22. August 2013 Joachim Bischoff / Hasko Hüning

Gregor Gysis Blick auf DIE LINKE

Kategorie: Linksparteien

Die BundesbürgerInnen sind trotz reichlicher Probleme in der großen Mehrheit zufrieden mit der schwarz-gelben Bundesregierung. Von Wechselstimmung keine Spur.

Die Kanzlerin genießt im Gegensatz zu ihrem Herausforderer Peer Steinbrück höchste Beliebtheit. Ihre Partei hat fast 20 Prozentpunkte Vorsprung vor der SPD. Sicher: Durch unvorhergesehene politisch-ökonomische Ereignisse könnte die betuliche Entwicklung noch durchbrochen werden.

Beispielsweise schwelt die Krise der Euro-Zone weiter im Hintergrund und könnte – ausgelöst durch ökonomische oder politische Entwicklungen – schlagartig wieder  in die Schlagzeilen der Nachrichten geraten. Aber nach veränderten politischen Kräfteverhältnissen sieht es momentan nicht aus.

Auch die Linkspartei kann mit dem Wiedereinzug in das Bundesparlament rechnen, wenn auch mit gegen­über 2009 verringerter Zustimmung und mit geringerer Personalstärke. Was ist der Grund für diese »Normalität«? Da ist zunächst der Hinweis auf ihr Kernthema »Soziale Gerechtigkeit«. Gleichwohl wird vermutlich nur eine geringe Anzahl von WählerInnen und SympathisantInnen der sozialistischen Partei die Wahlentscheidung mit dem Programm »100 Prozent sozial« begründen. Das Programm der Linken ist zu umfangreich und zu sperrig, als dass es in der politischen Auseinandersetzung eine herausragende Rolle spielen könnte.

Gregor Gysi argumentiert daher: »Die Linke ist wichtig für die Demokratie, weil nur mit ihr Bevölkerungsmehrheiten gegen die Rente erst ab 67, gegen den Afghanistan-Kriegseinsatz der Bundeswehr, für einen Stopp der Waffenexporte, für eine andere Europapolitik überhaupt mit Sitz, Stimme und Argument im Bundestag Thema sind.«[1] Dass dies in der heutigen Bundesrepublik bei einem Teil der StimmbürgerInnen von mehr als 5% als Argument zählt, hat etwas mit der Ausdauer und Hartnäckigkeit der LINKEN zu tun. Deshalb lautet eine von Gregor Gysis Thesen in dem kürzlich veröffentlichten Buch »Wie weiter? Nachdenken über Deutschland«:[2] Die LINKE ist nicht stärker, aber einflussreicher geworden. »Der Zeitgeist hat sich geändert. Den kann weder eine einzelne Partei noch irgendeine Einrichtung oder Organisation bestimmen.« Durch die anhaltende Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und die Vertiefung der sozialen Spaltung sind die sozialen Fragen Bestandteile der Öffentlichkeit und die Linkspartei hat mit »Ausdauer und Konsequenz vermocht, ihren politischen Markenkern zu kommunizieren.« /147/ Dagegen kämpft die Sozialdemokratie mit dem Hinweis an, dass die »Agenda 2010« eine umfassende Neujustierung der sozia­len Sicherheit war. Diese Lektion sitzt allerdings auch tief im kollektiven Gedächtnis. Die Linkspartei hat diese »unsoziale Politik bekämpft, und wenn wir inzwischen von vielen als Partei der sozialen Gerechtigkeit wahrgenommen werden, hängt dies ursächlich mit unserem Widerstand zusammen.« /ebd./

Nicht jede politische Wende oder Kurskorrektur hinterlässt eine tiefe Spur im kollektiven Gedächtnis. Aber die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914,[3] die Ablehnung des faschistischen Ermächtigungsgesetzes 1933,[4] die Anerkennung der Wiederbewaffnung 1960[5] und die »Agenda 2010« markieren Zäsuren. Dazu kommt, dass mit der zuletzt benannten Neujustierung die keynesia­nische Nachkriegsordnung aufgelöst, also das Kapital aus seinem Nutztierkäfig befreit wurde, und jetzt die Frage einer Alternative oder der Re-Regulierung auf der Tagesordnung steht.

