1. März 2000 Sybille Stamm

Für eine neue starke und demokratische Organisation!

Seit Jahren steht in fast allen Einzelgewerkschaften und im DGB das Thema Organisationsreform auf der Tagesordnung. Mitgliederverluste, rasch wechselnde Branchen und Unternehmen, sinkende Organisationsgrade in den Betrieben, Identifikationsverluste der Mitglieder mit ihrer Organisation, Erfolglosigkeit in der gewerkschaftlichen Interessenvertretung und Ineffektivität alter überkommener Organisationsstrukturen sind nur einige Stichworte für die »Organisationskrise der Gewerkschaften«. Inmitten dieser Krise soll die größte Gewerkschaft der Welt gegründet werden mit drei Millionen Mitgliedern in über 30 Branchen mit über 1000 Berufen – eine Dimension, die selbst für phantasievolle Funktionäre der größten Gewerkschaften schwer vorstellbar ist.

Eine Massenorganisation wie die bis dato größte Gewerkschaft, die IG Metall, hat eine mehr als hundertjährige Geschichte, Erfahrung in sozialen Kämpfen, eine sehr starke dezentrale Struktur und sieht sich dennoch vor ähnlichen Schwierigkeiten wie die ÖTV mit einer sehr großen Branchenheterogeanität und beruflichen Bandbreite. Versuche, durch Organisationsentwicklungsprojekte oder Leitbildprozesse zu einer größeren Effektivität und Mitgliedernähe zu kommen, haben bisher nicht die gewünschte Wirkung gezeigt. Die organisatorischen und politischen Probleme, die die fünf Gewerkschaften, die sich zu ver.di zusammenschließen wollen, derzeit haben, werden nicht mit der neuen Organisation verschwinden, sondern eher noch größere Dimensionen annehmen.

Wir tun also gut daran, zwei maßgebliche Dinge zu beachten:

  Keine der bestehenden Organisationsstrukturen (und sie sind sich alle mehr oder weniger gleich) kann der fachlichen Breite und Größe der neuen Organisation im Sinne einer demokratischen Veranstaltung gerecht werden und

  im Vorfeld muss alles bedacht und getan werden, um zu verhindern, dass ver.di eine bürokratische, zentralistische und damit politisch wirkungslose Organisation wird.

Weil ver.di auch ein Schritt auf dem Weg zu einer dringend nötigen großen DGB-Reform sein soll und nicht als ein in der politischen Mitte angesiedelter neuer großer Organisationsblock zementiert werden darf, muss versucht werden, die neue Gewerkschaft zu einer offenen, flexiblen und auch in Zukunft wandlungsfähigen Organisation zu machen, was nicht nur die nationale, sondern auch die internationale Ebene einschließt.

Offensichtlich waren diese und andere Erkenntnisse auch leitend für die Arbeit des Lenkungsausschusses, der mit der so genannten Matrixorganisation ein qualitativ neues Organisationsmodell entworfen hat, das bisher weltweit ohne Beispiel ist. Das mag auch der Grund sein, warum es so umstritten und für viele (noch) nicht vorstellbar ist. »Dezentralität als Stärke« hat der Lenkungsausschuss zur Leitidee der Matrixorganisation gemacht. Die doppelte Organisationsstruktur – Fachbereiche und Ebenen der Gesamtorganisation – ist neu, noch nirgendwo erprobt und macht vielen Angst.

Wenn ver.di eine demokratische und durchsetzungsfähige Gewerkschaft werden soll, ist die Matrixorganisation Herzstück und notwendige Voraussetzung. Wer an dem »Gleichgewicht der Kräfte« zwischen Fachbereichen und Gesamtorganisation, wie es in den Eckpunkten des Zielmodells formuliert ist, entscheidende Bausteine entfernen will, gefährdet ver.di als demokratisches Projekt. Dazu einige Erläuterungen: [1]

