1. Februar 2008 Heinz Bierbaum

Gewerkschaften im Aufbruch?

Die Gewerkschaften scheinen sich wieder gefangen zu haben. Sehr deutlich kam dies am Gewerkschaftstag der IG Metall zum Ausdruck. Nach einer Zeit des Selbstzweifels und interner, vor allem personell geprägter Querelen zeigte sie sich auf ihrem Gewerkschaftstag im November letzten Jahres in Leipzig selbstbewusst und geeint.

Grundlage für diese Aufbruchstimmung sind Erfolge bei der Mitgliederentwicklung, wo der Abwärtstrend gestoppt, wenn auch noch nicht wirklich umgedreht werden konnte, sowie eine erfolgreiche Tarifrunde. Und mit dem Thema "Gute Arbeit" ist ein vorwärtsweisender gemeinsamer Nenner für alle Gruppierungen in der IG Metall gefunden, der gleichzeitig auch auf verstärktes betriebliches Engagement verweist.[1] Der positive Eindruck, den der IG Metall-Gewerkschaftstag vermittelte, ist zugleich ein Zeichen für ein allgemein wiedergewonnenes Selbstbewusstsein der Gewerkschaften, auch wenn die Unterschiede zwischen den Gewerkschaften beträchtlich sind. So strahlt zwar die nach der IG Metall zweitgrößte Gewerkschaft ver.di nach außen Zuversicht aus, doch kann dies die großen Probleme sowohl bei der gewerkschaftlichen Interessenvertretung als auch innerhalb der eigenen Strukturen nicht verdecken.[2]

Die gegenwärtige wirtschaftliche und politische Entwicklung ist für die Gewerkschaften noch relativ günstig. Allerdings ist für das laufende Jahr von einer Abschwächung auszugehen, zumal angesichts der anhaltenden internationalen Finanzkrise. Freilich wird in dieser Situation auch deutlich, dass der wirtschaftliche Aufschwung der letzten beiden Jahre sich vor allem in einer Zunahme der Gewinn- und Vermögens­einkommen niedergeschlagen hat und bei den abhängig Beschäftigten nicht so recht angekommen ist. Die Position der ArbeitnehmerInnen hat sich verschlechtert. Die starke Schieflage in der Einkommensverteilung kann nicht länger übersehen werden. So ist es denn auch kein Wunder, dass die Kritik an der sozialen Ungerechtigkeit gesellschaftlich wie politisch deutlich zugenommen hat.

Alle Parteien entdecken zunehmend das Thema der sozialen Gerechtigkeit. Dazu haben nicht zuletzt auch die politischen Veränderungen mit der Entstehung der Partei "Die Linke" beigetragen. Damit ist die Kritik an der neoliberalen Zurichtung der Gesellschaft politisch praktisch geworden, was auch die anderen politischen Formationen zwingt, sich dazu zu verhalten. Gewerkschaften haben die große Chance, die gesellschaftliche Kritik aufzugreifen und sich als eine Kraft zu profilieren, die für die arbeitenden Menschen mit dem Ziel einer sozial gerechteren Gesellschaft eintritt. Auch wenn man sich kritisch fragen muss, wie lange diese relativ günstige Situation vor dem Hintergrund eines sich abzeichnenden wirtschaftlichen Rückgangs und einer sich verschärfenden politischen Auseinandersetzung anhalten wird, so ist doch klar, dass dieser gegenwärtig spürbare Aufwind für die Gewerkschaften genutzt werden muss. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der in 2009 anstehenden Bundestagswahlen.

Auf der anderen Seite klafft jedoch eine erhebliche Lücke zwischen den Chancen, die sich aus der vorteilhaften wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage ergeben, und der Verfassung der Gewerkschaften. Auch das gerade auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall spürbare neue Selbstbewusstsein kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gewerkschaften neben einigen Erfolgen eben nach wie vor noch erhebliche Defizite aufweisen. Ihre Basis ist schwächer geworden. Dies gilt zunächst für die Mitgliederentwicklung. Lässt man einmal die vereinigungsbedingte Sonderentwicklung außer acht, so haben die DGB-Gewerkschaften seit der Krise 1992/93 rund ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Inzwischen hat sich der Rückgang deutlich abgeschwächt. Ob dies aber eine nachhaltige Trendwende bedeutet, ist noch nicht ausgemacht. Weiter ist die Stellung der Gewerkschaften in den Betrieben schwächer geworden. Und auch in tarifpolitischer Hinsicht stehen Erfolgen, wie in der letzten Metallrunde, gewaltige Probleme gegenüber. Dies schwächt auch ihre Rolle als gesellschaftliche Kraft, wobei hinzukommt, dass die Gewerkschaften ihr politisches Mandat nur halbherzig wahrnehmen, wie etwa die Kampagne gegen die Rente mit 67 sehr deutlich machte.

