1. November 2005 Redaktion Sozialismus

Große Koalition – ungeahnte Möglichkeiten?

Nach längerem Machtpoker haben sich die Unionsparteien und die Sozialdemokratie auf die Bildung einer großen Koalition verständigt. Die Verteilung der Ressorts in der neuen Regierung ist vereinbart, bis Mitte November soll der Koalitionsvertrag stehen. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel wird die Position des Bundeskanzlers übernehmen, während im Kabinett strikte Machtparität gewährleistet sein soll, sodass die Koalitionspartner zur Kompromissfindung verurteilt sind.

Die große Koalition wird den Weg der Abwicklung des Rheinischen Kapitalismus forcieren. Keine Frage: die Unionsparteien mussten sich von dem geplanten Generalumbau der sozialen Marktwirtschaft verabschieden. Es wird keine Demontage des Tarifrechts geben, die Abschaffung der Steuerfreiheit von Sonn-, Nacht- und Feiertagszuschlägen ist ebenso vom Tisch wie der fundamentale Systemwechsel in der gesetzlichen Krankenversicherung. Zugleich hält die Koalition daran fest, dass die Politik der Senkung der "Lohnnebenkosten" fortgeführt, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes weiter vorangetrieben und die Gewerkschaften – wie schon in der Agenda 2010 proklamiert – zu betrieblichen Bündnissen angehalten werden. Die Sparpolitik bei den öffentlichen Aufgaben wird intensiviert und es wird weitere Eingriffe in das Steuerrecht geben. Täglich kommen neue Horrormeldungen über Einschnitte in Leistungsgesetze und Rentenkürzungen. Großkoalitionäre prophezeien schon mal "flächendeckendes Heulen und Zähneklappern" (Koch), um die "größte Haushaltssanierung in der Geschichte Deutschlands" (Stoiber) schultern zu können.

Die Hoffnungen auf eine Beschleunigung der Konjunktur haben sich verflüchtigt. Mit der Rücknahme der Wachstumsprognose auf 0,8% bestätigt sich, dass die Stagnation nunmehr im fünften Jahr anhält. Und im kommenden Jahr geht in die Prognose von 1,2% Wirtschaftswachstum die Erwartung ein, dass die Binnenkonjunktur langsam anzieht und eine schwächere Auslandsnachfrage kompensiert – in den vergangenen Jahren hat sich das immer als Träumerei herausgestellt. In den letzten Wochen ist durch die Restrukturierungsprogramme der großen Kapitalgesellschaften hinreichend verdeutlicht worden, dass angesichts wachsender Produktivität und Überkapazitäten in der nächsten Zeit mit weiteren Entlassungen zu rechnen ist. Im Herbstgutachten der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute wird lapidar festgehalten: "Ein Durchbruch bei der Lösung der fundamentalen Probleme der deutschen Wirtschaft ist nicht in Sicht. Die Probleme zeigen sich vor allem darin, dass das mittelfristige Wachstum des Bruttoinlandsprodukts fortlaufend zurückgegangen ist... Für große Teile der Bevölkerung ist dies gleichbedeutend mit einer Abnahme des Lebensstandards."

Die Aussichten zusammengefasst:

  Das Wirtschaftswachstum bleibt unter dem gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwachs, was die Arbeitslosigkeit tendenziell erhöhen wird, zumal wir eher mit einer Verlängerung der Arbeitszeiten konfrontiert sind.

  Die negative Entwicklung bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen belastet die Sozialkassen; im laufenden Jahr wird mit einem Rückgang um rund 400.000 und in 2006 um weitere 100.000 gerechnet. Außerdem: Wegen der "Lohnzurückhaltung" gehen die Einnahmen der Sozialkassen weiter zurück.

  Trotz der Anfang 2005 in Kraft getretenen letzten Stufe der rot-grünen Steuer"reform" sind die Realeinkommen erneut gesunken; folglich wird auch bei den realen Konsumausgaben für das laufende und das kommende Jahr mit Rückgängen (um 0,5% bzw. 0,2%) gerechnet. Verstärkt wird dies durch weitere Kürzungen von Sozialtransfers.