1. Gewerkschaftliche Willensbildung und gewerkschaftliche Interessenvertretung findet vorwiegend im Arbeitszusammenhang statt – das ist bei betrieblich gebundener Arbeit vorwiegend der Betrieb und die Branche, bei stärker beruflich definierter und bei nicht betrieblich gebundener Arbeit (Freie) der Beruf. Gerade die betriebsübergreifende Willensbildung muss, wenn sie Konkurrenz unter Beschäftigten ausschalten soll und zu gemeinsamen, nicht nur betrieblich definierten Positionen führen soll, im Branchen- oder Berufszusammenhang erfolgen. Nur daraus leitet sich Durchsetzungsfähigkeit und Kampfkraft ab. Die notwendige Verallgemeinerung gewerkschaftlicher Positionen über einzelne Branchen hinaus setzt, wenn sie Akzeptanz finden will, diese branchen- und berufsbezogene Willensbildung voraus. Das bedeutet aber auch, dass Willensbildung in Fachbereichen oder Fachgruppen sich nach innen und – auf den jeweiligen Ebenen – nach außen äußern können muss. Die unmittelbare gemeinsame Willensbildung im regionalen Aufbau, auf Orts- oder Kreisebene in der Gesamtorganisation, ist deswegen nicht entbehrlich – sie hat ihr Feld aber vor allem in themenbezogenen politischen Fragen, in der Regionalpolitik, der Rechtsberatung, der Wirtschaftspolitik, dem Arbeits- und Gesundheitsschutz, der Personengruppenarbeit etc. Der Hauptteil der ehrenamtlichen Arbeit wird in den Fachbereichen stattfinden.

2. Tarifpolitik als eines der wesentlichsten gestaltenden gewerkschaftlichen Handlungsfelder muss sich berufs-, branchen- und tarifgebietsbezogen organisieren. Vorrang hat die Kompetenz der Tarifkommission, die über Aufstellung von Forderungen, über Durchsetzungsstrategien und über Abschlüsse entscheiden. In der Regel sind Tarifkommissionen in den Fachbereichen zu bilden entsprechend der Branchen- bzw. Tarifbereiche.

Im Fachbereich findet zwischen verwandten Branchen die Koordinierung statt; in Bereichen ohne stabile tarifliche Strukturen kann es auch Aufgabe des Fachbereichs sein, Mindeststandards und Tarifstrategien für ihre Durchsetzung zu entwickeln. Inwieweit innerhalb der Tarifbereiche eine regionale Autonomie besteht, kann nicht von der Ebene, sondern muss innerhalb der Tarifbereiche geklärt und unterschiedlich entschieden werden.

In der Gesamtorganisation muss ein geregelter Austausch und eine Koordinierung über Tarifforderungen und Durchsetzungsstrategien stattfinden, die auch sicherstellt, dass in Grundsatzfragen einheitliche Positionen gewahrt werden. Gerade in der Tarifpolitik ist eine gemeinsame verbindliche Willensbildung in Grundsatzpositionen Voraussetzung für Durchsetzungsfähigkeit – dies gilt z.B. für Fragen wie Arbeitszeitverkürzung, Altersteilzeit, Entgeltfortzahlung. Es gilt für Grundsatzfragen – nicht aber für die konkrete Ausgestaltung von Forderungen und ihre Durchsetzungsstrategien in einem Tarifgebiet. Gemeinsame verbindliche Willensbildung in tariflichen Grundsatzfragen setzt aber Willensbildung in Branchenzusammenhängen voraus und bedeutet eine Verallgemeinerung und einen Ausgleich von Positionen, nicht dagegen eine von der Willensbildung in diesen Branchen unabhängige Willensbildung der Gesamtorganisation.

3. Eine Massenorganisation mit 3 Mio. Mitgliedern muss der berufs- und branchenbezogenen Heterogenität im Organisationsaufbau Rechnung tragen – durch die Bildung von Fachbereichen, durch eine fachlich dezentrale Organisation, einen doppelten, fachlich und regional föderalistischen Aufbau. Wesentliche Aufgaben der Fachbereiche sind: die Betriebs- und Unternehmenspolitik, die Branchen- und Berufspolitik und die Tarifpolitik. Dazu gehören insbesondere die Beratung und Betreuung der Mitglieder, Vertrauensleute, Betriebs- und Personalräte. Damit sind die wesentlichen Aufgaben fachbezogener mitgliedernaher Interessenvertretung den Fachbereichen zugewiesen. Aus dieser Aufgabenstellung müssen Konsequenzen gezogen werden sowohl für den organisationspolitischen Aufbau (Teilautonomie der Fachbereiche) als auch für die Ressourcenverteilung.