Betriebspolitik und Mitbestimmung

Die zentrale Herausforderung für die Gewerkschaften stellt zweifellos eine verbesserte Verankerung in den Betrieben dar. Die Stellung der Gewerkschaften in den Betrieben ist schwach. Eine wirkliche betriebliche Betreuung durch die Gewerkschaften findet in vielen Bereichen nicht oder nicht mehr statt. Die gewerkschaftliche Vertrauensleutearbeit dümpelt vor sich hin. Es dominieren die Betriebsräte, die oft in erster Linie betriebliche Interessenvertreter und erst in zweiter Linie Gewerkschafter sind. Ganz besonders ausgeprägt ist dies in den Europäischen Betriebsräten. Gerade hier zeigt sich eine Gefahr der Integration der betrieblichen Interessenvertretungsstrukturen in die Unternehmenspolitik ab, die die gewerkschaftliche Vertretung in den Unternehmen und Betrieben insgesamt schwächen kann.

Die Verbetrieblichung gewerkschaftlicher Politik entpuppt sich in vielen Fällen als eine "Verbetriebswirtschaftlichung", d.h. betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte wie Anpassung der Arbeitsbedingungen an den Rhythmus von Markt und Produktion und die Reduzierung der Kosten dominieren über die Interessen der Beschäftigten. Konzeptionell kommt dies besonders im "Co-Management" zum Ausdruck. Dieses Konzept steht für eine Betriebspolitik, bei der einerseits den Betriebsräten vermehrte Mitbestimmungsrechte bis hin zur Beeinflussung der Investitionspolitik eingeräumt werden, andererseits aber prinzipiell das Primat der unternehmerischen Wettbewerbsfähigkeit anerkannt wird. Auch wenn die betriebliche Praxis nach wie vor durch derartige Ansätze charakterisiert wird, so scheint doch die Zeit des "Co-Managements" als zwar kritisiertes, gleichzeitig aber durchaus akzeptiertes Konzept gewerkschaftlicher Politik im Betrieb vorbei zu sein. Dafür sind verschiedene Entwicklungen ursächlich. So wurde durch die zunehmende Orientierung der Unternehmenspolitik am "Shareholder Value" dem "Co-Management" die materielle Grundlage weitgehend entzogen. Eine solche Politik sieht in der Mitbestimmung selbst dann keinen Gewinn für das Unternehmen, wenn sie wettbewerbspolitisch domestiziert ist. Zugleich traten vermehrt aber auch Legitimationsdefizite in dem Maße auf, in dem die materiellen Erfolge dieses Konzepts geringer wurden.

Bei der gewerkschaftlichen Politik im Betrieb ist eine Rückbesinnung auf die unmittelbare Interessenvertretung und auf die eigene Stärke festzustellen. Ausdruck davon sind die Initiativen mit den programmatischen Titeln "Besser statt billiger" und "Gute Arbeit". "Gute Arbeit" ist zu einem Begriff geworden, der betriebspolitisch und gesellschaftspolitisch gleichermaßen Orientierung bietet. Betriebspolitisch werden damit Ansprüche an den Inhalt der Arbeit und an die Arbeitsbedingungen formuliert, die zugleich auch eine gesellschaftspolitische Dimension haben. Denn damit ist ein Gegenentwurf zur Prekarisierung der Arbeit gesetzt. Dies erfordert sowohl konkrete betriebliche Aktionsprogramme, wie sie gegenwärtig insbesondere bei der IG Metall praktiziert werden, als auch gesellschaftliche Initiativen, wofür neben den Aktivitäten der Einzelgewerkschaften auch die DGB-Ini­tiative mit dem Index für "Gute Arbeit" ein Beispiel darstellt. Die Orientierung auf eine anspruchsvolle Gestaltung der Arbeit und der Arbeitsbedingungen ist im Grunde traditionelle klassische gewerkschaftliche Politik im Betrieb. Sie gewinnt jedoch in dem veränderten gesellschaftlichen und betrieblichen Kontext eine neue Qualität. Sie stellt eine Abkehr vom betriebswirtschaftlich bestimmten Konzept des "Co-Managements" dar. Sie ist Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins der Gewerkschaften, das nicht mehr der Legitimation übergreifender Konzeptionen bedarf, sondern aus der eigenständigen Wahrnehmung der Interessen der Beschäftigten resultiert.

