1. April 2006 Joachim Bischoff und Richard Detje

Grundsatz-Konflikt

In den Kommunen und Ländern findet gegenwärtig die längste Streikauseinandersetzung in der Geschichte der zweiten Republik statt. Es handelt sich um einen Abwehrstreik gegen die Politik der öffentlichen Arbeitgeber, längere Arbeitszeiten durchzusetzen. Sechs Wochen wurde durch einen unbefristeten Erzwingungsstreik versucht, die bisherige Arbeitszeitregelung von 38,5 Wochenstunden zu verteidigen. Seit der siebten Woche wird der Konflikt mit ressourcen- und kraftsparenden Flexi-Streiks fortgeführt.

Der historische Streik der Gewerkschaft ÖTV im Jahr 1974 ist längst in den Schatten gestellt. Damals legten 193.000 ArbeiterInnen und Angestellte für drei Tage die Arbeit nieder, um 11% mehr Lohn und Gehalt durchzusetzen. Heute geht es um den Erhalt der Arbeitsplätze – Ende ungewiss.

Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes kämpfen mit einem Vierteljahrhundert neoliberaler Systemveränderung auf den Schultern – gegen den Widerstand einer politischen Klasse, die sich gegenüber den Sorgen und Nöten des Alltagslebens verselbständigt hat und deren Mehrheit angetrieben wird von der immer deutlicheren Absicht, ver.di eine Niederlage zu bescheren, von der sich die deutschen Gewerkschaften insgesamt auf absehbare Zeit nicht erholen werden. Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff spielt heute den Part der Margaret Thatcher, die man damals die "Eiserne Lady" nannte, als sie in den 1980er Jahren die Gewerkschaftsbewegung für zwei Jahrzehnte an die Kette legte. Die neoliberalen PolitikerInnen proklamieren offen, dass sie die Beschäftigten im öffentlichen Dienst länger für weniger Geld arbeiten lassen wollen. In einer Zeit, in der auch im privatkapitalistischen Sektor die Arbeitszeitregelungen immer schwerer verteidigt werden können, soll der öffentliche Dienst das Tor zur Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche als Normalarbeitszeit öffnen. Im Chor der politischen Klasse sind die sozialdemokratischen Stimmen kaum zu unterscheiden.

Es gab mehrere Kompromiss-Anläufe auf kommunaler Ebene. In Hamburg wurden nach Lebensalter, Familienstand und Besoldungsgruppe differenzierte Arbeitszeiten zwischen 38 und 39,5 Wochenstunden vereinbart – eine Gratwanderung, der nur 42% der streikenden Belegschaften zustimmten. In Niedersachsen orientierte man sich an der Arbeitsbelastung: Für besonders anstrengende Berufe wie bei der Müllabfuhr oder in Krankenhäusern bleibt die 38,5-Stunden-Woche erhalten, während in anderen Bereichen länger gearbeitet werden muss. Im Schlichtungsversuch in Hauptstreikgebiet Baden-Württemberg stand dieser Lösungsansatz nicht mehr zur Abstimmung – da sollten Beschäftigte in Krankenhäusern und im Altenpflegebereich künftig 39,5 Stunden arbeiten. Das hätte bedeutet, die Kernbelegschaften des Streiks mit einer Stunde unbezahlter Mehrarbeit abzufinden – da hätte man auch gleich das Scheitern des Arbeitskampfes zur Abstimmung stellen können.

Für die 800.000 Beschäftigten der Länder wurden diese Pirouetten nie gedreht. Möllring, Finanzminister aus Niedersachsen und Verhandlungsführer der Arbeitgeber: "Wir bleiben bei unserer Forderung von mindestens der 40-Stunden-Woche." Thüringens Ministerpräsident Althaus sekundiert mit der Forderung nach 42 Arbeitsstunden. Nach der IG Metall, der man in den ostdeutschen Bundesländern im Jahr 2003 die 35-Stunden-Woche zerschlagen hat, ist nun ver.di an der Reihe. Die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche ist eine Zwischenetappe; in der aktuellen Auseinandersetzung sind weitere Verlängerungen eingeschlossen und auch die Arbeitsentgelte sollen nach unten gedrückt werden.

