1. Mai 2005 Ingar Solty

Gegenhegemonie und politisches Theater

Ungeachtet seines kommerziellen Erfolges in den Vereinigten Staaten ist der Dramatiker Tony Kushner in der hiesigen politischen Linken ein weitgehend unbeschriebenes Blatt.

Das ist wenig verwunderlich, insofern als es hierzulande um das (eigentlich ja noch recht junge) politische Theater ziemlich schlecht bestellt ist. Engagiertes Theater, das noch dazu auch allgemeinen ästhetischen Qualitätsanforderungen genügt, erwartet man üblicherweise nicht gerade aus dem American Empire, in dem die Kommerzialisierung der Kunst im Allgemeinen zu wenig erfreulichen Bedingungen geführt hat. Das amerikanische Drama und seine Protagonisten David Mamet und Sam Shepard, aber auch Edward Albee haben sich, wie es scheint, (mittlerweile) weit von den politisch-interventionistischen Stücken eines Tennessee Williams oder Arthur Miller entfernt.[1]

Der Eindruck trügt allerdings in gewisser Hinsicht. Insbesondere seit dem Wahl-"Sieg" George W. Bushs 2000 ist eine (Re-)Politisierung der jüngeren amerikanischen Schriftstellergeneration festzustellen, auch wenn diese sich primär auf politische Interventionen jenseits der Theaterbühnen und Romane beschränkt. Nichtsdestotrotz ist dieser Umstand gerade vor dem Hintergrund der traditionellen Isolation und Selbstisolierung der amerikanischen Kulturschaffenden – mit Ausnahme der 1930er (und zum Teil der 1960er) Jahre – bemerkenswert.

Insbesondere 2003 und 2004, d.h. im Vorfeld der amerikanischen Präsidentschaftswahlen, häuften sich die politischen Stellungnahmen von so unterschiedlichen Schriftstellern wie Richard Powers, Jonathan Franzen, Richard Ford, Jeffrey Eugenides und Sam Shepard, wobei es viele dieser Schriftsteller nicht bei mehr oder minder folgenlosen sarkastischen, zynischen oder sonst wie gearteten Einwürfen beließen, sondern sich stattdessen im Rahmen politischer Foren organisierten, wie beispielsweise der New Yorker Initiative Downtown For Democracy (D4D), in der auch die kürzlich verstorbene Literaturkritikerin und Preisträgerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Susan Sontag, eine gewichtige Rolle spielte.

Diese Dynamik, die auch Teilen des deutschen Feuilletons nicht verborgen blieb,[2] entfaltete sich in einer solchen Weise, dass Teile der amerikanischen Literaten ihre künstlerische Tätigkeit dem unmittelbar politischen Zweck unterordneten. So premierte noch am 29. Oktober 2004, also drei Tage vor der Wahl, das neueste Stück von Sam Shepard, einem eigentlich mäßig politischen Dramatiker, The Gods of Hell in New York, ein Stück, das er als einen "Satz auf den Republikanerfaschismus" verstanden wissen wollte und indem er sich unmittelbar mit den Vorgängen im Gefängnis von Abu Ghraib auseinandersetzt.

Zweifelsfrei ist bis heute nicht abzusehen, ob die ihrem Wesen nach traditionell "(links-)liberale" amerikanische Schriftstellergilde nach dem Scheitern der eigenen Bemühungen und dem Wahlsieg von George W. Bush 2004 ihren politischen Charakter beibehalten wird und kann. Tatsächlich ist es nicht unwahrscheinlich, dass man sich wieder in die heimelige Trennung des vermeintlichen Kulturkampfes zwischen den "fortschrittlichen Intellektuellen" und der "rückschrittlichen", "bigotten", "intoleranten" und "abergläubischen" Mehrheitsgesellschaft zurückzieht. All das ist abzuwarten. Für den hier vorzustellenden Tony Kushner, der die Rolle des Dramatikers als die eines "öffentlichen Intellektuellen" verstanden wissen will, offeriert sich diese Option nicht.