Gysi argumentiert, dass die Sozialdemokratie hier an einem massiven programmatisch-strategischen Defizit laboriert. »Die SPD ist nur scheinbar nach links gerückt. Richtig ist, dass sie die Agenda-Politik an einigen Stellen relativiert hat. Jedoch ist es eine Sache, ein Wahlprogramm mit lauter mehr oder weniger linken Forderungen vollzuschreiben; eine völlig andere ist es, dann Koalitionspräferenzen zu zeigen, die die Verwirklichung dieser Forderungen ausschließen. Nähme die SPD ihr Wahlprogramm ernst, wäre sie genötigt, auch die machtpolitischen Realitäten in diesem Land ernst zu nehmen. Doch Steinbrück und Gabriel sind es, die immer wieder Rot-Rot-Grün ausschließen – die einzige Option, die eine Gewähr dafür böte, dass die SPD ihrer Resozialdemokratisierung auf dem Programmpapier Leben einhauchen müsste. Offensichtlich ist eben genau das von der SPD-Führung nicht gewollt. Die Existenz der LINKEN ist eine permanente Herausforderung für die SPD, weil sie ihr den Spiegel vorhält. Der linke Flügel der SPD kann dies schon lange nicht mehr.«[6]

Stichhaltig ist das Argument: »Aufgrund der Agenda-Politik hat sich ein wichtiges Wählersegment von der SPD verabschiedet. Der Gedanke, es sei wieder zurückzugewinnen, wenn DIE LINKE von der Bildfläche verschwindet, verweist auf ein obskures Demokratieverständnis. Wählerinnen und Wähler sind nicht Eigentum von Parteien. Die SPD hat nicht Wählerinnen und Wähler verloren, weil es DIE LINKE gibt, sondern weil sie deren Interessen nicht mehr vertreten hat.«[7] Stichhaltig ist aber auch, dass die Linkspartei ohne Entwicklung einer politischen Alternative, die zur Wiederherstellung und zum Ausbau sozialer Gerechtigkeit führt, mehr und mehr an gesellschaftlicher Resonanz verliert. »Mehrheiten finden sich nicht spontan und über Nacht, sondern in einem langwierigen Aufklärungs- und Erkenntnisprozess. Dieser steht unter dem Diktat des Zeitgeistes, jener Tendenz in der öffentlichen Diskussion, die Zustimmung oder Ablehnung, Interesse oder Desinteresse signalisiert.« /13f./ Der politische Markenkern muss in Konzeptionen und Politik umgesetzt und die Integration verschiedener Protestpotenziale gegen den Neoliberalismus betrieben werden.

Gysi stellt zu Recht fest, dass der aus dem gesellschaftlichen Gehäuse ausgebrochene Kapitalismus bei aller Anerkennung seiner Dynamik und Veränderbarkeit nicht in der Lage ist, soziale Gerechtigkeit herzustellen. Soziale Sicherheit und der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft fallen der Erosion und Flexibilisierung aller Lebensverhältnisse zum Opfer. Die bundesdeutsche Sozialdemokratie, samt ihrer europäischen Parteienfamilie, ist weit von einer selbstkritischen Korrektur ihrer strategischen Option entfernt. Aber auch die Linkspartei weist – wie Gysi notiert – drei grundlegende Schwächen auf:

1. »Wir haben kein wirklich funktionierendes praktisches Beispiel, wo und wie der demokratische Sozialismus aussieht. Es gibt weltweit kein Land, auf dass man verweisen und sagen könnte: Schaut es euch an – das wollen wir auch in Deutschland so machen.«

2. »Weil es den Staatsozialismus gab, wie es ihn gab, herrscht uns gegenüber ein Misstrauen: Sind die denn wirklich demokratisch, für Freiheit und Menschenrechte? Was passiert, wenn die Linken denn an die Macht kämen?«

3. »Und … schließlich – das korrespondiert mit unserer Vergangenheit, aber auch mit dem Stigma der SPD – haben wir das Vorurteil gegen uns, dass Sozialistinnen und  Sozialisten von Wirtschaft keine Ahnung hätten. Sie verstünden nur Geld auszugeben, aber keins zu verdienen.« /25/

