12. Juli 2010 Christoph Lieber

Gauck, die Linke und Christa Wolfs 'Stadt der Engel'

Kategorie: Linksparteien

Es war ein kleines (Lehr)Stück deutscher Geschichtspolitik, welches die Kandidatenkür und den kurzzeitigen Wahlkampf um das höchste Amt im Staate in den zurückliegenden Wochen begleitete – insbesondere die geschichtliche Rolle des Kandidaten von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD, Joachim Gauck, seit 1989 und das Verhältnis der Partei DIE LINKE zu diesem Vorgang und seiner Hauptfigur.

Dabei war der Ausgangspunkt zunächst ganz anders gelagert. Der Rücktritt des Bundespräsidenten Horst Köhler (CDU) am 31.5.2010 markierte ein weiteres Indiz der Krise des bürgerlichen Lagers. Die meisten Akteure im politischen Feld waren schnell bei der Hand, diesen Vorgang mit dem Verweis, dass Köhler angeblich kein Mann aus der Politik gewesen sei, schönzureden. Dabei war dieser von Merkel und Westerwelle aus dem Hut gezauberte Präsident sehr wohl ein Mann staatlicher Apparate und brachte es immerhin bis zum geschäftsführenden Direktor des für seine neoliberalen Strukturanpassungsprogramme berüchtigten IWF. Da Köhler angesichts der sich verschärfenden Finanzkrise im Laufe seiner Amtszeit zunehmend für die Zähmung des "Monsters Finanzmärkte" plädierte, ist nicht auszuschließen, dass sein Rücktritt neben seinen völkerrechtlich umstrittenen Äußerungen zu Bundeswehreinsätzen zwecks Sicherung deutscher Wirtschafts- und geostrategischer Interessen auch mit der Eile beim Gesetz zur Euro-Stabilisierung an jenem zweiten Lehman-Wochenende im Wonnemonat Mai zu tun hatte und er womöglich von der Bundesregierung unter Druck gesetzt wurde, dieses Gesetz schnell zu unterzeichen. "Ist es wirklich wahr, dass Sie keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese Prozedur hatten? Haben Sie aus freien Stücken in so ungewöhnlicher Eile das Gesetz unterschrieben und ausfertigen lassen? Konnten Sie eine solche Aushöhlung des Stabilitäts- und Wachstumspakts wirklich zwischen Freitagnacht und Samstagmorgen auf ihre Unbedenklichkeit ausreichend prüfen, wie es das Grundgesetz verlangt?", fragte denn auch der CSU-Mann Gauweiler in einem offenen Brief den zurückgetretenen Präsidenten.

Bürger Gauck

Das führt uns zum Problem der schleichenden Aushöhlung demokratischer Strukturen, der Krise der politischen Kultur und der beängstigenden Verselbständigung staatlicher Institutionen, wie es beispielsweise das Verwaltungsgremium des SoFFin (Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung) darstellt, das faktisch keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt und dessen gesetzliche Grundlage auch schon im Eilverfahren von Köhler abgesegnet werden musste. Diese Krisenphänomene im politischen Feld einschließlich der vielbeschworenen Krise der Volksparteien wurden in den öffentlichen und medialen Stellungnahmen und Diskussionen um das Für und Wider der Personen Wulff und Gauck weichgespült. Es war nun der Kandidat Joachim Gauck, der sich hier in besonderer Weise profilieren konnte, öffentliche Diskurse mitbestimmte, aus dem "links-konservativ-bürgerlichen Grünenliberalismus ... in gentrifizierten Stadtquartieren" (Gustav Seibt, SZ) öffentliche Sympathiebekundungen erhielt und insbesondere in intellektuell-kultureller Hinsicht im Lager der politischen Linken im weitesten und parteipolitisch eingegrenzten Sinne eine Vielstimmigkeit an Reaktionen und Bewertungen auslöste.