Tony Kushner wurde 1956 als jüdisches Kind einer Deutschen und eines Amerikaners in ein liberales, verhältnismäßig säkularisiertes Elternhaus in New York geboren, verbrachte aber seine gesamte Kindheit und Jugend bis zu seinem Studium im noch sehr stark rassistisch geprägten Lake Charles/Louisiana. Politisch habe er, so sagte er später, von seinem Vater "eine bestimmte Sorte Moralismus" geerbt und von seiner (im Umfeld der Kommunistischen Partei der USA in den 1930er und 40er Jahren aufgewachsenen) Mutter eine spezifische "Leidenschaftlichkeit, Wut und Expressivität". Sein Studium, in dessen Zeit auch die allmähliche Akzeptanz der eigenen Homosexualität fällt, absolvierte Kushner ab 1973 zunächst als Undergraduate am College der Columbia University. 1984 schloss er dann mit dem Masters im Studiengang Theater Directing an der New York University ab. In den darauf folgenden Zeitraum fallen auch seine ersten öffentlichen Gehversuche als Theaterschriftsteller. So wurde 1987 sein erstes Theaterstück A Bright Room Called Day über die Auseinandersetzung einer Clique von Weimarer Sozialisten und Kommunisten mit dem sich anbahnenden Faschismus uraufgeführt. Bereits damals artikulierte sich Kushners Verständnis vom Charakter eines politischen Theaters als Mittel der Provokation und des Lernens, indem er das Publikum vermittelt über das periodische Auftreten eines "Anarcho-Punks" aus der Reagan-Ära zu einem Vergleich von Reagan und Hitler einlud. "Die Weigerung, Vergleiche zu ziehen," so Kushner, "heißt, die Geschichte ihrer Kraft zu berauben, eine Lehre für das Handeln in der Gegenwart zu sein."

Seine Stücke als Lehrstücke zu verstehen, lernte Kushner schon früh in seiner Auseinandersetzung mit Bertolt Brecht, der bis heute ein großer oder sogar der maßgebliche Einfluss auf Kushner geblieben ist.[3] Ebenfalls 1987 entstanden eine Adaption von Goethes Stella und ein Stück über den historischen Schriftsteller Thomas Browne, das der Autor als eine Epische Farce über den Tod und die ursprüngliche (Kapital) Akkumulation verstanden wissen wollte und in dem er den Einbruch von warenförmigen und verdinglichten Beziehungen in die traditionellen gesellschaftlichen Verhältnisse beschreibt. Kushners vielfache Ausrichtung an dem kritischen Denken deutscher Provenienz[4] drückt sich auch in dem Umstand aus, dass er sich in der Folge zunehmend mit dem Marxismus, der Psychoanalyse und der "Frankfurter Schule" auseinander setzte, wobei es ihm Walter Benjamin besonders angetan hat.

Diese Auseinandersetzungen, so betont Kushner vielerorts, dürften allerdings nicht als ein solipsistischer Lernprozess verstanden werden, sondern sie sind das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung, wobei es sich hierbei nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, um ein bloßes Lippenbekenntnis handelt. Stattdessen ist es Ausdruck eines ganz zentralen politischen Anliegens Kushners, da er eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Ziele in der wirksamen Einschränkung des amerikanischen Individualismus sieht, den er als einen Ausdruck von Barbarei empfindet. Hiermit legt Kushner einen Finger in die Wunde desjenigen Teils der amerikanischen Linken, der sich aus der besonderen, individualistischen amerikanischen Tradition[5] (vermittelt über die postmoderne Theoriebildung) diesem radikalen Individualismus verschrieben hat.

So mag es auch nicht verwundern, dass gerade Tony Kushner den Ausgangspunkt der folgenden, kürzlich erschienenen Überlegungen bildet, die fragen: Wie kann es einer gegenhegemonialen linken Strategie gelingen, den (mit seiner Betonung des Trennenden) in seinem Kern auf "Anti-Hegemonie" hinauslaufenden "linken" Diskurs in einen gegenhegemonialen Diskurs zu überführen, der das Verbindende betont, gleichzeitig aber nicht der Unterordnung der Differenz unter das Kollektiv das Wort redet?[6] Kushners Einsicht in das Problem, dass die Linke sich "in ihre Marginalisierung und ihre Ohnmacht verliebt" habe und dass man "die Fähigkeit verloren habe, in einer verständlichen Sprache zu den Menschen zu sprechen", weshalb es zu einem zunehmenden "Auseinanderdriften der linken Intelligentsia und 'der Bevölkerung', der Mittelklasse und der Arbeiterklasse" gekommen sei, führte auch ihn nach eigenen Angaben ab Ende der 1990er Jahre zu einer intensiveren und fruchtbaren Gramsci-Rezeption.