  Allein die Unternehmer- und Vermögenseinkommen verzeichnen weiterhin deutliche Zuwächse; bei fortgesetzter Umverteilung nach oben bedeutet dies aber keine Lösung, sondern eine Verschärfung der realwirtschaftlichen Probleme.

Die große Koalition hat sich darauf verständigt, für 2007 ein umfangreiches Spar- und Kürzungsprogramm in einer Größenordnung von 35 Mrd. Euro aufzulegen – das entspricht rund 15% des Haushalts –, um die Neuverschuldung auf unter 3% zu senken. Die Problembereiche sind bekannt:

  Die Liquiditätsprobleme der Rentenversicherung sollen im laufenden Jahr durch einen vorgezogenen Bundeszuschuss (600 Mio.) gelöst werden. Eine Auffüllung der Zahlungsreserve der Rentenanstalt wird es nicht geben. Die auch für 2006 angekündigte Null-Runde bedeutet im Klartext: ein weiteres Jahr werden die Renten real sinken. Nominalrentenkürzungen, indem die gesetzliche Begrenzung gegen Rentenabschläge aufgehoben wird, passen gegenwärtig nicht in die Unionsdebatte über die Wahlschlappe ("soziale Kälte"). Für 2006 zeichnet sich eine befristete Entspannung ab: wirksam wird das Vorziehen der Fälligkeit der Arbeitgeberbeiträge, was den Rentenkassen ein Plus von 9,6 Mrd. Euro beschert. Im Gespräch ist die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 (von der Rürup- wie der Herzog-Kommission gefordert, allerdings erst ab 2011); auch wenn sich dadurch das tatsächliche Renteneintrittsalter nur indirekt beeinflussen lässt (es liegt derzeit bei 63 Jahren und ist bereits um ein Jahr gestiegen), nehmen doch die Rentenabschläge bei vorzeitigem Ausscheiden entsprechend zu, sodass sich auf diesem Weg Einsparungen erzielen lassen.

  Die Pflegeversicherung wird 2007 ihre Rücklagen aufgezehrt haben. Hier haben die Koalitionsparteien bereits angekündigt, wie bei der Rentenversicherung den Weg der Teilkapitalisierung zu beschreiten.

  Die Einsparungen durch das 2004 verabschiedete Gesundheitsmodernisierungsgesetz laufen 2007 aus. Als Maßnahmen für 2006 fordert die Union das Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge bei 6,63%; die Versicherten bezahlen heute bereits mehr (7,53%) und hier haben die Kassen weitere Anhebungen in 2006 angekündigt. Im Gespräch ist die Einschränkung der kostenlosen Mitversicherung von Familienangehörigen und eine verstärkte Steuerfinanzierung für "versicherungsfremde Leistungen" (z.B. Krankenversicherung für Kinder). Man könnte allerdings die Beitragsbemessungsgrenze von 3.525 Euro auf die der Rentenversicherung erhöhen, was umgehend Entlastung verspräche. Die SPD konzentriert sich auf Einsparungen im System durch "mehr Konkurrenz" zwischen Ärzten, Apothekern, Kliniken und Kassen.

  Schwierig ist die Situation beim Arbeitslosengeld II. Die Ausgaben des Bundes für Hartz VI werden am Ende des Jahres statt der geplanten 14,6 Mrd. Euro bei rund 26 Mrd. liegen. Der SPD-Vorsitzende Müntefering spricht vom "Rumtricksen", der noch amtierende Wirtschafts- und Arbeitsminister von "Sozialschmarotzern". Hier zeichnet sich ein großkoalitionärer Spaltungskurs ab, der nicht mehr reale Armutslagen in den Blick nimmt, sondern populistisch aus langzeitarbeitslosen Opfern Täter zu machen versucht. Ob es angesichts der Kampagne "Vorrang für die Anständigen – gegen Missbrauch, Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat" zu einer Erhöhung des Ost-Regelsatzes auf das Westniveau kommt, oder ob diese Erhöhung durch eine Ausweitung der Kontroll- und Überprüfungspraxis "erwirtschaftet" werden soll, bleibt abzuwarten.