Gauck gelingt dabei ein doppeltes: Als ehemaliger DDR-Bürger und Repräsentant der "Bürgerbewegung" im Gefolge der Implosion der DDR und anderer osteuropäischer staatssozialistischer Gesellschaften kann er das gegenwärtige Misstrauen weiter Teile der deutschen Bevölkerung in den Staat und den "berufspolitischen Parteienbetrieb" aufgreifen und mit dem (klein)bürgerlichen Pathos des "Freiheitskämpfers" und seinem theologisch-heideggerisierenden Jargon in dem Bild der Stärkung des "Heimatgefühls in der Demokratie" wieder versöhnen. Dass viele in Armut lebende MitbürgerInnen hierzulande im wahrsten Sinne heimatlos durch Obdachlosigkeit oder Hartz-Regelsätze sind, wird mit Gaucks politischer Symbolik natürlich nicht thematisiert.

Hier wird dem Bürgerrechtler Gauck insbesondere von der Linken zu Recht vorgehalten, angesichts von Wirtschaftskrise und unsozialer Sparpolitik kein Sensorium für die notwendige Stärkung und den Ausbau aller Statuten sozialer Bürgerrechte zu besitzen. Aber den wirklichen Reibungspunkt liefert Gauck in seiner zweiten politischen Eigenschaft als 1990 von den Volkskammerabgeordneten gewählter Vorsitzender des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit und Amt für Nationale Sicherheit, als einer der Hauptinitiatoren des Stasi-Unterlagen-Gesetzes der Volkskammer und schließlich erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Damit sind wir auf dem Feld der Geschichtspolitik. Als so genannter Stasi-Beauftragter verwaltete Gauck nicht nur ein Stück des kollektiven Gedächtnisses der DDR in Form eines staatlichen Bundesorgans, welches somit auf öffentliche geschichtspolitische Diskurse Einfluss nehmen konnte, sondern Gauck steht damit auch für eine "Verletzungsgeschichte" von Individuen, in erster Linie ehemaligen DDR-Bürgern, die mit einem solchen öffentlichen Umgang mit Täter- und Opferakten einhergeht und in etlichen Fällen bei Betroffenen zu falschen Anschuldigungen, Diffamierungen und wie im Falle des PDS-Bundestagsabgeordneten Gerhard Riege zu Selbsttötung geführt hat.

Die Linke und die Stasi

Seit 1990 waren die frühere PDS und ihre Mitglieder immer wieder geschichtspolitisch mit der Rolle der Stasi, der Legitimität des DDR-Sozialismus und der parteigeschichtlichen Genealogie der SED aus der "Zwangs"-Vereinigung von KPD und SPD konfrontiert. Lange Zeit sollte über diesen öffentlichen politischen Druck und den Vorwurf mangelnder Vergangenheitsbewältigung die PDS delegitimiert und marginalisiert werden. Solchen Bestrebungen ist mit der Westausdehnung der PDS zunehmend der Boden entzogen worden und mit der parteipolitischen Etablierung einer gesamtdeutschen Linken im Bundestag und zuletzt im größten Bundesland NRW gilt auch hierzulande: Sozialisten und Kommunisten sind legitimer Bestandteil des Verfassungsbogens. Rote-Socken-Kampagnen und billiger Antikommunismus sind der Sache nach Geschichte. Das heißt aber andererseits nicht, dass sich auch die geschichtspolitische Virulenz von Stasi und DDR-Sozialismus erledigt habe. Im Gegenteil. Das ist jetzt die Deutungsaufgabe einer gesamtdeutschen, also auch der Westlinken.

