27. Juni 2013 Jörg Wiedemuth

Frontalangriff

Lohn- und Gehaltsrunde im Einzelhandel wird zu einem Konflikt um zentrale Arbeitsbedingungen

 

Der Arbeitgeberverband des Einzelhandels hat die Lohn- und Gehaltsrunde im Frühjahr 2013 durch die Kündigung der Manteltarifverträge zu einer fundamentalen Auseinandersetzung um zentrale tarifliche Schutzregelungen und tarifpolitische Erfolge der vergangenen Jahre gemacht.

Geplant war alles ganz anders: Es sollte eine ganz normale Lohn- und Gehaltsrunde werden. Am 24. Januar kündigte der Arbeitgeberverband HDE jedoch an, dass die Landesverbände ihrerseits die Lohn- und Gehaltstarifverträge und die Manteltarifverträge kündigen würden.

Die Begründungen für diesen Schritt lasen sich zunächst wie ein schlechter Scherz. Man wolle den Weg frei machen für eine »Modernisierung der Tarifverträge im Einzelhandel« und gemeinsam mit ver.di die »bestehenden Tarifverträge in wesentlichen Punkten überarbeiten«.

Die Position des HDE lautet: Die »bisherige Entgeltstruktur ist in vielen Fällen unausgewogen und wird den Anforderungen an die Mitarbeiter in der modernen Arbeitswelt nicht gerecht«, so HDE-Geschäftsführer Jöris. Begründung: »Die veraltete Struktur erschwert in der Praxis eine zutreffende tarifliche Eingruppierung moderner Tätigkeitsbilder, eine in sich ausgewogene Vergütung und führt zu Wertungswidersprüchen bei der Bezahlung unterschiedlicher wie auch gleichartiger Tätigkeiten.« (HDE Pressemeldung, 24.1.2013) Warum dazu der Manteltarifvertrag gekündigt werden muss, erschloss sich bei dieser vernebelnden Argumentation so recht nicht. Der Verdacht, der sich spätestens nach der Konkretisierung der Arbeitgeberforderungen bestätigte, dass Modernisierung für die Arbeitgeber gleichbedeutend mit Verschlechterung und Lohnabsenkung ist, führte auf ver.di-Seite zu einer harschen Ablehnung und der Ankündigung, man werde über eine Verschlechterung des Manteltarifvertrages nicht verhandeln, sondern diesen verteidigen.

Eine andere Reaktion auf diesen einmaligen Vorgang wäre auch nicht vorstellbar gewesen und hätte nur als Schwäche ausgelegt werden können. Ein Arbeitgeberverband, der von sich aus mit fadenscheiniger Begründung den Manteltarifvertrag kündigt und dann so tut, als wolle er sich mit dem »Tarifvertragspartner« friedlich-schiedlich über die Modernisierung der Tarifverträge einigen, muss sich entweder unprofessionelle Naivität vorwerfen lassen, oder, dass er die andere Seite hinter die Fichte führen will. Trotz der samtpfötig daherkommenden Begründung haben ver.di und die Beschäftigten im Einzelhandel die Kündigung als generelle Kampfansage und Angriff auf die erreichten tarifpolitischen Standards aufgefasst.[1] Die Beschäftigten haben entsprechend reagiert: In einem ersten Schritt haben sie ver.di durch massenhafte Beitritte den Rücken gestärkt und sich selbst unter den Schutzschirm der nachwirkenden Tarifverträge begeben. Seit Jahresbeginn sind mehr als 20.000 neue Mitglieder im Einzelhandel eingetreten.

Zur Beurteilung der festgefahrenen Tarifsituation muss man wissen, dass es bereits in den 1990er Jahren erstmalig Bestrebungen gegeben hatte, die in der Tat veralteten Tarifstrukturen, die z.B. immer noch eine Trennung in Lohn- und Gehaltstarifverträge vorsehen und Verkaufstätigkeiten schlechter vergüteten als gewerbliche Tätigkeiten mit Berufsausbildung, aufzuheben. Dieser Versuch scheiterte maßgeblich daran, dass die Arbeitgeber sich weigerten, physische und psychische Belastungen bei der Eingruppierung zu berücksichtigen. Auch der gemeinsam 2003 begonnene Prozess, sich über die Grundlagen für ein reformiertes Eingruppierungssystem zu verständigen, scheiterte spätestens in der im Frühjahr/Sommer 2012 durchgeführten Test- und Datenerhebungsphase. Dort wurden die Absichten der Arbeitgeberseite immer offenkundiger, die Entgeltstruktur einseitig zu Lasten der ArbeitnehmerInnen im Einzelhandel zu verschlechtern.