So geeignet solche Ansätze auch sind, der gewerkschaftlichen Betriebspolitik neuen Schwung zu verleihen, so kann doch von einer umfassenden und organischen Konzeption gewerkschaftlicher Betriebspolitik nicht die Rede sein. Dazu ist neben der Stärkung und oft auch erst der Etablierung gewerkschaftlicher Strukturen im Betrieb auch eine grundlegende Revision der Mitbestimmungspolitik notwendig.

Die gewerkschaftliche Mitbestimmung steht erheblich unter Beschuss. Die Arbeitgeberverbände bekämpfen besonders die gewerkschaftliche Dimension der Mitbestimmung und wollen sie allenfalls als eine betriebliche Beteiligung ohne gewerkschaftlichen Einfluss. Am Widerstand der Arbeitgeberverbände ist auch die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission zur Reform der Mitbestimmung gescheitert. Den doch sehr grundsätzlichen Angriffen auf die Mitbestimmung begegnen die Gewerkschaften nicht offensiv, sondern defensiv. Immer wieder wird beschworen, dass die Mitbestimmung letztlich doch kein Nachteil, sondern ein Vorteil für die Unternehmen sei. Gerade an der Mitbestimmung zeigt sich, dass die Gewerkschaften bis heute keine wirkliche Antwort auf die Veränderungen in der Entwicklung des Kapitalismus und der Unternehmenspolitik haben. Das auf einem weitgehenden Produktivitätskonsens zwischen Management und Belegschaften beruhende und über die Mitbestimmung institutionell abgesicherte deutsche Produktionsmodell ist brüchig geworden. Die damit verbundenen sozialen Kosten gelten der Kapitalseite als zu hoch, auch weil der Beitrag der Beschäftigten für den Unternehmenserfolg eher gering veranschlagt wird. Arbeit erscheint in erster Linie als Kostenfaktor, den es zu minimieren gilt. Mitbestimmung erhält aber seitens der Gewerkschaften nach wie vor eine Begründung, die auf eben dieses deutsche Produktionsmodell und damit eines im nationalen Rahmen sozial korrigierten Kapitalismus rekurriert.

Oft wird mit Hinweis auf die Globalisierung und die stark international vernetzte Wirtschaft bestritten, dass Mitbestimmung überhaupt noch auf nationaler Ebene möglich sei. Dies ist so nicht richtig. Damit würde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Notwendig ist freilich eine Europäisierung und Internationalisierung der Mitbestimmung, die allerdings auch eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen der Partizipation erfordert und nicht einfach in der Übertragung des deutschen Modells bestehen kann. Dazu gehört unbedingt auch eine Stärkung der gewerkschaftlichen Dimension der Europäischen Betriebsräte.