  Auch bei der Bundesagentur für Arbeit dürfte der Rotstift das politische Geschäft bestimmen. Über eine Milliarde spart die BA beim Aussteuerbetrag: Er wird in diesem Jahr zwischen 5,2-5,5 Mrd. liegen statt der angenommenen 6,7 Mrd. Euro. Dafür sinkt der Bundeszuschuss zum BA-Haushalt von 4 auf 3 Mrd. Euro. Für 2006 war die alte Bundesregierung von 4,5 Mio. Arbeitslosen ausgegangen; die Prognosen liegen um eine Viertelmillion höher. Wie der Beitragssatz in 2006 durch "Einsparungen" der BA um ein Prozentpunkt sinken soll, ist schwer nachvollziehbar: Die in Augenschein genommenen weiteren Kürzungen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik dürften zu steigenden Ausgaben bei den passiven Leistungen führen. Ferner ist bereits absehbar, dass es bei fortschreitendem Abbau sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze (von 2001-2006 um 1,8 Mio. auf 26 Mio.) und geringem Wachstum der Lohnsumme erstmals zu Einnahmeausfällen bei der Bundesagentur kommen wird.

Die von den Christdemokraten favorisierten Sparmaßnahmen sind: Rückführung der Ich-AGs und Personalserviceagenturen sowie der Altersteilzeit. Vermutlich dürfte die weitere Kürzung bei den Weiterbildungs- und Fortbildungsmaßnahmen auch die Zustimmung des sozialdemokratischen Regierungspartners finden.

Mindereinnahmen bringt voraussichtlich ab 2007 die bereits beim Job-Gipfel verabredete Kürzung der Körperschaftsteuer von 25% auf 19% – die durch Kürzung von Unternehmenssubventionen gegenfinanziert werden sollte, was voraussichtlich nicht aufgeht. Ausfälle bringt auch die Abschaffung der Erbschaftssteuer für Betriebsvermögen nach einer Stundung von zehn Jahren. Ferner hatte die Union die weitere Senkung des Spitzensteuersatzes von 42% auf 39% gefordert, was wohl kaum in einem Regierungsprogramm der großen Koalition auftauchen wird. Gegen die Streichung der Gewerbesteuer – wie zuletzt von der Stiftung Marktwirtschaft gefordert – opponieren heftig die Städte und Kommunen; zur Diskussion bei der anstehenden Unternehmenssteuerreform steht das SVR-Modell der Dualen Einkommensteuer, die aus Sicht der Großkoalitionäre den "Vorteil" hat, dass die Tarife für Kapitaleinkünfte sinken, nicht aber die für Arbeitnehmereinkommen.

Offen ist schließlich auch die von der Union betriebene Mehrwertsteuererhöhung. Auch die sozialdemokratisch geführten Bundesländer haben massive Haushaltsprobleme und eine – wie auch immer verbrämte – Erhöhung der Verbrauchssteuern käme als Erleichterung durchaus gelegen. Damit die Neuverschuldung den Betrag der öffentlichen Investitionen (im Haushaltsentwurf für 2006: 22,4 Mrd.) nicht überschreitet, hat Eichel in den Haushalt für 2006 Rekordeinmaleinnahmen aus Privatisierungen von 32 Mrd. Euro eingerechnet – ob diese defizitmindernd sind, darum dreht sich momentan der Streit mit der EU-Kommission.