Der Arbeitskampf im öffentlichen Dienst ist kein normaler Tarifkonflikt. Ginge es um effizientere Arbeitsabläufe und stärker an Leistungskriterien orientierte Entlohnung in öffentlichen Unternehmen und Verwaltungen, hätte die Tarifgemeinschaft der Länder nur den neuen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst zu unterzeichnen brauchen. Es geht auch nicht um bedarfsorientierte öffentliche Dienste. Denn was nutzt eine 40-Stunden-Woche, die mit halbtagsbeschäftigten Erzieherinnen nach wie vor keine Öffnungszeiten von Kindergärten erlaubt, die für erwerbstätige Mütter und Väter praktikabel sind. Oder was bringen die berühmt-berüchtigten 18 Minuten Arbeitszeitverlängerung am Tag, wenn man beim Einwohnermeldeamt noch mal geschwind den Reisepass zu verlängern oder eine Abschrift der Geburtsurkunde zu besorgen hat. Wenn man eine effektiv funktionierende öffentliche Verwaltung will, steht das Thema Arbeitszeitgestaltung und Arbeitszeitverteilung, nicht Arbeitszeitverlängerung auf der Tagesordnung.

Das erklärte Ziel der Arbeitgeber ist, Personalkosten einzusparen. Die im öffentlichen Dienst Beschäftigten sollen zur Sanierung der Haushalte herangezogen werden. Das ist nichts Neues. In den vergangenen zehn Jahren wurden über 800.000 Arbeitsplätze in den Kommunen, in den Ländern und beim Bund abgebaut. Mindestens weitere 200.000 Arbeitsplätze würde es kosten, wenn die 40-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst wieder zur Normalarbeitszeit würde. Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick nach Großbritannien. Dort leistet der öffentliche Sektor seit Jahren einen Beitrag zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zum Abbau von Arbeitslosigkeit.

Ohne Zweifel: Die Lage der öffentlichen Haushalte ist prekär. Dies gilt insbesondere für die Kommunen, die neben den Personalkosten auch die Investitionshaushalte zurückfahren. Aber gerade das Beispiel Großbritannien zeigt, dass man aus der Haushaltskrise herauswachsen muss, statt sich noch tiefer in sie hineinzusparen. Würde man diesem Weg – oder der in den skandinavischen Ländern praktizierten Politik – folgen, stünde eine gesellschaftliche Debatte um die Zukunft der öffentlichen Dienste an: darüber, was nicht kaputt gespart und was nicht dem Markt überlassen werden darf. Doch in Deutschland werden die öffentlichen Haushalte mit einer Steuerpolitik heruntergewirtschaftet, die die Akkumulation privaten Reichtums auf Kosten öffentlicher Zukunftsvorsorge zum Ziel hat.

Die Entscheidung der öffentlichen Arbeitgeber zur Eskalation der Tarifauseinandersetzung fiel bezeichnenderweise zusammen mit der mittelfristigen Haushaltsplanung der Bundesregierung, die Staatsquote auf das Niveau der frühen 1970er Jahre zurückzufahren. Damals kündigte die Sozialdemokratie an, "mehr Demokratie wagen" zu wollen – auch dadurch, dass man qualitativ hochwertige Dienstleistungen für alle unabhängig von den Einkommensverhältnissen zur Verfügung stellt. Heute mit der Staatsquote der 1970er Jahre die Probleme des 21. Jahrhunderts beheben zu wollen, heißt über die Verfestigung der Massenarbeitslosigkeit hinaus, die soziale und kulturelle Krise der Republik zu verschärfen.

Der Arbeitskampf in den Kommunen und Bundesländern ist ein politischer Konflikt. Seit 2004 ist die niedersächsische Landesregierung an der Seite von Stoiber (Bayern) und Koch (Hessen) an dem Projekt beteiligt, über den öffentlichen Dienst das Kapitel Arbeitszeitverkürzung in der gesamten Wirtschaft zu beenden. Dafür wird auch ein langer Arbeitskampf in Kauf genommen, in dem man bestrebt ist, die (ver)öffentlich(t)e Meinung gegen die Gewerkschaft in Stellung zu bringen, den Einsatz von Streikbrechern nicht scheut und offen mit weiteren Privatisierungen droht. Leider ist die Logik dieser Reaktionäre – wie beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg soll mit langen Arbeitszeiten ein neues Wirtschaftswunder erzeugt werden – nicht ohne medial-öffentliche Resonanz.

Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes wehren sich bravourös und wissen um den exemplarischen Charakter der Auseinandersetzung. Dass der Streik bei seinen eigentlichen Trägern "bröckelt", wird zwar immer wieder gern behauptet, aber die kämpferische Haltung der Belegschaften steht trotz eines eher schlechten gewerkschaftlichen Organisationsgrades außer Frage. Während die Betroffenen sehr eindeutig sagen, dass ihnen die zugemuteten Verschlechterungen reichen, ist in der Öffentlichkeit das Gerede von der Notwendigkeit des Verzichtes und längerer Arbeitszeiten weiterhin vorherrschend. Eine reife kapitalistische Gesellschaft mit hoher Arbeitsproduktivität trudelt immer tiefer in eine gesellschaftspolitische Sackgasse, wenn sie mit verlängerten Arbeitszeiten und geringeren Arbeitseinkommen für die beschleunigte Akkumulation von Geldkapital und Vermögenstiteln ein Treibhausklima schafft.