Das NRW-Sondierungsgespräch zwischen SPD/Grüne und DIE LINKE und erst recht der Vorgang um Gauck und die Bundespräsidentenwahl haben gezeigt, dass die gesamtdeutsche Linke jetzt im politischen (Tages)Geschäft und auf allen Kanälen zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit gefordert ist, souverän mit ihrer Geschichte umzugehen und zu einer ausgewiesenen Deutungsfähigkeit über den Sozialismusversuch des 20. Jahrhunderts in der Lage zu sein. Aber alle ideologischen Instrumentalisierungsversuche der Konkurrenten von Rot/Grün und Gegner von Schwarz/Gelb in Rechnung gestellt, erweist sich die Linke in dieser Rolle als deutungsschwach, zerstritten und diskursunfähig. Einmal mehr haben diese Vorgänge offengelegt, dass es 20 Jahre nach 1989 für die Sozialisten und Kommunisten hierzulande immer noch um die unbedingte Öffentlichkeit und Aktivierung in der politischen Aufklärung und um ein gemeinsam zu erarbeitendes Verständnis des gescheiterten Sozialismusversuches geht, um auch hier im öffentlichen Diskurs deutungsfähig zu werden. Damit entzöge DIE LINKE auch Versuchen, sich ihre Fassung von "Politikwechsel" von anderen politischen Kräften denunzieren zu lassen, jegliche Grundlage.

In der Sache trifft die Frage nach der Staatssicherheit – wofür die Person Gauck symbolisch als Stasi-Beauftragter steht – und nach der Legitimität des Sozialismusversuches in der DDR – wofür der "Bürgerrechtler" Gauck steht – durchaus ins Zentrum des spezifischen sozialistischen Entwicklungswegs im "Zeitalter der Extreme", wie er vom sowjetischen Entwicklungsmodell und nachfolgend den staatssozialistischen Gesellschaften Osteuropas und der DDR geprägt wurde. Natürlich war der Ausbruch aus der Katastrophengeschichte der bürgerlichen Welt des 20. Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen und einer faschistischen Krisenlösung legitim. Aber immer wieder nur diese antifaschistische Legitimation zu beschwören, wäre nur die halbe Wahrheit einer linken Selbstverständigung. Genauso gehört dazu, sich der historischen Tragödie zu stellen, dass dieser Sozialismusversuch seit dem Oktober 1917 unter dem Damoklesschwert der "Gefahr der Selbstzerstörung" stand.

Im staatssozialistischen Aufbau der Sowjetunion reflektieren sich die Deformationen des Revolutionszyklus nach dem Sturz des zaristischen Staates. Sie fokussieren sich exemplarisch in zwei politischen Topoi, die sich vom Anfang (1917) bis zum Endes (1989) des Realsozialismus im kurzen 20. Jahrhundert durchziehen und die in nuce die gesamte Tragödie der gescheiterten Rücknahme des Staates in ein sozialistisches Gemeinwesen beinhalten: die Sowjets und die Staatssicherheit. Die Sowjets, die Räte, symbolisieren im Kern eine historisch neuartige politische Form, eine kurzzeitig auch realgeschichtlich wirkliche Innovation von der Februar- bis zur Oktoberrevolution und stellen im Kern das vor, was Marx als geschichtliche Möglichkeit einer Rücknahme des Staates in die Gesellschaft ausmachte. Die Staatssicherheit, gegründet im Dezember 1917 als "Tscheka" (ÈeKa ist die Abkürzung für Èresvièainaja Kommissija: "außergewöhnliche Kommission") zur Sicherung und Verteidigung der Revolution, deformiert sich schon früh zu einem repressiven Staatsapparat. Dieser Versuch "revolutionärer Selbstverteidigung" wurde in Gestalt der OGPU, des NKWD oder der Stasi schon bald in eine polizeilich-geheimdienstliche Institution deformiert, die nicht nur die rätedemokratischen Ansätze in den realsozialistischen Ländern mitzerstörte, sondern auch noch die Funktionen ihres erklärten Gegners, eines stinknormalen westlichen Geheimdienstes, kopierte. Mit dieser Verfalls- und Deformationsgeschichte müssen sich sowohl ehemalige MfS-Mitarbeiter und IMs konfrontieren lassen, die ihre Tätigkeit als "Tschekist" rechtfertigen, als auch westdeutsche Linke, die insgeheim immer noch in spießbürgerlicher Staatsfixiertheit für die Notwendigkeit staatssozialistischer "Sicherheitsorgane" plädieren.