Seinen bisher größten kommerziellen Erfolg feierte Kushner allerdings bereits einige Jahre zuvor. 1992/93 wurde sein siebenstündiges Epos Angels in America, das sich aus den beiden Teilen Millennium Approaches und Perestroika zusammensetzt (und mit dem 1994 vollendeten Slavs! eine Art Epilog besitzt), uraufgeführt. Angels in America spielt in den 1980er Jahren in den USA und ist ein äußerst ambitioniertes, expressionistisches Werk, das sich angesichts des Cultural Backlash der Reagan-Ära, des Zusammenbruchs des realexistierenden Sozialismus sowie des Aufstiegs des AIDS-Virus[7] vor allem mit der Frage nach dem historischen Fortschritt im Allgemeinen auseinandersetzt. Die Benjamin-Bezüge sind gerade in diesen beiden Stücken unverkennbar. Im Anschluss an den düsteren, fast apokalyptischen Fin-de-siècle-Ausblick des ersten Teils, ist das große Thema von Perestroika buchstäblich der "Neuanfang", das Beharren auf der allgemeinen Veränderbarkeit der Welt und die Hoffnung auf einen Engel der Geschichte, der – jenseits aller (zeitweilig entmutigenden) menschlichen Katastrophen – den Menschen den nötigen Optimismus und die Einsicht an die Hand gibt, dass der menschliche Wille zum (Über-)Leben der erste Schritt auf dem Weg des politischen Fortschritts ist. Verkörpert wird dieser Topos durch den Mitte der 1980er mit dem AIDS-Virus infizierten und von seinem Freund verlassenen Protagonisten Prior, der trotz seiner durch die Umstände eigentlich negierten Lebensaussichten überlebt, während die Versinnbildlichung des barbarischen Egoismus und der amerikanischen Reaktion, Roy Cohn,[8] an seiner (homosexuellen) AIDS-Infizierung stirbt. Angels in America endet mit Priors großem Glaubensbekenntnis an die Fähigkeit der unterschiedlichsten Menschen, das Anlitz der Welt in einer gemeinsamen Anstrengung zu verändern. Das Kollektive entfaltet sich jenseits von Fragmentierung und Mikroidentität in der Erfahrung von Solidarität und Mitmenschlichkeit, was sich in dem Topos des (allgemeinen) Gegensatzes zwischen Egoismus und Verantwortung reflektiert. Dabei wirkt der Fortschritt als ein Machbares und Denkbares auch über den Tod hinaus. Selber dem Tod geweiht, bleiben Priors Gedanken dem politischen Ziel und Zweck gewidmet: "Diese Krankheit wird für viele von uns das Ende bedeuten, aber allemal nicht allen, und die Toten werden im Gedächtnis bleiben und sie werden zusammen mit den Lebenden weiter kämpfen, wir verschwinden nicht. Wir sterben keine verborgenen Tode mehr. Die Welt bewegt sich ausschließlich vorwärts. Wir werden Bürger sein. Die Zeit ist reif. Tschüss. Ihr seid fabelhafte Wesen, alle miteinander. Und ich segne euch: Mehr Leben.[9] Die große Arbeit beginnt."

Angels in America erhielt in der Folge eine Unzahl von Auszeichnungen, darunter den Pulitzer-Preis, und wurde 1998 vom London National Theatre zu einem der besten zehn Stücke des 20. Jahrhunderts überhaupt gewählt. 2003 folgte eine für 21 Emmys nominierte sechsstündige Verfilmung mit Emma Thompson und Al Pacino, für die Kushner selbst das Drehbuch schrieb und die mit dem Drama auf eine eindrucksvolle Weise textidentisch ist. Die Verfilmung und Angels in Americas Adaption als Oper (von Peter Eötvös seit November 2004 in Paris aufgeführt) trugen zum weiteren Ruhm Kushners bei. Von Steven Spielberg wurde er engagiert, das Drehbuch zu seinem kommenden Film Vengeance, der sich mit der Ermordung der israelischen Sportler bei der Olympiade 1972 in München auseinander setzt, zu überarbeiten bzw. selbst zu entwerfen.[10]

Auf Kushners neue dramatische Werke darf man gespannt sein. Nach eigenen Aussagen arbeitet er gegenwärtig u.a. an einer Trilogie über "das Geld", wobei er sich in den letzten Jahren gleichzeitig in großem Maße und mit erheblicher Verve vor allem politisch engagiert hat (so veröffentlichte er mit Save Your Democratic Citizen Soul! und mit der Herausgabe des besagten Wrestling With Zion unmittelbar politische Stellungnahmen). Sein bis dato letztes Stück, das zwischen 1997 und 2001 entworfene Homebody/Kabul, ein Drama über die afghanische Katastrophe, ihr Vergessen in der westlichen Welt und das Zutun des Westens (vor allem der Vereinigten Staaten) zu dieser Katastrophe sowie zum islamischen Fundamentalismus, jedenfalls war und ist an Aktualität kaum zu überbieten, da es als ein beeindruckendes Manifest gegen die aktuellste Form des Paranoid Style in American Politics (Richard Hofstadter) gelesen werden darf und als ein wirksames Mittel gegen die Tendenzen in den USA zu werten ist, den so genannten Clash of Civilizations im Alltagsverstand als eine ideologische "geopolitische Realität" (David Harvey) zu verankern. Tony Kushners Stücke, vor allem Angels in America, erzielten zwar eine gewisse Resonanz in Deutschland, seine eigentliche Rezeption hierzulande steht allerdings noch aus. Dieses lohnende Unterfangen sei hiermit angeregt.

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