Die Tarifforderungen

Die regionalen Tarifkommissionen, die im Einzelhandel auf der Landesebene angesiedelt sind, kündigten fristgerecht die Lohn- und Gehaltstarifverträge, die im Westen Ende März bzw. Ende April 2013 und in den östlichen Bundesländern Ende Mai bzw. Ende Juni ausgelaufen waren, und stellten ihre Lohn- und Gehaltsforderungen:

  • Erhöhung der Löhne und Gehälter um einen Festbetrag von 1 Euro pro Stunde,
  • Anhebung der Ausbildungsvergütungen in einer Bandbreite zwischen 90 und 140 Euro, in Hessen um 0,50 Euro pro Stunde (rd. 82 Euro).
  • Vier Landesbezirke – NRW, Saarland, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern – stellten eine prozentuale Forderung in Höhe von 6,5% kombiniert mit einem Mindestbetrag von 140 Euro auf.
  • Die Tarifkommission in Hamburg forderte einen Mindestbetrag von 150 Euro.
  • In Baden Württemberg verband die Tarifkommission ihre Forderung zusätzlich mit einem tariflichen Mindesteinkommen von 1.800 Euro.
  • Die Laufzeit sollte zwölf Monate betragen.
  • Die Tarifkommissionen in Berlin und Brandenburg verlangen zusätzlich eine Angleichung der Sonderzahlungen auf das Niveau West-Berlins.

Mit diesen Forderungen und der klaren Botschaft von ver.di, über die Manteltarifverträge nicht zu verhandeln, sondern die Arbeitgeber aufzufordern, sie wieder unverändert in Kraft zu setzen, sind die Pflöcke auf dem Spielfeld der Tarifauseinandersetzungen gesetzt.


Die Lohndumpingstrategie der Arbeitgeber

Die Arbeitgeberseite hat in den regionalen Tarifverhandlungen ihre wahren Absichten und Ziele präzisiert. Sie will:

  • eine Abgruppierung der KassiererInnen bzw. Streichung von Kassierzulagen,
  • eine Niedriglohngruppe für Warenauffüller und Warenverräumer,
  • die Abschaffung der so genannten Durchstiegsregelung für Ungelernte in die Gelerntengruppe (Verkäufer­Innengruppe),
  • Streichung von Spätarbeits- und Nachtzuschlägen für Warenauffüller ab 18:30 Uhr,
  • Abschaffung von geregelten und planbaren Arbeitszeiten für Vollzeitbeschäftigte und eine noch stärkere Flexibilisierung der Arbeitszeiten im einseitigen Arbeitgeberinteresse,
  • Streichung von wesentlichen Schutzvorschriften für Teilzeitbeschäftigte und des Anspruchs auf arbeitsvertragliche Aufstockung der Arbeitszeit bei regelmäßig geleisteten Überstunden.

Bis Ende Juni haben in der überwiegenden Zahl der regionalen Tarifbereiche zwei Verhandlungsrunden stattgefunden. Überall das gleiche Bild. Die Arbeitgeberseite legte kein Lohn- und Gehaltsangebot vor, sondern koppelte ein entsprechendes Angebot an die Bereitschaft von ver.di, über Verschlechterungen des MTV und der Entgeltstruktur zu verhandeln. Das lehnt ver.di ab. Der Rückenwind für diese klare Haltung aus den Betrieben äußerte sich in einer hohen Streikbeteiligung von insgesamt über 80.000 ArbeitnehmerInnen in den vergangenen Wochen. Dies macht deutlich, dass die Beschäftigten im Einzelhandel nicht bereit sind, die erkämpften Tarifregelungen aufzugeben.