Eine solche Denkweise ist für eine moderne Linkspartei mit einer Sozialismuskonzeption für das 21. Jahrhundert unakzeptabel. Es handelt sich um den hilflosen Versuch, das Scheitern der Sozialismusversuche im 20. Jahrhundert zurecht zu räsonieren. Hinter der Sehnsucht nach einer Organisation zum Schutz gegen die Konterrevolution steht die Relativierung und nachträgliche Rechtfertigung der im Namen des Sozialismus begangenen Verbrechen. Dies ist nicht nur eine Verhöhnung der Opfer, sondern dazu noch eine Missachtung des kollektiven Gedächtnisses der innerlinken Geschichte. Denn völlig unterschlagen wird dabei, dass die repressiven Organe im staatssozialistischen Entwicklungsweg des 20. Jahrhunderts sich schon früh gegen Sozialisten und Kommunisten in den eigenen Reihen richteten und aktiv daran beteiligt waren, alternative Sozialismuskonzeptionen zu unterdrücken. Daher bleibt die Geschichte der Linken von Anbeginn immer mit notwendiger, aktiver Erinnerungsarbeit an verkannte, ausgebliebene oder unterdrückte alternative Entwicklungspfade verknüpft. Die Konfrontation mit diesen "Schattenseiten" der eigenen sozialistisch-kommunistischen Geschichte immer wieder in altbewährter Manier verschwörungstheoretisch auf Medienmanipulation oder die Schäbigkeit des politischen Gegners zurückzuführen, zeugt von subalternem Charakter und intellektuellem Unvermögen zu eigenständiger politisch-theoretischer Argumentation. Und mit ausweichendem Beschweigen wird einmal mehr kein Beitrag zu gemeinsamen Lernprozessen und einer neuen politischen (Diskussions-)Kultur geleistet. Diese hat die Linke aber für eine attraktive Sozialismuskonzeption nach dem "Zeitalter der Extreme" bitter nötig.

Der "Irrgang" der Sozialistin Wolf

Diese Tragödie des Sozialismusversuches markiert auch eine Tiefenschicht in Christa Wolfs neuestem Roman "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" (Berlin 2010). Ihr beharrlicher Versuch, im Medium der Erzählung und Erinnerung den "blinden Fleck" im eigenen und gesellschaftsgeschichtlichen Leben "allmählich von den Rändern her zu verkleinern", hat auch zum äußeren Anlass ihren Status als "DDR-Bürgerin": zum einen verletzt über ihre Stasi-Opfer-Akten, zum andern diskriminiert über ihre Stasi-Täter-Akte. Mit diesem "geschichtlichen Alptraum" lebt Christa Wolf vom September 1992 bis zum Juli 1993 als Gast der Getty-Stiftung in Los Angeles und beginnt mit einer vielschichtigen Erinnerungsarbeit im Selbstdialog – zuerst an ihrem eigenen Leben als Teil der Kriegsgeneration und als politische Schriftstellerin, die zur Aufbaugeneration der DDR gehört. Vor ihrem inneren Auge sah sie schon die Enttäuschung jener "begeisterten Gesichter deiner Generation, die ihr das Schicksal der Communarden, das Scheitern, nicht an euch erleben würdet, da wart ihr euch ganz sicher, hohnlachend gegen alle Zweifler ... Nur uns hatte es erspart bleiben sollen. Welche Hybris." Diese Hybris wird gemeinhin auch mit dem "Lied von der Partei", die immer recht hat, des "glühenden Kommunisten" Louis Fürnberg verbunden, der 1957 in Weimar von einer Menschenmenge zu Grabe getragen wurde, unter der auch die 28jährige Christa Wolf war: "Mit ihm begann für euch der lange Weg der Erkenntnis", schreibt sie zugleich gegen das Vorurteil gegenüber dem Verfasser jenes "Liedes", "das er – wer weiß das schon – gegen seine Zweifel anschrieb, 1950, zwei Jahre nachdem Stalin Jugoslawien, eines der Fluchtländer der Fürnbergs, das sie liebten, aus der sozialistischen Völkergemeinschaft exkommuniziert hatte." Andere Trauerzüge dieser Jahre für aus dem Exil zurückgekommene und an "gebrochenen Herzen" gestorbene Kommunisten, die mit Depression und Abwehr, Wut und Schweigen auf das Bekanntwerden Stalinscher Verbrechen reagierten, tauchen vor Wolfs Augen auf. "Das sollte euch nicht passieren. Ihr damals Jungen hocktet beieinander, Stunden um Stunden, Nacht um Nacht. Eure Aufgabe würde es sein, dachtet ihr, Stalins Ungeist aus dem gesellschaftlichen Leben zu vertreiben, die Konflikte durchzustehen, deren Schärfe ihr nicht voraussaht, und nicht aufzugeben. Ein naives Programm."