Was die Mitbestimmung selbst angeht, so muss den veränderten Verhältnissen Rechnung getragen werden. In Zusammenhang mit der Entwicklung eines stark finanzwirtschaftlich bestimmten Kapitalismus hat sich auch die Unternehmenspolitik verändert. Ausdruck davon sind das "Shareholder Value"-Konzept und die in den letzten Jahren außerordentlich stark angestiegenen Aktivitäten der Finanzinvestoren ("Private Equity Fonds"). Damit ist die neoliberale Globalisierung mit ihrer Finanzmarktorientierung auf der Ebene der Unternehmen angekommen. Notwendig ist daher eine stärkere Auseinandersetzung mit der Unternehmenspolitik. Dabei kann an die Widersprüche und die immer stärker zu Tage tretenden Widersprüche dieses Konzepts selbst angeknüpft werden. Gegen den "Shareholder Value"-Ansatz gilt es die Konzeption der nachhaltigen Unternehmenspolitik zu setzen, die selbst wiederum in eine wirtschaftspolitische Konzeption der Nachhaltigkeit und damit der gesellschaftlichen Regulierung der Ökonomie einzubetten ist. Im Rahmen einer nachhaltigen Unternehmenspolitik wird das Unternehmen als Wertschöpfungsprozess mit der Arbeit und damit den Beschäftigten als zentralem Ansatzpunkt begriffen. Natürlich wird damit die generelle Ausrichtung der Unternehmenspolitik an der Rendite des eingesetzten Kapitals nicht aufgehoben. Es ergeben sich jedoch andere Orientierungen und Perspektiven. Im Vordergrund steht die Entwicklung der eigenen Potenziale. Die vorhandenen Ressourcen sollen für Prozess- und Produktinnovationen und damit für die Entwicklung des Unternehmens genutzt werden. Arbeit wird in diesem Zusammenhang vor allem als Leistungsfaktor und damit als eine wesentliche Grundlage für den Unternehmenserfolg gesehen, den es zu entwickeln gilt.

Mitbestimmung muss eine stärker gesellschafts- und unternehmenspolitische Dimension annehmen und wieder stärker ihre auch wirtschaftsdemokratischen Bezüge herausstellen. Sie muss politischer werden. Auf der betrieblichen Ebene gilt es, Mitbestimmung im Sinne eines umfassenden Beteiligungsprozesses zu reformulieren. Hier ergeben sich Perspektiven sowohl für die Stärkung der Gewerkschaften im Betrieb als auch für die Entwicklung innergewerkschaftlicher Demokratie. Dies erfordert freilich auch eine stärkere Dezentralisierung der gewerkschaftlichen Strukturen selbst, damit eine bessere Betreuung der Betriebe und auch eine bessere örtliche Vertretung möglich ist.

Tarifpolitik

Auch die gewerkschaftliche Tarifpolitik weist trotz einiger Erfolge erhebliche Defizite auf. Dies gilt zunächst für die Einkommenspolitik. Zwar konnten im Jahr 2007 für viele Beschäftigten tariflich Einkommenserhöhungen durchgesetzt werden, doch hat sich ihre Position im Laufe der letzten Jahre deutlich verschlechtert. Die Lohnquote, also der Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen sinkt seit Jahren. Die Gewerkschaften waren nicht in der Lage, über eine längere Frist die Verteilungsspielräume auszunutzen, von einer Umverteilung ganz zu schweigen. Seit mehr als 15 Jahren sind die abhängig Beschäftigten vom Zuwachs des gesellschaftlichen Reichtums abgekoppelt.[3] Die Schwächen in der gewerkschaftlichen Lohnpolitik zeigen anschaulich das in den letzten Jahren deutlich zulasten der Gewerkschaften verschobene gesellschaftliche Kräfteverhältnis. Hier zeigt sich ebenso wie auf der Ebene der Unternehmens- und Betriebspolitik, dass die Arbeit an Bedeutung verliert und unter Druck gerät. Ein Beispiel dafür sind die Auseinandersetzungen bei der Deutschen Telekom, die stellvertretend dafür stehen, wie sehr der Preis der Arbeit gedrückt werden soll. Auf der anderen Seite haben sich die Gewerkschaften aber auch selbst geschwächt. Einen verhängnisvollen Einfluss hatte ohne Zweifel das von Klaus Zwickel propagierte "Bündnis für Arbeit", mit dem das neo­klassische Konzept eines direkten Zusammenhangs von Preis der Arbeitskraft und Beschäftigung auch in den Gewerkschaften hoffähig geworden ist. Wenn auch durchaus heftig kritisiert, so folgte doch die gewerkschaftliche Lohnpolitik vielfach dem Konzept der "Umverteilung in der Klasse". Auch dies hat dazu beigetragen, dass die Lohnzuwächse viel zu gering ausfielen, was nicht nur den Interessen der Mitglieder zuwiderlief, sondern auch volkswirtschaftlich durch Schwächung der Binnennachfrage schädlich war.

