktioniert, solange sie nicht auf präzise Argumente zu antworten hat. Wenn das aber der Fall ist (und nur Mélenchon nimmt diese offensive Position ein), wird sichtbar, dass sie sich tatsächlich weit Rechts befindet.

Sarkozy hat nur in 15 Départements mehr als 30% der Stimmen gewinnen können und scheint insgesamt politisch isoliert. Im 2. Wahlgang gleichzeitig Stimmen von der rechtspopulistischen Le Pen und dem »mittigen« Bayrou zu gewinnen, kommt einer Quadratur des Kreises gleich. Ob mit der Drohung eines Angriffs der Finanzmärkte noch einmal das Bild von Sarkozys schützender Hand aufgebaut werden kann, muss bezweifelt werden.

Die Attentate von Toulouse und Montauban kamen dem früheren Innenminister und Chef der Geheimdienste ganz gelegen, um seine Strategie der Ausländerfeindlichkeit mit allem staatsmännischen Pomp zu zelebrieren, wie es einem Dustin Hoffman alle Ehre gemacht hätte. Die Frage, woher der Attentäter, der sich mehrfach stellen wollte, ein Waffenlager moderner Schnellfeuerwaffen aufbauen konnte, bleibt bis heute unbeantwortet. Sarkozy und sein Innenminister drehten ihre Argumentation immer weiter nach rechts, um den eigenen Block wieder zu stabilisieren. Doch vermochte es Sarkozy nicht, mit einer durchschlagenden Formel (einst: »Härter arbeiten, um mehr zu verdienen«) ein kohärentes Programm der wirtschaftlichen Ertüchtigung und des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu präsentieren. Er wollte weiter machen mit dem Abbau der Staatsbeschäftigten, verlängerte ein wenig das Arbeitslosengeld, verschärfte die Zumutbarkeitsregelungen für Langzeitarbeitslose, erhöhte kurzfristig die Mehrwertsteuer um 1,5% usw. und versprach einen ausgeglichenen Haushalt ein Jahr früher als sein sozialdemokratischer Mitbewerber. Die Staatsverschuldung war in Sarkozys Amtszeit trotz immenser Kürzungen gestiegen. Die Franzosen haben nicht über ihre Verhältnisse gelebt. Entscheidend war, dass die Regierung ein kollabierendes Bankensystem retten wollte, an dem wiederum der überschuldete Unternehmenssektor hängt.

Die Linke

Hollande trat ursprünglich an mit 60 Forderungen der maßvollen Steuererhöhungen und eines sozial ausgewogenen Konsolidierungskurses. Wie sein Konkurrent unterstellte er dabei ziemlich unrealistische Wachstumsraten des BIP. Lediglich der Vorschlag einer Investitionsbank für den Mittelstand zeigte Ansätze einer aktiven Industriepolitik. Erst als sich die Links-Dynamik des Wahlkampfes entfaltete, gaben die Sozialdemokraten ihrem Programm einen linken Charakter.

Erst nachdem die Forderungen der Front de Gauche Zulauf bekamen, machte Hollande in einer Wahlkampfrede den Vorschlag einer 75%-Einkommensteuer für die Reichen, um tags darauf schon wieder zu relativieren, es seien ja nur die 3.000 reichsten Franzosen gemeint. Erst in seiner Pariser Wahlrede vom 19. März ging der Kandidat Hollande über sein im Januar veröffentlichtes Programm hinaus und verlangte die Satzung der EZB so zu verändern, dass der Europäische Stabilitätsmechanismus direkt auf die Liquidität der EZB zugreifen könne. Zwar hatte Hollande im Wahlprogramm bereits davon gesprochen, den Fiskalpakt neu zu verhandeln. Aber erst, nachdem der Sarkozy nahestehende »Figaro« den früheren EU-Kommissionspräsidenten Delors in die Debatte gebracht hatte, um die PS als unentschlossen dastehen zu lassen, präzisierte Hollande, dass er eine Wachstumskomponente in das Vertragswerk einbringen will.

Hollandes Wahlkampfmanager Moscovici sagte, der Sieg sei zum Greifen nahe. Der Kandidat sei sich jedoch der Schuldenkrise bewusst, mit der jede linke Regierung konfrontiert werde. Die Unsicherheit in der französischen Wirtschaft könnte mindestens bis zu den Parlamentswahlen im Juni anhalten. Jüngste Konjunkturdaten weisen auf eine Eintrübung der Stimmungslage in der Wirtschaft hin. Der mögliche Machtwechsel in Frankreich hat viele Anleger verunsichert.

Der französische Unternehmenssektor, der die zweithöchste Verschuldung im G8-Raum ausweist, leidet unter einem angeschlagenen Bankensektor, der kaum noch Kredite vergibt und Tilgungen immer härter eintreibt, um nicht selbst kaputtzugehen. Daran gemessen konnten die Privathaushalte ihre Vermögenspositionen schonen, auch dank einer Politik massiver Steuersenkungen. Explosive Fragen der Wirtschaftspolitik wie die relative Verteuerung der Kredite für die Unternehmen, die Wachstumsschwäche der französischen Nationalökonomie, die weiter ansteigende Arbeitslosigkeit, die kritische soziale Lage, der Druck der aktuellen Euro-Logik sowie Inhalt und Ratifikation des Fiskalpaktes werden zu den ersten Aufgaben des künftigen Präsidenten zählen.