Insbesondere die Beachtung des dritten Punktes könnte zu einer weiterführenden, selbstkritischen Bilanzierung innerhalb der Linkspartei werden. Sicherlich lassen sich mit der Verschiebung von Verteilungsparametern auch bei gegebener Produktion des gesellschaftlichen Reichtums drückende Probleme mildern. Aber eine selbstbewusste Linke wird sich darüber klar sein müssen, dass mit den Eingriffen in die Verteilungsverhältnisse Rückwirkungen auf die Produktionsstrukturen entstehen. Eine Reformkraft muss daher bestrebt sein, auch Kompetenzen für Wirtschaft und Arbeit zu erwerben, um ein Projekt gesellschaftlicher Transformation anzuschieben. Und Gysi deutet dann auch die Schlussfolgerung an: »Deshalb kämpfe ich seit längerer Zeit in der Partei – zugegeben: noch nicht besonders erfolgreich bislang –, dass wir endlich Vorstellungen einer Wirtschaftspolitik formulieren, welche genau diesem Misstrauen entgegenwirkt.« /26/

Die politische Relevanz der Wirtschaftspolitik ist durch die bis heute anhaltende Krise der kapitalistischen Ökonomie unterstrichen worden. Die Folgen der massiven Fehlentwicklung trägt überwiegend die große Mehrheit der Bevölkerung; wenn viele BürgerInnen am Rande des Existenzminimums ihr Leben gestalten müssen, führt dies gleichwohl nicht automatisch zu politischem Protest oder zivilgesellschaftlichem Engagement gegen die überlieferte Wirtschaftsordnung. Aber dieses Dilemma gilt für den Großteil der demokratischen Kräfte: Trotz offenkundigen Versagens des neo­liberalen Politikangebots sind die kritisch-oppositionellen Ökonomen weiterhin in der Defensive. Es ist doch wohl so, dass es zur Zeit der keynesianischen Nachkriegsordnung wie im Zeitalter des Neoliberalismus und der Austeritätspolitik reichlich kritische Ökonomen gibt, die konkrete Vorschläge für ein ökonomisches Regulations- und Steuerungssystem vorgelegt haben. Dass bislang eine effektive und gleichwohl demokratisch angelegte Wirtschaft nicht verwirklicht werden konnte, dürfte mehr mit den überlieferten Macht- und Eigentumsverhältnissen zu tun haben.

Auf der anderen Seite – da ist Gysi zuzustimmen – zeichnet sich auch die Linkspartei nicht durch ein überzeugendes und kohärentes Angebot einer kritischen Wirtschaftspolitik aus. Beispielsweise hat der Linkspolitiker Manfred Sohn dieser Tage dafür votiert, gegenüber Reform- und Wirtschaftspolitik auf Distanz zu gehen: Es sei »grundfalsch, zu glauben, durch Eingrenzung der Spekulation die kapitalistische Krise beherrschen zu können. Das ist so als glaubte jemand, mit der Senkung des Fiebers alle Krankheiten beseitigen zu können. Nichts wäre politisch von links idiotischer als die demnächst so sicher wie das Amen in der Kirche kommende Einladung anzunehmen, sich den Zeitkäufern anzuschließen und durch irgendwelche währungspolitischen Operationen zu versuchen, dem Sterbenden doch noch etwas Zeit zu retten.«[8]

Es wäre fahrlässig, diese Absage an die Gestaltung von Verteilungsverhältnissen und von kapitalistischer Wirtschaftsstruktur als Randerscheinung abwehren zu wollen. Ohne Zweifel: Gerade das eklatante Versagen der neoliberalen Wirtschaftspolitik führt zu einer verbreiteten grundlegenden Abwehrhaltung: »Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass diese Krise nicht nur keine normale zyklische Krise ist, sondern dass sie anders als frühere große Krisen nicht zu einer anderen Variante des Kapitalismus führt. … Wir erleben in diesen Monaten und Jahren den Beginn der finalen Krise des kapitalistischen Systems.«[9] Da wird, wie schon so oft in der Linken, das Ende ausgerufen. Welch alberne Hoffnung! Wo bleibt die umgestaltende Perspektive?

Wenn man mit Gysi auf den Zeitgeist einwirken, »mit Hilfe des Zeitgeistes das Kräfteverhältnis ändern« /99/ und für eine Überwindung des Neoliberalismus eintreten will, dann wäre die Verständigung auf eine linke, kapitalismuskritische Wirtschaftspolitik und auf eine Demokratisierung der betrieblichen und gesamtgesellschaftlichen Ökonomie ein wichtiger Zwischenschritt.