  • Mit der besseren Eingruppierung von KassiererInnen und der Zahlung von Kassierzulagen werden die besonderen physischen und psychischen Belastungen entgolten, die mit der Tätigkeit an modernen Kassensystemen verbunden sind. Sie wurden mit Einführung der Scannerkassensysteme im Einzelhandel vereinbart. Außerdem sind KassiererInnen die Beschäftigtengruppe, die der zahlende Kunde als letzte »erlebt« und die damit nicht selten Beschwerden, Frust und Stimmung der Kunden abbekommt. Dies erfordert hohe Konfliktfähigkeit und stellt entsprechende Anforderungen an die soziale Kompetenz. Einzelberechnungen zeigen, dass die strittige Entgeltdifferenz rd. 182 Euro ausmachen würde. Dies ist angesichts der nicht gerade üppigen Gehälter im Einzelhandel keine Kleinigkeit. Eine KassiererIn im Einzelhandel in Schleswig-Holstein kann heute bis zu 2428,80 Euro verdienen. Die Arbeitgeber wollen jedoch nur noch 2247,16 Euro bezahlen.
  • Die so genannte Durchstiegsregelung von der Ungelerntengruppe in die VerkäuferInnengruppe reflektiert die Tatsache, dass im Einzelhandel ein Teil der Beschäftigten zwar über keine einzelhandelsspezifische Berufsausbildung verfügt, sondern aus QuereinsteigerInnen besteht, die sich aber durch eine mehrjährige Tätigkeit im Einzelhandel Qualifikationen, Kompetenzen und Tätigkeitserfahrungen angeeignet haben, die es ihnen ermöglichen, den Anforderungen zu genügen. Da alle Arbeitgeber im Einzelhandel diese erfahrenen Mitarbeiter auch im Bedien- und im Kassenbereich einsetzen und keineswegs nur als WarenauffüllerInnen, gibt es auch kein Argument, ihnen einen innerbetrieblichen Aufstieg zu verwehren, der sich auch in einer entsprechenden Bezahlung niederschlägt. Durchlässigkeit ist geradezu ein Qualitätsmerkmal von modernen Entgeltsystemen, zumal dann, wenn die Grenze zwischen strengen berufsspezifischen und allgemeinen Qualifikationsmerkmalen und Anforderungen zunehmend fließend wird.
  • Die Zuschlagsregelungen für Spätarbeit, die zudem als Zeitzuschläge ausgestaltet sind, waren eine Kompensationsregelung für verlängerte Öffnungszeiten im Einzelhandel. Zuschläge für Nachtarbeit, die ausgezahlt werden müssen, bekamen durch verlängerte Öffnungszeiten natürlich eine höhere Bedeutung.

Hintergrund für die Arbeitgeberforderungen ist, dass die Arbeit im Einzelhandel mehr und mehr in Einzeltätigkeiten zerlegt wird, um sie besser outsourcen und durch schlechtere Eingruppierungen Lohnkosten einsparen zu können. Immer mehr Arbeitgeber versuchen durch Tarifflucht und Ausgliederungsstrategien mittels Werkverträgen Wettbewerbsvorteile zu erlangen.

Der Wettbewerbsdruck im Einzelhandel in Folge ruinöser Preiskonkurrenz und Marktverdrängung veranlasst die Arbeitgeber, das Heil in Lohndumpingstrategien zu suchen. Die tarifgebundenen Unternehmen geraten dadurch immer mehr unter Konkurrenzdruck. Im Lebensmitteleinzelhandel müssen mittlerweile alle Anbieter auf der Preiseinstiegsschiene Waren zu Aldi- und Lidl-Preisen anbieten, um weiter konkurrenzfähig zu sein. Aber auch tarifgebundene Arbeitgeber gehören mit zu den preisaggressiven Anbietern.


Wie geht es weiter?

In der dritten Verhandlungsrunde am 24. Juni in Baden-Württemberg legten die Arbeitgeber endlich ein erstes Lohn- und Gehaltsangebot vor. Sie boten eine Erhöhung in zwei Stufen, zum 1. Juli 2013 um 2,5% und zum 1. April 2014 um 1,5% mit einer Laufzeit bis zum 31.03.2015 an. Die erste Stufe beinhaltet drei Nullmonate und reduziert sich daher deutlich auf unter 2% (1,89%). Damit ist das Lohn- und Gehaltsangebot noch weit von den Tarifsteigerungen anderer Branchen entfernt. Die Forderungsstruktur von ver.di wird völlig ignoriert. Und sie knüpfen das Angebot weiterhin an die Bedingung, dass ver.di an anderer Stelle Verschlechterungen der Eingruppierungs- und Arbeitsbedingungen akzeptiert. Das Angebot ist daher insgesamt völlig unzureichend. Es zeigt gleichwohl, dass die Streikbewegung auf der Arbeitgeberseite Eindruck gemacht hat. Sofern die Arbeitgeberseite kein weiteres Entgegenkommen signalisiert und insbesondere ihre Bedingungen für einen Lohn- und Gehaltsabschluss nicht zurücknimmt, läuft alles auf eine lang anhaltende und sich verschärfende Streikauseinandersetzung hinaus. Es gibt eine hohe Mobilisierungsbereitschaft im Einzelhandel. In der Vergangenheit haben die Einzelhandelsbeschäftigten bereits mehrfach unter Beweis gestellt, dass auch ein vergleichsweise niedriger Organisationsgrad für sie kein Hindernis darstellt, in ausdauernde Arbeitskämpfe zu treten.

Jörg Wiedemuth ist Leiter der Tarifpolitischen Grundsatzabteilung beim ver.di-Bundesvorstand. Letzte Veröffentlichung gemeinsam mit Andrea Kocsis und Gabriele Sterkel (Hrsg.): Organisieren am Konflikt, Hamburg 2013.

[1] Hinzu kommt der Konflikt um die Tarifflucht von Karstadt und der Austritt der Globus Gruppe aus dem Arbeitgeberverband.

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