Die in den verschiedenen Branchen zwar unterschiedliche, aber in vielen Bereichen eher zurückhaltende Lohnpolitik hat ohne Zweifel auch dazu beigetragen, dass besondere Berufsgruppen wie z.B. aktuell die Lokführer oder zuvor die Ärzte aus der Tarifgemeinschaft ausgeschert sind und tarifpolitische Sonderwege beschritten haben.

Die Politik der GDL ist allerdings auch Ausdruck der Schwäche von Transnet, die nicht in der Lage war, die durchaus berechtigten Interessen der Lokführer materiell aufzugreifen. Sie ist damit eine praktische Kritik am stark korporatistischen gewerkschaftlichen Konzept von Transnet, die sich letztlich der Unternehmenspolitik unterwarf, um die Verhandlungschancen für die soziale Absicherung der Beschäftigten zu erhöhen.[4] Die Politik der GDL birgt auf der anderen Seite die Gefahr einer Verberuflichung der Tarifpolitik, wobei besondere Berufsgruppen Sonderinteressen wegen ihrer spezifisch gebrauchten Qualifikation durchsetzen, die nicht ohne weiteres allgemein übertragbar sind. So sehr es berechtigt ist, eigene Interessen zu vertreten, so sind andererseits die Schranken dieser Politik und ihr Gefährdungspotenzial für eine solidarische Interessenvertretung unübersehbar.

Der Konflikt bei der Bahn wie bei den Krankenhäusern wirft die Frage auf, inwieweit die Gewerkschaften in der Lage sind, eine genügend differenzierte Tarifpolitik innerhalb einer Branche zu entwickeln und durchzusetzen, die auch die Interessen besonderer Berufsgruppen berücksichtigt. Damit ist zugleich allgemein die Frage nach der Differenzierung in der Tarifpolitik aufgeworfen. Es sind ja nicht nur bestimmte Berufsgruppen wie die Lokführer, die Ärzte, die Piloten oder die Fluglotsen, die eine sektoral ausgerichtete Tarifpolitik in Frage stellen. Verwiesen sei nur auf die Auseinandersetzung in der IG Metall im Hinblick auf eine betrieblich differenzierte Tarifpolitik, die zwar gegenwärtig an Aktualität und Schärfe verloren hat, dennoch aber nicht vom Tisch ist. Differenzierung wurde in den letzten Jahren vorwiegend als betriebliche Differenzierung entsprechend der unterschiedlichen wirtschaftlichen Leistungskraft der Betriebe diskutiert. Dies war und ist gewerkschaftspolitisch höchst problematisch und hebelt den Flächentarifvertrag letztlich aus. Diese Gefahr war auch mit dem Pforzheimer Abkommen der IG Metall gegeben, wird jedoch durch die inzwischen aktiv betriebene gewerkschaftliche Koordination derartiger Abkommen begrenzt.

Die Frage, wie die Interessen der unterschiedlichen Beschäftigtengruppen tarifpolitisch aufgegriffen werden können, ist gewerkschaftspolitisch von hoher Bedeutung. Eine Verberuflichung der Tarifpolitik, wie sie sich mit dem Vorgehen der GDL oder des Marburger Bundes als mögliche Entwicklung abzeichnet, würde den einheitlichen, solidarisch ausgerichteten Tarifvertrag aushebeln. Derartige berufliche Differenzierungen müssten im Rahmen bestehender Tarifverträge aufgegriffen werden. Die Differenzierung innerhalb der Tarifverträge hat nicht zuletzt auch Bedeutung für die gewerkschaftliche Angestelltenpolitik, wobei durchaus auch eine kritische Diskussion im Hinblick auf ERA nützlich wäre.[5]

Eine betriebsnahe Tarifpolitik muss nicht notwendigerweise eine starke betriebliche Differenzierung beinhalten, sondern kann sich auch durch andere Elemente wie z.B. eine stärkere betriebliche Beteiligung an und stärkeren Einbezug der Belegschaften in die tarifpolitische Willensbildung auszeichnen.