Immerhin: Die Linkspartei ist mit großer Wahrscheinlichkeit auch in der nächsten Wahlperiode auf der politischen Bühne dabei und kann versuchen, den Zeitgeist ein wenig in Richtung soziale Gerechtigkeit, Regulation und Steuerung zu verschieben. Das Projekt einer Zivilisierung des Kapitalismus ist heute nicht weniger dringend als in früheren Phasen seiner Geschichte.

Joachim Bischoff und Hasko Hüning sind Mitglieder der Partei DIE LINKE.

[1] Die Zeit vom 4.8.2013
[2] Die 24 Kapitel des im Verlag Das Neue Berlin erschienenen Taschenbuches sind um Längen besser formuliert und damit lesbarer als die Ausführungen im Wahlprogramm. Es ist auch vom Zeitgeist und seiner Entwicklung die Rede. Allerdings bleibt der Aspekt der Zeitdiagnose unterbelichtet. Gleichwohl: Gysi hat eine lesbare Präsentation der wichtigsten Politikaspekte der Linkspartei vorgelegt. Die folgenden Zitate stammen, soweit nicht anders vermerkt, aus diesem Text.
[3] Am 4. August 1914 stimmte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den Kriegskrediten zu, eine 14-köpfige Minderheit hielt sich an die Fraktionsdisziplin. Erst im Verlauf der zweiten und dritten Abstimmung über die Kriegskredite stimmten Karl Liebknecht und Otto Rühle dagegen. Damit war ein Grundstein gelegt für einen Differenzierungsprozess innerhalb der Sozialdemokratie, der zur Abspaltung der USPD von der SPD führte.
[4] Nach Ausschaltung der KPD, deren Reichstagsfraktion per Verordnung die Mandate entzogen worden waren, stimmte allein die sozialdemokratische Fraktion geschlossen mit ihren 94 Abgeordneten unter Führung von Otto Wels am 24. März 1933 gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz »zur Behebung der Not von Volk und Reich«. Dieses Ermächtigungsgesetz erhielt dennoch durch die bürgerlichen Parteien die notwendige 2/3-Mehrheit und wurde zusammen mit der Reichstagsbrandverordnung zum Schlüsselgesetz für die Gleichschaltung Deutschlands.
[5] Der Deutsche Bundestag lehnte zunächst in einer großen außenpolitischen Debatte im November 1949 die nationale Wiederbewaffnung ab. Nach der Verschärfung des Ost-West-Konflikts durch den Koreakrieg stimmte der Bundestag dem Beitritt der BRD zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1952 gegen die Stimmen der Sozialdemokratie zu. Im Oktober 1954 wurden die Pariser Verträge abgeschlossen, in denen der Beitritt der BRD zur Nato und zur WEU vereinbart wurde. Die Verträge wurden nach heftigen Auseinandersetzungen im Februar 1955 im Bundestag ratifiziert. Das Kernargument der Opposition formulierte Erich Ollenhauer mit dem Verweis, dass dadurch die Freiheit gefährdet werde und eine »verhängnisvolle Verhärtung der Spaltung Deutschlands« eintrete. Im Mai 1955 trat die BRD der NATO bei. Bis 1960 gab es in der BRD einen breiten gesellschaftlichen Konsens bezüglich der Ablehnung der Wiederbewaffnung und der Wehrpflicht sowie vor allem der Atomrüstung. Im Juni 1960 nahm der stellvertretende Parteivorsitzende Herbert Wehner in einer Rede im Bundestag den so genannten Deutschlandplan der SPD von 1959 zurück, der ein striktes Bekenntnis zu Entspannung und Frieden ohne Militärblöcke in Europa vorsah. Er postulierte demgegenüber nun das Bekenntnis der SPD zur NATO, das schon damals als eine zentrale Voraussetzung für die Regierungsfähigkeit einer Partei galt.
[6] Gregor Gysi, Die Linke stört. Na und?, in: DIE ZEIT 7.8.2013
[7] Ebd.
[8] Manfred Sohn, Der Kapitalismus, die Linken und die Zeitdiebe, in: Neues Deutschland 10.8.2013
[9] Ebd.

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