Damit kam man gegen die restaurativen Tendenzen, die nach dem kurzen Tauwetter der Entstalinisierung in der DDR Ende der 1950er Jahre Einzug hielten, nicht an. "Irrgang" erwog Christa Wolf als Titel für diese mühsamen kleinen Gedankenschritte gegen innere Widerstände hin zu auf langen Spaziergängen erarbeiteten Einsichten: "Also das wissen wir jetzt: Dieser Staat ist wie jeder Staat ein Herrschaftsinstrument. Und diese Ideologie ist wie jede Ideologie: Falsches Bewusstsein. Darüber können wir uns keine Illusionen mehr machen. Ihr bleibt stehen. Du fragtest: Was sollen wir tun. Ihr schwiegt lange, dann sagte der Freund: Anständig bleiben." Christa Wolf und unzählige andere DDR-BürgerInnen, unter anderen die Mitglieder eines Madrigalchors aus Halle, der bei seiner Rückreise auf dem Moskauer Flughafen auf die Nachricht vom friedlichen Verlauf der Demonstrationen im Oktober 1989 "O Täler weit, o Höhen" anstimmte, "haben dieses Land geliebt" und blieben anständig.

Aber über diese Anständigkeit legte sich zugleich das "Gefühl von Trostlosigkeit und gebremstem Aufbegehren", das viele Intellektuelle und Künstler in der DDR mit den Traumatisierungen des "Kahlschlagplenums" 1965 und der Stasi-Observation im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung 1976 beschlich; die scharfe Abrechnung mit kritischen Künstlern auf dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 beendete die tendenzielle Demokratisierung und innenpolitische Öffnung nach dem Bau der Mauer und mutierte so unter der Hand auch zu einem Wirtschaftsplenum, auf dem die schrittweise Rücknahme des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) in die Wege geleitet wurde. Den Skeptizismusvorwurf, der Christa Wolfs Hinweis auf Distanzierungstendenzen Jugendlicher gegenüber ihrer DDR-Gesellschaft auf diesem "Kahlschlagplenum" entgegengehalten wurde, erlebte die Autorin zehn Jahre später anlässlich des von ihr mitunterzeichneten Protestbriefes gegen die "an die finstersten Zeiten in Deutschland erinnernde Ausbürgerung" Biermanns in potenzierter Form: "Fiel das Wort 'sozialistisch'? Gewiss. Es wurde von beiden Seiten gebraucht, als Anklage, als Verteidigung, und die sich ihre Feigheit am meisten übelnahmen, waren am wütendsten auf euch und wiederholten am häufigsten das Wort 'Schande', ihr hättet eurem Land unermesslichen Schaden zugefügt, ihr grifft das Wort auf und gabt es zurück. Nur als eine alte Genossin, Jüdin, die lange in der Emigration gewesen war, euch in einer der Versammlungen zitternd zurief, ihr wolltet die Konzentrationslager wiederhaben, da schwiegt ihr, dazu war nichts zu sagen, und du begriffst: Es war hoffnungslos. Da kam der Schmerz."