4. »Wir wollen keine 13 Gewerkschaften in der Gewerkschaft«, ist bei der Diskussion um die Autonomie der Fachbereiche eine häufig geäußerte Befürchtung. Eine neue Gewerkschaftsorganisation, die nicht mehr ist als ein kleiner DGB im DGB, ist politischer und organisatorischer Anstrengungen nicht wert. Das Ziel und die große Chance ist eine lebendige, starke und durchsetzungsfähige Organisation, in der Kräfte gebündelt werden und eine gemeinsame verbindliche Willensbildung in Grundsatzfragen erfolgt. Insofern soll ver.di mehr sein als die Summe ihrer 13 Fachbereiche. Die Gesamtorganisation hat eigene, von vornherein fachbereichsunabhängige oder -übergreifende Aufgaben, wie Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsrechts- und allgemeine Rechtspolitik, Regional- und Kommunalpolitik, Gesundheitspolitik und Arbeitsschutz, allgemeine politische Vertretung, Zusammenarbeit im DGB, Rechtsberatung, Personengruppenarbeit etc.

Die Aufgabenverteilung zwischen Fachbereichen und Gesamtorganisation lösen sich nicht vollständig nach einer festen Zuständigkeitsverteilung: Interessenvertretung für Beschäftigte außerhalb stabiler betrieblicher Strukturen, Frauen-Politik, aber auch Branchenverschiebungen, die Entwicklung neuer Branchen, der Aufbau gewerkschaftlicher Interessenvertretung in Multi-Branchen-Zentren etc. erfordern Freiräume für abweichende Arbeits- und Organisationsformen und die Kompetenz der Gesamtorganisation, wenn es darum geht, Fachbereichszuordnungen zu überprüfen. Das begrenzt die Autonomie der Fachbereiche nicht zwingend im Alltag der gewerkschaftlichen Arbeit, aber dann, wenn Veränderungen notwendig sind.

5. »Dezentralität als Stärke« heißt mehr als Vorrang der Bezirke der Gesamtorganisation ...! Das neue föderale Prinzip, wie es in den Eckpunkten des Zielmodells entwickelt ist, enthält zwei entscheidende Strukturen: Die teilautonomen Fachbereiche und die teilautonomen Bezirke der Gesamtorganisation. Beide gemeinsam garantieren eine lebendige und demokratische Organisation. Beide sind die wichtigsten dezentralen Organisationsgliederungen, die mit Personal, Satzungsrechten und Finanzen ausgestattet werden müssen. Beide gemeinsam bieten die Voraussetzung für eine demokratische Willensbildung der neuen Organisation.

Der Streit innerhalb der ver.di-Gewerkschaften über die Vorrangigkeit der Bezirke der Gesamtorganisation einerseits oder der Fachbereiche andererseits ist politisch destruktiv, unproduktiv und hinderlich für die Gesamtschau einer qualitativ neuen Organisationsstruktur. Fachbereiche und Bezirke der Gesamtorganisation müssen organisationspolitisch gleichrangig behandelt und ausgestattet werden. Wer die Fachbereiche und ihre Autonomie, bezirksübergreifende Strukturen zu schaffen, begreift und ernst nimmt, ist gelassener bei der Frage der Anzahl der Bezirke. Wer Fachpersonal und Betreuungsstrukturen nicht nur auf der Ebene der Gesamtorganisation, sondern innerhalb des Fachbereichs für sinnvoll hält, der kann Mitgliedernähe nicht nur von einer möglichst großen Anzahl von Bezirken der Gesamtorganisation abhängig machen.

Wer demokratische Willensbildung nicht in die Ebene der Gesamtorganisation verlagern, sondern sie gleichermaßen in den Strukturen der Fachbereiche angesiedelt sehen will, der ist gefeit davor, die neue Organisation »nach seinem Bilde«, das meint nach seinen bekannten eigenen Organisationsstrukturen formen zu wollen.

Eine Politik, die bewusst eine qualitativ neue (wenngleich noch unerprobte) Organisationsstruktur anstrebt, ist gefeit davor, über Anzahl der Bezirke der Gesamtorganisation und darüber zu streiten, ob ÖTV-Strukturen oder eher HBV-Strukturen am mitgliedernächsten sind. Wer die Dimension der neuen Organisationsstruktur (Matrixorganisation) politisch befürwortet und als Chance für eine qualitativ neue Gewerkschaftskultur begreift, muss sich von geliebten und vertrauten eigenen Organisationsstrukturen trennen. Das gilt für alle am ver.di-Prozess beteiligten Einzelgewerkschaften.

Die Matrixorganisation bietet nicht zuletzt eine verbesserte Struktur für die gewerkschaftliche Linke, geht es ihr doch auch immer darum, Positionen von Minderheiten in Großorganisationen Gehör zu verschaffen, ohne die politischer Fortschritt und soziale Bewegungen zu erstarren drohen.

Sybille Stamm ist Landesbezirksvorsitzende der IG Medien in Banden-Würtemberg.

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