Einige linkere Akzente der sozialdemokratischen PS verdanken sich einerseits dem Spielraum, den die Schwäche Sarkozys eröffnete, der am Ende des Wahlkampfes seinerseits die EZB stärker in eine »Wachstumsstrategie« einbeziehen wollte. Andererseits ist der wachsende Zulauf der Front de Gauche zu einer Gefahr geworden. Das für die Linke der Linken verhängnisvolle Argument der »nützlichen Wahl« schien weniger zu ziehen und damit die relativ starke Position Hollandes gegenüber den beiden rechten Konkurrenten gefährdet.

Hollandes Sozialdemokraten stehen unter Druck der Linksfront. Die französische Gesellschaft ist tief zerklüftet: Die Arbeitslosigkeit stieg in Sarkozys Amtszeit von 7,8 auf 10,5%, die Jugendarbeitslosigkeit auf 23% und die der MigrantInnen ist mit 15,3% fast doppelt so groß wie für den Rest. Frankreich registriert acht Millionen Arme. Auf diese Zerrissenheit versucht das Bündnis um Mélenchon zu antworten mit einer neuen Konzeption einer solidarischen und gemischten Gesellschaft (»société métissée«), der Forderung nach Teilhabe eingebettet in die Forderung nach einer sechsten Republik, nach einer sozialen Neugründung des Staates, indem das Volk selbst die Macht ergreift – so ein Plakat. Mit gut 11% gelang es der Linksfront, das einst zerfallene Lage von Kommunisten, Globalisierungsgegnern, Linkssozialisten und Linksradikalen erstmals politisch zu einen.

Die Linksfront ist gegründet worden als Wählerbündnis, das sich »nicht als Koalition von Parteien, sondern vielmehr als eine Partnerschaft zwischen linken Parteien und gesellschaftlichen Bewegungen versteht. Somit wurde ein gemeinsamer politischer Raum geschaffen, indem neben den ›millitants‹ (Mitgliedern) der Parteien und Bewegungen auch unorganisierte BürgerInnen in unterschiedlichen politischen Ebenen mitarbeiten und sich einbringen können, ohne zwingend Mitglied einer der drei Parteien zu sein. Doch unterscheiden sich die Mitglieder des Bündnisses in ihrer politischen Herkunft und ihrer politischen Kultur sehr stark. Es reicht von der Sozialdemokratie bis hin in linksradikale Bewegungen und stellt in seiner Gesamtheit ein heterogenes Bild dar.« (http://www.sozialistische-linke.de/politik/debatte/659-partei-der-bewegung) »Wir sammeln sechs Parteien und noch mehr Strömungen. Keiner der Verbündeten musste auf etwas verzichten, was für ihn identitätsstiftend ist. Unser Diskurs gibt jedem eine gemeinsame Perspektive.« (Mélenchon in Humanité, 20.4.12)

Mit der Front de Gauche (fast 4 Mio. Stimmen) entsteht nach ersten Ergebnissen bei den Europa- und Regionalwahlen eine neue politische Kraft, in der sich die konstruktive und radikale Linke sammelt. Die letzten Monate ging es nicht nur um einen traditionellen Wahlkampf, sondern zugleich um erste Ansätze einer politischen Bewegung. In vielen Orten zeigen die guten Ergebnisse mit oft gegenüber der vorher fragmentierten »Linken der Linken« verdoppelten oder verdreifachten Stimmenanteilen die Effizienz dieses Zusammenschlusses. Endlich kann die vielfach geübte Zusammenarbeit unterschiedlicher Kräfte in vielfältigen Kämpfen in all den letzten Jahren auch einen gemeinsamen politischen Rahmen finden. Viele den Gewerkschaften Nahestehende finden im FG einen Raum für politisches Engagement. 1500 Intellektuelle und Künstler haben Mélenchon unterstützt sowie unterschiedliche thematische Plattformen (Gesundheit, Erziehungswesen, Wohnungsfrage etc.).

Keine Partei hat es seit dem Niedergang des Fordismus geschafft, feste soziale Blöcke zu repräsentieren; sie dienten als vorübergehender Kristallisationspunkt für wechselnde Bevölkerungsgruppen. Auch der relativ starke Zulauf für die Linksfront darf darüber nicht hinwegtäuschen. Sie profitiert vom Zerfall der linksradikalen Neugründung NPA, die noch 2007 doppelt so stark wie die traditionsreiche KPF war. Deutungshoheit ist mit diesem Erfolg noch nicht verbunden. Sie ist erst zu erkämpfen, wenn man Deutungsfähigkeit in seinen politischen Forderungen vorzeigen kann. Wie wird die Front de Gauche den Zulauf in der anstehenden Debatte über das Verhältnis zur PS-Regierung binden können? An welche Forderungen kann die Linksfront eine Unterstützung der Regierung knüpfen? In seinem letzten Interview vor der Wahl deutete Mélenchon eine Richtung an: »Die Linke hatte eine schwache Sammlungsfähigkeit, solange sie ein Programm hatte, das auf die nötige Konfrontation mit dem Kapital verzichtete. Es ist das erste Mal, dass ein PS-Kandidat dazu auffordert, ihn zu wählen, ohne irgendeine soziale Errungenschaft vorzuschlagen, die es zu erzielen gilt, noch nicht einmal eine einfache Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns. Es ist vielleicht ein Ausgangspunkt irgendeines Linksprogramms mit Ambition, die Lebensarbeitszeit zu verkürzen.« (Humanité 20.4.12)