Notwendig ist zweifellos, dass die Gewerkschaften wieder zu einer offensiven Lohnpolitik zurückfinden. Die bislang stark zurückhaltende Lohnpolitik, für die die Gewerkschaften von konservativer bis sozialdemokratischer Seite gelobt werden, hat sich für sie nicht ausgezahlt. Mit einer offensiven Lohnpolitik kann auch Partikularinteressen besser begegnet werden, auch wenn deren Auftreten letztlich nicht verhindert werden kann. Die Zeit für eine Offensive in der Lohnpolitik ist günstig. Grund dafür ist nicht allein die relativ günstige wirtschaftliche Situation. Auch das gesellschaftliche Klima hat sich verändert. Der Neoliberalismus hat seinen Höhepunkt überschritten. Nachdem jahrelang Lohnmäßigung, ja Lohnsenkung als notwendige Bedingung wirtschaftlichen Aufschwungs propagiert und auch gesellschaftlich breit akzeptiert wurde, hat sich das Blatt gewendet. Immer mehr tritt ins Bewusstsein, dass man von Arbeit leben können muss, und dass die Auseinanderentwicklung von Arbeitseinkommen auf der einen Seite und Gewinn- und Vermögenseinkommen auf der anderen Seite nicht länger hingenommen werden kann.

Dies zeigt sich auch an der Frage des Mindestlohns. Die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns ist inzwischen gesellschaftlich breit akzeptiert. Zwar ist aus gewerkschaftlicher Sicht der Mindestlohn nicht unproblematisch, zeigt er doch auch eine gewisse Schwäche der tariflichen Lohnpolitik. Auf der anderen Seite eröffnet der Mindestlohn der gewerkschaftlichen Lohnpolitik auch Chancen. Denn damit wird eine Untergrenze festgelegt und somit das Lohndumping eingeschränkt.

In qualitativer Hinsicht hat die Tarifpolitik wenig zu bieten. Eine arbeitszeitpolitische Offensive ist von den Gewerkschaften gegenwärtig und wohl auch in naher Zukunft nicht zu erwarten. Möglicherweise liegen in der Qualität der Arbeit und in der Qualifizierung Felder für eine qualitativ ausgerichtete Tarifpolitik, die dann auch für breitere gewerkschaftliche Kampagnen taugen, die Betriebs- und Tarifpolitik miteinander verbinden.

Gesellschaftspolitik

Gewerkschaften sind eine wichtige gesellschaftliche Oppositionskraft gegen den herrschenden neoliberalen Kurs in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Ihr gesellschaftspolitisches Profil ist allerdings eher schwach ausgeprägt. Auch fehlt es den gewerkschaftlichen Kämpfen gegen die neoliberale Zurichtung der Gesellschaft und für eine sozial gerechte Gesellschaft an Einheitlichkeit und Schlagkraft. So erfasste etwa die Kampagne gegen die Rente mit 67 nur Teile der Gewerkschaften und wurde insgesamt betrachtet eher halbherzig geführt. Dabei spielt der Zeitgeist gegenwärtig den Gewerkschaften eher in die Hände. Das Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit, nach Korrekturen in der ungerechten Einkommensverteilung und einer stärkeren Berücksichtigung der Anliegen der Menschen in der Politik ist gegenwärtig so stark wie schon lange nicht mehr.

Dadurch, dass trotz aller Halbheiten und Defizite die Gewerkschaften eine wesentliche Oppositionskraft sind, hat ihre politische Bedeutung objektiv zugenommen. Dies hängt nicht zuletzt auch mit der Entwicklung der politischen Parteien und dem veränderten Verhältnis von Politik und Gewerkschaften zusammen. Die ehemals sehr enge Verbindung von Gewerkschaften und SPD hat sich infolge der Entwicklung der SPD deutlich gelockert und unterliegt einem schon seit vielen Jahren andauernden Erosionsprozess. Mit der Herausbildung der "Linken" als einer Partei links von der SPD mit zugleich starkem gewerkschaftlichem Bezug hat sich das Verhältnis von Politik und Gewerkschaften noch weiter verändert. Die Zeit der ehemals privilegierten Beziehung zwischen SPD und Gewerkschaften gehört damit endgültig der Vergangenheit an. Es macht allerdings keinen Sinn, nun eine neue privilegierte Beziehung mit der "Linken" anstreben zu wollen – abgesehen davon, dass dies auch völlig unrealistisch wäre. So notwendig eine Repräsentanz der gewerkschaftlichen Anliegen im politischen Raum auch ist, so ist andererseits ebenso notwendig, dass Gewerkschaften autonom sind und eigenständig politisch handeln. Die Gewerkschaften haben ein eigenständiges politisches Mandat, das aus der Vertretung der Interessen der abhängig Beschäftigten resultiert. Sie nehmen aber ihr politisches Mandat nur unzureichend wahr.