Hinter den berühmten 18 Minuten Mehrarbeit pro Tag lauern weitere Verlängerungen, wenn es nicht gelingt, die öffentlichen Unternehmen und die politische Klasse in die Schranken zu verweisen. Sie erinnern an jene Begebenheit vor einhundertfünfzig Jahren, von der Karl Marx berichtete: "'Wenn Sie mir erlauben', sagte mir ein respektabler Fabrikherr, 'täglich nur 10 Minuten Überzeit arbeiten zu lassen, stecken sie jährlich 1.000 Pfund Sterling in meine Tasche'". Das macht den Grundkonflikt in den Verteilungsauseinandersetzungen im Kapitalismus sichtbar.

Dass ausgerechnet die politische Klasse mit den Beschäftigten im öffentlichen Dienst eine grundsätzliche Wende in Sachen Arbeitszeit erzwingen will, lässt zu Recht die Vermutung aufkommen, dass es darum geht, der Gewerkschaftsbewegung eine nachhaltige Niederlage beizubringen. Niedersachsens Ministerpräsident Wulff hatte bereits in der so genannten VW-Affäre versucht, den Einfluss der Gewerkschaft – in dem Fall der IG Metall – durch eine Neubesetzung des Aufsichtsrats entscheidend zurück zu drängen, um "Sanierung" zwecks Steigerung der Kapitalrendite durch Personalabbau geräuschloser durchsetzen zu können. So auch im öffentlichen Dienst: Wenn künftig die reaktionäre Verteilungspolitik mit noch größerer Energie vorangetrieben werden soll, dann muss es den Freunden der Marktwirtschaft auch um die Schwächung der Gewerkschaften gehen. Ver.di wird sich auf eine weitere Auflösung des Verhandlungspartners einstellen müssen: Neben Hessen und Berlin deuten auch weitere Länderregierungen den Ausstieg aus der Tarifgemeinschaft an.

Ein politischer Konflikt von dieser Dimension kann nicht von einer Gewerkschaft allein offensiv entschieden werden. In Deutschland gibt es nur ein Arbeitskampfrecht, kein Streikrecht (wie beispielsweise in Frankreich), das Arbeitsniederlegungen auch außerhalb von Tarifauseinandersetzungen erlaubt. Umso wichtiger ist es, dass die Mobilisierung in der Metall- und Elektroindustrie auch im Hinblick auf die Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst erfolgt. Mehr noch: Der Kampf um Arbeitszeit erfordert eine breite soziale Bewegung, die in der Lage ist, den reaktionären Populismus der Arbeitszeitverlängerer und Arbeitsplatzvernichter zu kontern.

Dass die herrschende Klasse der aus Arbeitszeitverlängerung resultierende rasante Anstieg der Massenarbeitslosigkeit nicht schreckt, hat sie mit den Hartz-Gesetzen deutlich gemacht. Die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV haben gezeigt, wie schwer es ist, langfristigen Widerstand aus der Gesellschaft heraus zu organisieren. Dabei ist es wichtig, die neoliberalen Prinzipien (Sparen, Kürzen, Privatisieren) mit der konkreten Realität zu konfrontieren.

Der Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst hat einige innovative, vorwärtsweisende Elemente gehabt: Dazu zählt die Aktion von ver.di-Baden-Württemberg "Rettet Karin" ebenso wie die Familienkomponente im Hamburger Abschluss. Wenn es aber richtig ist, dass die Auseinandersetzung um Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst ein politischer Konflikt ist, der von Seiten der Arbeitgeber von vornherein als solcher geführt wurde, muss das Konsequenzen für künftige Arbeitskämpfe haben. Dann muss gesellschaftliche Aufklärung das A und O der Aktionen sein. Dann müssen die Interessen der Beschäftigten von vornherein eingebettet sein in ein Aufklärungs- und Mobilisierungskonzept, das gesellschaftliche Bündnisse zustande bringt. Dann müssen aus diesen Bündnissen Botschafter gegen den Neoliberalismus erwachsen, die dazu beitragen, die Gegenseite zu isolieren. Und all diese Facetten eines Kampfes um Hegemonie müssen wirken, bevor ein Arbeitskampf beginnt. Arbeitskämpfe sind juristisch gesprochen eine ultima ratio – sie müssen auch die ultima ratio eines politischen Gegenprojekts sein.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus.

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