Aussichten

Die europäischen Weiterungen des Wahlsiegs der Sozialisten sind noch nicht  zu übersehen. Der SPD-Vorsitzende Gabriel hatte schon bei einer Kundgebung im März in Paris gesagt: »Von dieser Wahl wird eine Dynamik ausgehen, die Europa verändert.« Er teile Hollandes Kritik am Fiskalpakt, »der in seiner jetzigen Form zu einseitig ausgerichtet ist und durch europäische Wachstums- und Beschäftigungsimpulse ergänzt werden muss«. (FAZ, 19.3.12) Wie ernst es Gabriel damit in Bezug auf die eigene Partei meint, wird zu testen sein. Denn ohne eine andere SPD ist eine andere Politik in Deutschland nicht zu haben.

Hollande dürfte sich bewusst sein, dass ein nationaler Alleingang nach dem Platzen der Kreditblasen in den USA, Spanien usw. erschwert, vielleicht sogar durch den Druck der Investoren und Ratingagenturen verhindert wird. Ein scheinbar kohärentes Programm der gesellschaftlichen Transformation wie das Gemeinsame Programm von 1981 liegt sowieso nicht vor. Die Spielräume für einen Konsolidierungsprozess mit einer geordneten Schuldenreduktion und einer Wachstumsstrategie sind nur europaweit abgestimmt möglich.
Die Spannungen zum deutschen Nachbarn werden durch solche Forderungen eher verstärkt. Ob das Bürgertum transnational zu einer langfristigen Konsolidierungsanstrengung willens und fähig ist, bleibt eine offene Frage, denn das bedeutet auch Vermögensverzicht. Ziel des FG ist jedenfalls, den Fiskalpakt in Frage zu stellen und im Zusammenhang mit einer Bewegung in Frankreich auch europaweit zu mobilisieren.

Le Pen als Vertreterin der Kleinaktionäre, Pensionäre und Hausbesitzer wird sich am 1. Mai unter dem Denkmal der Jeanne d’Arc erklären und vermutlich – wie ihr Vater – Sarkozy für nicht wählbar befinden. Etwa 50% ihrer Wählerschaft wird diesem Aufruf durch Fernbleiben von den Urnen folgen. Vielleicht 10% könnten Hollande wählen. Die Grünen, die vor einem schwierigen Aufarbeitungsprozess ihres Debakels (2,5%) stehen, haben ebenso wie die radikale Linke und die Linksfront dazu aufgerufen, Sarkozy abzuwählen. Die Klientel des einstigen »Dritten Mannes«, Bayrou wird sich ebenfalls mit relativer Mehrheit für den PS-Mann entschließen. Damit ist für die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen jedoch keineswegs die Hegemonie für sozialdemokratische Konzepte besiegelt. Von einem linken Votum wie beim Referendum gegen den EU-Verfassungsvertrag 2005 kann noch nicht wieder die Rede sein.

Die PS und Hollande werden bei den Parlamentswahlen in diesem Frühsommer vermutlich keine eigene Mehrheit stellen können und sind damit auf die Linksfront angewiesen, was diese wiederum vor große politische Herausforderungen stellen wird. Viel wäre gewonnen, wenn der Front de Gauche die Chance für eine Veränderung der europäischen Politik (Investitionen statt Sparen pur; Fiskalpakt) und die Bekämpfung der ökonomischen und sozialen Schieflagen in Frankreich durch eigene Mindestforderungen unterstreichen und damit Druck auf die Sozialisten aufbauen könnte. Gleichzeitig gilt es in der Spannung zwischen Utopie und Realismus, die sich auch in den Widersprüchen zwischen höheren Meinungsumfragewerten für Mélenchon und den tatsächlichen Ergebnissen widerspiegelt, eine glaubwürdige politische Strategie in Richtung einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung stärker zu verankern.

Elisabeth Gauthier ist Direktorin von Espaces Marx und Mitglied des Vorstandes von transform! Europe sowie des Nationalkomitees der Französischen Kommunistischen Partei. Bernhard Sander ist Redakteur von Sozialismus.

[1] Bereits bei den Kantonalwahlen hatte der FN mancherorts über 40% erreicht.
[2] Nach einer ersten Umfrage wollen 60% der FN-Wähler für Sarkozy und 18% für Hollande votieren. 22% wollen sich danach der Stimme enthalten.
[3] Barometre des préoccupations des français, TNS/Sofres pourLa Croix 10/4/2012

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