Hier machen sich allerdings auch Schwächen in den gewerkschaftlichen Strukturen bemerkbar. Es fehlt an einer übergreifenden organisatorischen Bündelung. Der gewerkschaftliche Dachverband DGB ist schwach, und er ist in den letzten Jahren weiter geschwächt worden. Zu einer wirklich gemeinsamen Vertretung der Gewerkschaften im politischen und gesellschaftlichen Raum ist er kaum in der Lage. Vielfach wird diese Aufgabe oft von großen Einzelgewerkschaften wie vor allem der IG Metall, aber auch ver.di übernommen. Das ist aber keine wirkliche Lösung. Auch wenn es angesichts der abgelaufenen Entwicklung wenig hoffnungsvoll erscheint, so ist doch eine Stärkung des DGB als gewerkschaftlicher Dachverband unausweichlich.

Die neoliberale Hegemonie ist brüchig geworden. Dies zeigen die gesellschaftliche Entwicklung mit der Wiederentdeckung des Sozialen ebenso wie die politischen Veränderungen. Dies eröffnet gute Chancen auch dafür, dass die Gewerkschaften aus ihrer Krise herausfinden. Auch wenn die Stimmung besser als die tatsächliche Lage sein mag, so sind doch Zeichen der Revitalisierung der Gewerkschaften unübersehbar. Trotz aller Problematiken zeigt sich dies an der Tarifpolitik, wo die Weichen in Richtung einer offensiven Lohnpolitik gestellt sind. Die Rückkehr zur offensiven Lohnpolitik ist für die gewerkschaftliche Entwicklung insgesamt von enormer Bedeutung. Ebenso ist mit dem Konzept der "Guten Arbeit" eine Plattform gefunden, die für betriebliche Politik und für gesellschaftliche Initiativen gleichermaßen geeignet ist. Allerdings bedarf es gerade auf der betrieblichen Ebene erheblicher Anstrengungen, um die Stellung der Gewerkschaften zu stärken. Es steht außer Frage, dass die gesellschaftliche Bedeutung der Gewerkschaften von ihrer Mitgliederstärke und ihrer betrieblichen Verankerung abhängt. Gleichzeitig müssen sie aber auch ihr eigenständiges gesellschaftspolitisches Profil schärfen. Das bedeutet, dass Kampagnen wie gegen die Rente mit 67 nicht nur fortgeführt, sondern auch konsequenter geführt werden müssen. Die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn bietet trotz der durchaus vorhandenen tarifpolitischen Problematik die Chance für eine breite gesellschaftliche Kampagne, die den gewerkschaftlichen Forderungen für eine sozial gerechtere Gesellschaft insgesamt nützt.

Heinz Bierbaum ist Hochschullehrer an der Universität des Saarlands und Leiter des INFO-Instituts in Saarbrücken.

[1] Vgl. Richard Detje/Otto König: Leipziger Signal – IG Metall im Aufwind, in: Sozialismus 12/2007
[2] Vgl. Michael Wendl: ver.di nach dem Bundeskongress – vor organisations- und tarifpolitischen Herausforderungen, in: Sozialismus 11/2007
[3] Vgl. Richard Detje: Licht am Ende des Tunnels? Verteilungspolitische Probleme und Paradoxien, in: Sozialismus 11/2007
[4] Vgl. Michael Wendl: "Verberuflichung" in der Tarifpolitik, in: Sozialismus 1/2008
[5] Vgl. dazu Mike Buchner/Eberhard Fehrmann/Gerd Lobodda: Hat sich der DGB mit seinem Niedergang arrangiert? Plädoyer für die Erneuerung der Einheitsgewerkschaft, in: Sozialismus 11/2007. So sehr eine kritische Auseinandersetzung mit ERA geboten ist, so wenig kann ich allerdings der sehr pauschalen Kritik an ERA in diesem Beitrag zustimmen.

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