Das große Konsolidierungs- und Sparprogramm wird sicherlich mit einer Reihe von strukturpolitischen Projekten – Föderalismusreform – garniert werden. Unter dem Strich wird freilich herauskommen, dass der sozialökonomische Abwärtstrend politisch verstetigt wird. Wie tragfähig die Verabredungen sind, entscheidet sich durch den Verlauf der Konjunktur. Fällt der sich abzeichnende Periodenwechsel in einen neuen Zyklus ohne größere Friktionen und Absenkung des Wirtschaftswachstums, könnte das Ziel des nächsten ordentlichen Wahltermins im Jahr 2009 durchaus erreicht werden. Tragfähige, zukunftssichere Lösungen der drängenden gesellschaftlichen Probleme haben wir nicht zu erwarten. Die neue Fraktion der "Linken" und die sich formierende neue politische Formation hat mithin eine wichtige Aufgabe: Aufklärung über die Zusammenhänge und das Werben für einen wirklichen Politikwechsel.

Ein politischer Kurswechsel hätte eine deutliche Akzentsetzung zur Ausweitung öffentlicher Investitionen und der Nachfrage der öffentlichen Hände unterstellt. Angesichts der bisherigen Festlegungen ist die Schlussfolgerung berechtigt: Die Parteien der großen Koalition führen die bekannte neoliberale Politik fort; mit einer Asymmetrie der Belastungen von Kapital und Lohnarbeit werden weiterhin die Lohnarbeitsverhältnisse und die von Sozialtransfers lebenden BürgerInnen benachteiligt. Diese Unfähigkeit der Großkoalitionäre wird ihren Charakter als Volksparteien weiter beschädigen.

Logischerweise ist in der Fraktion der Sozialdemokratie von Aufbruchstimmung über eine "Koalition der neuen Möglichkeiten" wenig zu spüren. Für die sozialdemokratischen Mandatsträger ist offenkundig: Sie müssen über die Ministerien Arbeit und soziale Sicherung, Gesundheit, Finanzen und selbst Verkehr auch künftig schlechte Nachrichten in ihren Wahlkreisen und der Partei vermitteln. Beispielweise wird der sozialdemokratische Arbeitsminister die Aufgabe haben, weitere Kürzungen bei der Bundesagentur für Arbeit zu vertreten. Denn nur bei weiteren Kürzungen kann der Vorsatz erfüllt werden, die Beiträge von jetzt 6,5% abzusenken. Von einer solchen Absenkung werden letztlich wiederum die Unternehmen den Nutzen haben, während auf die Lohnabhängigen weitere Verschlechterungen zukommen. Vor allem auf die Arbeitslosen. Es war von Beginn an absehbar, dass begleitend zu der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe eine neue umfassendere Kontroll- und Überwachungsbürokratie aufgebaut werden würde. Stand bis jetzt bei der Überprüfung im Vordergrund, ob die Leistungsbezieher in eheähnlichen Verhältnissen leben, soll künftig auch die Wohnungsvergabe in die Kontrollpraxis einbezogen werden.

Der anfängliche Bonus – die SPD habe Schlimmeres verhindert – wird bald verbraucht sein. Die Sozialdemokraten sind auf eine Agenda 2010 plus festgelegt. Wie stark der Zusatz ausfällt, wird von der weiteren ökonomischen Entwicklung und den öffentlichen Einnahmen abhängen. Aus dieser politischen Klammer wird die SPD auch nicht herauskommen, wenn sie mit neuen Gesichtern in die Regierung geht. Angesichts der schwierigen Verhältnisse in Europa und in der "westlichen Gemeinschaft" dürfte auch von den medialen Auftritten eines sozialdemokratischen Außenministers wenig politische Erneuerung für die Partei ausgehen. Nach kurzer Atempause werden sich die Sozialdemokraten wieder mit den alltäglichen Parteiproblemen beschäftigen müssen. Die aufgeschobene Programmdebatte wird zeigen, in welchem Umfang in der Sozialdemokratie noch kritisches Potenzial für die Bilanzierung einer falschen Politik vorhanden ist.

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