In der Anklage dieser Genossin und Jüdin zugleich findet ein Szenario der Verlängerung des "Bürgerkriegs" im Realsozialismus seinen fatalsten Ausdruck. 1983 hatte die Christa Wolf der "Kassandra", der antiken Seherin, die gegen die Verrohung der Staatsgeschäfte anmahnt, ihr Déjà-vu-Erlebnis: Walter Girnus, dem als kommunistischer Funktionär, Widerstandskämpfer und KZ-Häftling das Leben einer Bürgerkriegsexistenz aufgezwungen wurde und der von sich selbst sagte, dass er durch die Geschichte hart geworden sei, urteilte in "Sinn und Form" über "Kassandra": "Dass so ein blühender Unsinn in einem sozialistischen Land das Welt der Licht erblickt, das kann doch nicht wahr sein". In einer solchen Haltung erkannte schon Georg Lukács anlässlich der Katastrophe von 1968 im Realsozialismus in seiner Skizze zu "Sozialismus und Demokratisierung" die fatale Strukturkontinuität des Stalinismus, der "nämlich den Zustand, die Handlungsweise des akuten Bürgerkrieges zur Methode der Praxis einer jeden Periode (machte), auch jener, in der der Bürgerkrieg bereits historisch nicht mehr auf der Tagesordnung stand."

Benjamins "Engel der Geschichte"

Wie kann Christa Wolf diese "Geschichts- und Schreckensblindheit" im Rückblick auf den Sozialismusversuch "im teuflischsten Jahrhundert der Geschichte" aufbrechen? Begleitet wird sie bei ihrer Erinnerungsarbeit von einem leibhaftigen Engel, einer schwarzen Frau, die in ihrem Hotel immer sauber macht, sich in einen Engel verwandelt und so "auch ein bisschen Humor" in die Erinnerungsreise mitten in LA bringt. Aber es gibt noch die Spur eines zweiten Engels, auf die sie durch ihren jüdischen Mitbewohner Peter Gutman stößt, der seinerseits das Denken eines für ihn zentralen Philosophen zu rekonstruieren sucht: "Er befinde sich gerade in einem Streitgespräch mit seinem Philosophen über den Nutzen von Revolutionen. Revolutionen als die einzige Möglichkeit, eine Utopie zu verwirklichen." Aber Gutmans Philosoph rang schon in der Zwischenkriegszeit jenes "Jahrhunderts der Extreme" dem gängigen marxistischen Revolutionsverständnis eine neue Lesart ab: "Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse."

Diese Einsicht, die die Sozialisten und Kommunisten nie zu beherzigen und auch umzusetzen wagten – die nach der Notbremse greifen wollten, wurden immer von den "linken Schreihälsen" (Lenin) als "rechte Kapitulanten" diffamiert oder gar repressiert –, folgt aus einer Spur, der die Linke nachgehen sollte, denn sie bietet eine mögliche Antwort auf die Deutungs- und Sprachschwierigkeiten im Umgang mit ihrer Sozialismusgeschichte und deren Schattenseiten. Sie führt zu Walter Benjamins "Engel der Geschichte": "Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."

Die Linke hat in ihrem Sozialismusversuch immer nur nach vorne geschaut, und allzu oft die Katastrophen und Trümmerhaufen in ihrem eigenen Rücken aus den Augen verloren. Zwangskollektivierungen, Jeschowtschina, Großer Sprung, Kulturrevolution und Prager Frühling markieren Trümmer und Katastrophen des Sozialismusversuches im 20. Jahrhundert. Benjamins Engel gibt den Sozialisten und Kommunisten ein Sprachbild an die Hand, die Schattenseiten des Sozialismusversuches zu verstehen und zu deuten. Darüber kann die Linke sowohl dem "Alp der toten Geschlechter" einen angemessenen Platz in ihrem kollektiven Gedächtnis verschaffen, als auch für ihren Sozialismusversuch im 21. Jahrhundert endlich aus einer noch unabgegoltenen "Poesie der Zukunft" schöpfen.

Christoph Lieber ist Redakteur von Sozialismus.

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